DIE LINKE: Antwort auf den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus

Auf dem Weg zu einem modernen sozialistischen Grundsatzprogramm

05.04.2010 / Redaktion Sozialismus

Das Programm der Partei DIE LINKE. finden Sie hier:
http://die-linke.de/programm/programmentwurf
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Drei Jahre nach dem Zusammenschluss von WASG und PDS, komplizierten gegenseitigen Findungsprozessen und den Herausforderungen bei Landtagswahlkämpfen und der Bundestagswahl im Herbst 2009 liegt der erste Entwurf eines Grundsatzprogramms vor. Die Parteimitglieder werden ihn sowohl intern als auch mit anderen gesellschaftlichen Reformkräften bis 2011 diskutieren können.

Es war sicherlich kein leichter Weg, bei all dem politisch-organisatorischen Alltagsgeschäft den Entwurf zu einer grundlegenden Antwort auf den modernen Kapitalismus zustande zu bringen, der Aussicht auf Akzeptanz in einer sehr plural denkenden Mitgliedschaft hat.

DIE LINKE hat weniger Probleme mit einer Verständigung auf konkrete Forderungen wie einen gesetzlichen Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung, ein umfassendes Investitions- und Arbeitsmarktprogramm, armutsfeste Altersrenten, die Aufhebung des Hartz IV-Systems durch eine die Menschenwürde sichernde Grundsicherung, Maßnahmen gegen Bildungsprivilegien und die Beendigung der deutschen Beteiligung an Militäreinsätzen etc. All diese Forderungen "knüpfen an den sozialstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Errungenschaften sowie ökologischen Regulierungen an, die in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit bereits durchgesetzt wurden. Wir wollen sie weiterentwickeln und als Ausgangspunkt für weitergehende Veränderungen nutzen."[1] Die große Herausforderung besteht darin, die aktuellen Reformprojekte in eine Perspektive der grundlegenden Gesellschaftsveränderung einzuordnen.

Ein Programmentwurf muss eine konsensfähige Deutung des neoliberalen Kapitalismus skizzieren. "Wer einen modernen linken Politikentwurf präsentieren will, muss sich mit dem Kapitalismus im neuen Gewande, dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, auseinandersetzen, denn dies ist die entscheidende Frage unserer Zeit: Wie begegnet Politik dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus?" (Oskar Lafontaine)

In einem modernen Politikentwurf muss ferner eine belastbare Auseinandersetzung mit den gescheiterten Sozialismusversuchen enthalten sein, denn ohne eine solche selbstkritische Haltung wäre ein Plädoyer für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung nicht überzeugend. Zu Recht wird daher festgehalten: "Der erste große Versuch, im 20. Jahrhundert eine nichtkapitalistische Ordnung aufzubauen, ist an mangelnder Demokratie, Überzentralisation und ökonomischer Ineffizienz gescheitert. Unter Pervertierung der sozialistischen Idee wurden Verbrechen begangen. Dies verpflichtet uns, unser Verständnis von Sozialismus neu zu bestimmen. Wir wollen einen demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der den heutigen gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen und Möglichkeiten gerecht wird." /11/

Die strategische Kernaufgabe – ausgehend von aktuellen Veränderungsforderungen, einer Deutung des modernen neoliberalen Kapitalismus und einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Linken – besteht darin, eine moderne Politikkonzeption vorzustellen und gleichwohl mit anderen gesellschaftlichen Kräften zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, d.h. die eigene Konzeption grundlegender Umgestaltung offen und veränderbar einzubringen. Die Verständigung auf einen modernen Politikentwurf sowohl innerhalb der Partei als auch in der Debatte mit anderen muss nicht im Selbstlauf klappen. Die vielen Strömungen der LINKEN bringen wichtige Erfahrungen und vielleicht auch jene Erkenntnisse mit, die einer dogmatischen Verengung vorbeugen können: "Die Linke in Deutschland war lange Zeit in der Defensive. Sie war schwach und marginalisiert, und wenn sie innerhalb der Sozialdemokratie politische Veränderungen anstrebte, waren die Handlungsmöglichkeiten sehr eng. Teile der Linken setzten auf die Grünen oder kleinere sozialistische und kommunistische Organisationen. Viele der in Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen aktiven Linken hatten keine Bindung zu einer Partei." /6/

Der Programmentwurf birgt die Chance, dass nach einem komplizierten Parteibildungsprozess mit medialer Dominanz von Bundesvorstand und Bundestagsfraktion der politische Konsens nun aktiv in der gemeinsamen Debatte über Grundsatz- und Systemfragen weiterentwickelt werden kann. Auch wenn in ersten positiven Stellungnahmen darauf hingewiesen wird, dass dieser Entwurf "in der Tradition großer Programme von Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten" stehe (Wolfgang Gehrcke), so verdeckt dieses Pathos doch den prekären Zeitkern eines solchen politisch-programmatischen Vorgangs.

Man sollte sich noch mal vergegenwärtigen: Der zeitgeschichtliche Kontext dieses Programmentwurfs ist ein seit Jahren wachsender Vertrauensverlust großer Bevölkerungsschichten in vielen europäischen Ländern gegenüber politischen Parteien und dem politischen Feld generell. Dazu gehören der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie, eine "zerstäubte" europäische Linke aus Rest-, Reform- und Postkommunisten, Sozialisten und Teilen anderer sozialer Bewegungen ebenso wie die gesamte politische Konstellation inmitten der größten Weltwirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Sich in die Tradition der Arbeiterbewegung und ihrer Strömungen des 20. Jahrhunderts zu stellen, ist das eine. Es bleibt aber die Herausforderung an das Grundsatzprogramm, die politisch-ideologische Kartographie des 20. Jahrhunderts nicht einfach fortzuschreiben, sondern sich den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen eines flexibilisierten, finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu stellen. Es gilt, entwicklungsfähige politisch-strategische Schlussfolgerungen aus dem "Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kannten" (Elmar Altvater), zu ziehen.

Reaktionen

Dieser Anspruch durchzieht den Programmentwurf. Das Bemühen um eine Zeitdiagnose des gegenwärtigen Kapitalismus ermöglicht eine konstruktive Diskussion um die Präzisierung einzelner Punkte. Insofern kaschiert die Polemik der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles gegen den Entwurf als "Sammelsurium" von DDR-Nostalgie und "kleinbürgerlichen Allmachtsphantasien" nur die eigene Geschichtsvergessenheit und das Unvermögen, den eigenen Krisenprozess als "Volkspartei" im Finanzmarktkapitalismus zu verstehen. Was Kapitalismusanalyse und -kritik anbelangt, hat die Sozialdemokratie ihr Erbe im Unterschied zur LINKEN erst gar nicht zu reaktivieren versucht.

Aber auch in den Reihen der LINKEN finden sich zwei charakteristische Reaktionsweisen auf die zeitdiagnostische Anlage des Programmentwurfs, die eine Diskussion entweder durch Immunisierung oder Abwehr eher erschweren als befördern. Die erste Variante findet sich hinter dem Lob "sprachlicher Eleganz", das Vertreter der Antikapitalistischen Linken dem Programmentwurf zuteil werden lassen: "So dürfen sich der politische Gegner und der Parteifreund gleichermaßen an klaren Begriffen freuen. Die Gesellschaft, in der wir leben, heißt Kapitalismus. Sie ist von der Allmacht des Privateigentums an den großen Produktionsmitteln, der Konkurrenz des Kapitals untereinander, der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft und regelmäßigen Krisen geprägt. Anderswo gern benutzte Adjektive wie 'ungebändigt', 'schrankenlos' oder auch 'finanzmarktgetrieben' und 'hemmungslos' tauchen kaum auf – hoffentlich ein Eingeständnis der Autoren, dass solche Beiworte nicht genauer beschreiben, sondern vernebeln." (Thies Gleiss) Hier wird die eigene Anschauung mit einer falsch verstandenen Orthodoxie und Formeln des 20. Jahrhunderts dagegen immunisiert, langfristigen qualitativen Veränderungen kapitalistischer Formationen analytisch Rechnung zu tragen: Der Kapitalismus ist eben "kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus" (Marx). Insofern ist die Diskussion um den "flexiblen", "entfesselten" oder "finanzmarktgetriebenen" Kapitalismus kein Streit um bloße (Bei-)Worte, sondern befähigt die Parteimitglieder zu einer Gegenwartsanalyse.

Genauso unverstanden bleibt die gesellschaftstheoretisch fundierte Zeitdiagnose im vorliegenden Programmentwurf auf Seiten jener parteiinternen Kritiker, die diesen Kernbestandteil des Programms als "durchgängiges Kapitalismus-Bashing" (Matthias Höhn) abwehren. Kapitalistische Gesellschaften gehen notwendigerweise mit sozialem wie moralischem Kritikpotenzial einher, da ihnen die widersprüchlichen Entwicklungstendenzen von Zivilisierung und Unterdrückung, von reichhaltiger Individualität und sozialer Ausgrenzung, von Fortschritt und gesellschaftlicher Zerstörung immanent sind. Die Kritiker aus dem Forum Demokratischer Sozialismus glauben, diese Seiten einfach auseinanderdividieren zu können: "Wenn wir eine linke Volkspartei sein wollen, müssen wir auch das aufgeklärte Bürgertum ansprechen" (Jan Korte), und: "Stattdessen herrscht der Duktus vor: Wir gegen den Rest der neoliberalen Welt." (Stefan Liebich) Diese Kritik verkennt, dass es ja gerade das Bürgertum war, das sich gemäß dem TINA-Prinzip (There Is No Alternative) dem neoliberalen Mainstream unterwarf, der allerdings auch in der Sozialdemokratie und in Teilen der Gewerkschaften Resonanz fand.

Diese Blockierung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beförderte die Entstehung von WASG und LINKE und ihren radikaldemokratischen Impetus. Nun hat das Manifestwerden der Finanz- und Wirtschaftskrise das gesellschaftszerstörerische Potenzial des Neoliberalismus offengelegt, aber das bürgerliche Lager selbst hat bislang kein alternatives gesellschaftliches Projekt – und Vertreter eines "aufgeklärten" Bürgertums sind rar gesät. Die Befürworter von Mitte-Links-Bündnissen und Regierungsbeteiligungen müssten ihrerseits zeitdiagnostisch begründen, ob und wie damit das bürgerliche Lager zivilisiert werden kann.

Es gehört aus unserer Sicht zur Qualität des vorliegenden Programmentwurfs, dass er im Aufbau einen inneren Zusammenhang der Punkte II (Krisen des Kapitalismus – Krisen der Zivilisation), IV (Linke Reformprojekte – Schritte gesellschaftlicher Umgestaltung) und V (Gemeinsam für einen Politikwechsel und eine bessere Gesellschaft) aufweist. Dieser sollte in der Diskussion nicht dadurch wieder aufgelöst werden, dass die Punkte mit der Begründung von angeblich mehr Realitätsnähe und flexiblerer Politik- und Bündnisfähigkeit gegeneinander gestellt werden. Die Zeitdiagnose aus Kapitalismusanalyse und -kritik in Punkt II ist zu Recht Ausgangspunkt und Basis für die Skizzierung von Reformprojekten und den anzustrebenden Politikwechsel im Lande.

Kritik und Änderungsvorschläge an den Punkten IV und V müssen ihrerseits zeitdiagnostisch und kapitalismuskritisch fundiert werden. Gerade der innere Zusammenhang von Analyse und Übergangsforderungen wird die Deutungsfähigkeit der Partei und ihrer Mitglieder im (tages)politischen Meinungsstreit stärken. "Systemfrage und Transformationsperspektiven sind nicht nur sinnvoll, es geht gar nicht anders." Elmar Altvater weist in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die anstehende Programmdiskussion aber auch darauf hin: "Diese Herausforderungen der Systemfrage werden immer noch unterschätzt und stellen sich nicht mehr als einfache Neuauflage der traditionellen Systemfrage einer Überwindung von Kapitalismus durch Sozialismus." Letztere Gefahr besteht im Punkt III (Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert), der mit seiner Zentrierung auf die "Eigentumsfrage" umstritten ist und den Zusammenhang zwischen Kapitalismusanalyse, Übergangsforderungen und dem Ziel des Politikwechsels hin zu einer besseren Gesellschaft mit einem Prinzipienstreit "Wie hältst du es mit dem Eigentum?" überfrachtet.

Präzisierungen

Die programmatische Diskussion um ein gemeinsames Sozialismusverständnis sollte sich nicht in der Eigentumsfrage erschöpfen, sondern auch die historische "Hypothek" des Sozialismusversuches im 20. Jahrhundert miteinbeziehen und ebenso die Übergangsforderungen als unverzichtbare Bausteine einer sozialistischen Exit-Strategie aus den Sackgassen des Finanzmarktkapitalismus verhandeln.

In dem Kapitel I des Programmentwurfs "Woher wir kommen, wer wir sind" wird dazu der Sozialismusversuch im Wesentlichen auf die DDR-Erfahrung fokussiert. Aber die Linke muss sich sowohl über die zentralen Konstruktionsfehler des staatssozialistischen Entwicklungsweges im 20. Jahrhundert insgesamt wie über die gravierenden Veränderungen des Kapitalismus am Ende des letzten Jahrhunderts Klarheit verschaffen. Der staatszentrierte sowjetische Entwicklungsweg erwies sich letztlich für die Sozialismusversuche innerhalb der europäischen Moderne als nicht tragfähig, führte zum Stalinismus und wirkte letztlich selbstzerstörerisch. Unterbelichtet bleibt in Punkt I auch, dass "die Barbarei und der verbrecherische Krieg der deutschen Nationalsozialisten" /5/ mit den Zivilisationsbrüchen von Rassismus, Antisemitismus und Völkermord einhergingen.

Eine moderne sozialistische Linke sollte sich befähigen, zu einer Gesamtdeutung des kurzen 20. Jahrhunderts der Extreme (Eric Hobsbawm) zu kommen, was auch ein historisches Verständnis der Veränderungen der deutschen und europäischen Sozialdemokratie mit einschließt. Mit der Weltwirtschaftskrise und der Barbarei der faschistischen Bewegung wurde offenkundig, dass auch das sozialdemokratische Konzept eines organisierten Kapitalismus eben nicht die Vorstufe für eine geplante und gesteuerte Ökonomie war. Das tiefsitzende Misstrauen gegenüber dieser Vorstellung wurde zum Ende des Jahrhunderts noch durch den Zusammenbruch der staatssozialistischen Gesellschaften aktualisiert.

Die Sozialdemokratie hat aus historischen Erfahrungen und grundlegenden Theoriedefiziten heraus keine erneuerte tragfähige Konzeption der gesellschaftlichen Kontrolle des Kapitals und der Steuerung der Investitionen entwickelt und wurde unter den Bedingungen der Krise des Fordismus mit den wachsenden Widersprüchen der Kapitalakkumulation und des Sozialstaates in Richtung der neoliberalen Gesellschaftskonzeption gedrängt. Sie sah sich schließlich in den 1990er Jahren unter Schröder in ihrer grundsätzlichen Option bestätigt, dass es nicht mehr um eine Steuerung und Demokratisierung der gesellschaftlichen Wertschöpfung gehen kann, sondern dass ein durch "Fordern und Fördern" (Hartz-Gesetze) abgefederter Marktkapitalismus das Ende der geschichtlichen Entwicklung markiert.

Die Ausgangsbedingungen eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich gravierend von denen zu Beginn und im Fortgang des 20. Jahrhunderts. Die einfache Kopie einer Strategie der Eroberung der Kommandohöhen der politisch-staatlichen wie wirtschaftlichen Macht wird unter Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus ins Leere laufen. Dessen Strukturveränderungen werden in Kapitel II des Programmentwurfs ("Krisen des Kapitalismus – Krisen der Zivilisation") nur unzulänglich erfasst, wenn es heißt: "Die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre markierte das Ende der 'goldenen Jahre' hohen Wachstums. Nach und nach zeigte sich, dass die lange Nachkriegsperiode wirtschaftlichen Aufschwungs eine Ausnahme war. Der Kapitalismus kehrte zu seiner Normalität zurück, einschließlich periodisch auftretender Krisen- und Stagnationsphasen." /7/

Die 1970er Jahre markieren in der Tat einen Knotenpunkt in der Entwicklung des Nachkriegskapitalismus, aber keinesfalls eine einfache Rückkehr zu einer "kapitalistischen Normalität". Mit dieser Krise des Fordismus seit den 1980er Jahren brechen sich vielmehr gerade langfristige, überzyklische Strukturverschiebungen in der Kapitalakkumulation Bahn, die seitdem bis zur gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise massive Auswirkungen auf die realen Wertschöpfungsprozesse zeitigen. Die chronische Überakkumulation verleiht allen Formen anlagesuchenden Geldkapitals ein enormes Gewicht und bildet einen Kreditüberbau und internationalen Finanzmarkt aus, der in einem prekären Verhältnis zu den zugrundeliegenden Strukturen der Realökonomie steht und immer wieder deformierend auf die Wertschöpfung zurückwirkt.

Der Finanzmarktkapitalismus hat zu einer dramatischen Verschiebung der Macht- und Kräfteverhältnisse in Politik und Gesellschaft geführt. Die Folgen dieser Herrschaft können wir heute in allen kapitalistischen Ländern besichtigen: Fall der Lohnquote, Kinderarmut, einen sich ständig ausweitenden Niedriglohnsektor, unsichere und prekäre Arbeitsverhältnisse, massive Bildungsschranken, ein Zweiklassensystem in der Krankenversorgung etc. und in der letzten Konsequenz die Aushöhlung der repräsentativen Demokratie. Nur wer eine Antwort auf den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hat, hat eine ernstzunehmende, moderne Politikkonzeption.

Schon die ersten Schritte zur Veränderung dieser neuen Herrschaftsform machen den systemüberwindenden Charakter der Übergangs- oder Tagesforderungen sichtbar: "Die privaten Banken sind für den Spekulationsrausch der vergangenen Jahre und die entstandenen Milliardenverluste wesentlich verantwortlich. Private Banken müssen deshalb verstaatlicht, demokratischer Kontrolle unterworfen und auf das Gemeinwohl verpflichtet werden. Durch strikte Regulierung ist zu gewährleisten, dass der Bankensektor in Zukunft wieder seinen öffentlichen Auftrag erfüllt: die zinsgünstige Finanzierung wirtschaftlich sinnvoller Investitionen insbesondere auch kleiner und mittlerer Unternehmen, die Abwicklung des Zahlungsverkehrs und Bereitstellung eines kostenlosen Girokontos für jedermann, sichere Anlage privater Ersparnisse." /15/ Der grenzüberschreitende Kapitalverkehr muss wieder kontrolliert, die Wechselkurse müssen stabilisiert werden. Eine Tobinsteuer auf internationale Finanztransaktionen ist erforderlich, Steueroasen müssen trockengelegt werden. Die Hedge-Fonds gehören verboten. Die Finanzaufsicht muss international koordiniert nach gleichen Standards arbeiten.

Die Vorstellung, der immer noch tief in einer großen Krise steckende Finanzmarktkapitalismus würde sich selbst transformieren oder durch die kleinen Reformschritte wie Bankenabgabe könnte man das neue Herrschaftsverhältnis zivilisieren, ist ohne Realitätsgehalt. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich eine Herrschaftsform der funktionslosen Kapitaleigentümer und Vermögensbesitzer entwickelt – mit folgenreichen Konsequenzen. Wir registrieren eine tiefgreifende Verschiebung der Verteilungsverhältnisse. Der Großteil des Nettoertrags der Arbeit einer Gesellschaft wird weitgehend von den Aktionären (den Shareholdern mit ihren breiten gesellschaftlichen Netzwerken) und den Vermögenden beansprucht. Sie erhalten ihn entweder in der Gestalt von Dividenden oder in der Gestalt eines Wertzuwachses bei den Aktien. Sie können diese Kapitalgewinne ohne weiteres in Konsum umsetzen. Soweit sie das nicht tun, schreibt ihnen das System "Ersparnisse" gut. Was technische Innovationen, Kapitalakkumulation, Arbeit und Geschäftstüchtigkeit an Vermögen schaffen, fällt damit den Rentiers in den Schoß, während sie zu Hause sitzen oder sich anderen Aufgaben widmen.

Die Zurückdrängung und letztlich Aufhebung dieser neuen Herrschaftsform muss einhergehen mit Anstrengungen zur Reorganisation der Realökonomie. Die Privatisierungspolitik der vergangenen Jahre hat in vielen öffentlichen und sozialen Bereichen zu einer massiven Unterversorgung geführt. Die Überwindung des öffentlichen Investitionsstaus und ein Ausbau öffentlicher Beschäftigung sind überfällig. "Wir brauchen einen Richtungswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie muss für ein sozial und ökologisch gesteuertes, selektives Wachstum sorgen und eine neue Vollbeschäftigung anstreben. Dazu muss die inländische Nachfrage durch eine Umverteilung zugunsten kleiner und mittlerer Einkommen und eine Ausweitung öffentlicher Leistungen gestärkt werden. DIE LINKE fordert große öffentliche Zukunfts- und Investitionsprogramme in Bildung, in soziale, ökologische und Verkehrsinfrastruktur. Dies schafft Nachfrage und Beschäftigung in privaten Unternehmen ebenso wie im öffentlichen Dienst... Eine aktive staatliche Industrie- und Dienstleistungspolitik ist erforderlich, um De-Industrialisierung zu verhindern und Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe, im Handel und in anderen Dienstleistungsbereichen zu sichern." /15/

Regierungsbeteiligung und Krise der Politik

In diese Einordnung vieler aktueller Forderungen in eine moderne Sozialismusperspektive lassen sich weitere Veränderungen oder Verbesserungen einarbeiten. Im Programmentwurf sollte nichts vorweg dauerhaft festgelegt oder die Auseinandersetzungen über konkrete Wahlprogramme eingeschränkt werden. Wir sehen auch nicht die Hürden für eine Regierungsbeteiligung. "DIE LINKE strebt nur dann eine Regierungsbeteiligung an, wenn wir hierdurch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen erreichen können." /24/ In der Tat wird die Politik der LINKEN immer an dieser Zielsetzung gemessen werden. Selbstverständlich wird es auch künftig unterschiedliche Auffassungen darüber geben, ob wegen dieser oder jener Verbesserung eine Regierungsbeteiligung zwingend geboten ist oder nicht. Generell sollte aber in der Partei die allgemeine Richtschnur akzeptiert werden können: "Voraussetzung für die Ausstrahlung, den Rückhalt und den Erfolg der LINKEN ist Glaubwürdigkeit. Regierungsbeteiligungen der LINKEN sind nur dann sinnvoll, wenn sie reale Verbesserungen und eine Abkehr vom neoliberalen Politikmodell durchsetzen sowie einen sozial-ökologischen Richtungswechsel einleiten. So lässt sich die politische Kraft der LINKEN und der sozialen Bewegung stärken und das bei vielen Menschen existierende Gefühl von Ohnmacht und Alternativlosigkeit zurückdrängen. Regierungsbeteiligungen sind konkret unter den jeweiligen Bedingungen zu diskutieren und an verbindliche Kriterien zu binden." /24/

Viele BürgerInnen haben sich in Deutschland und in anderen kapitalistischen Hauptländern aus der Politik verabschiedet. Sie nehmen ihr Stimmrecht nicht mehr wahr und stehen allen Parteien – auch der LINKEN – skeptisch und voller Misstrauen gegenüber. Wir wissen um das schwierige Kapitel der Gewinnung und Sicherung von Glaubwürdigkeit. Dies gilt es bei allen Wahlen und möglichen Regierungsbeteiligungen zu bedenken. Die LINKE hat aber auch die Chance, in der anstehenden Debatte um das Grundsatzprogramm wie bei den bevorstehenden Wahlen in NRW zu demonstrieren: Sie "steht für einen neuen Politikstil der Transparenz, des gesellschaftlichen Dialogs und der direkten Bürgerbeteiligung."