Der Sonderparteitag der SPD. Rekonstruktion der Sozialdemokratie?
Joachim Bischoff / Richard Detje, Aus: Sozialismus
Was im Deutschen »Volkspartei« genannt wurde, also ein Parteientypus, in dem unterschiedliche soziale Schichten und Milieus mit ihren verschiedenen und teils gegensätzlichen Interessen gebündelt wurden, transformierte sich mit der Flexibilisierung und Entfesselung des Kapitalismus in politische Kommunikationsnetze, in denen die politischen Profis mehr oder minder gezielte Botschaften und Symbole aussenden. Die Parole des SPD-Sonderparteitags vom 26. September in Berlin lautete: »Besser regieren für ein faires Deutschland«.
Für den Finanzminister der großen Koalition, Peer Steinbrück, der zu jener politischen »Expertenschar« gehörte, die die Entfesselung des Kapitalismus erfolgreich vorantrieb und sich nach dem offenkundigen Scheitern der Herrschaft des Finanzkapitals um Schadensbegrenzung bemühte, verdient machte, lautet die Botschaft: »Die sozialpolitische Kompetenz ist eine notwendige Bedingung für die SPD, aber sie ist keine hinreichende, um Wahlen zu gewinnen«.
Wenn die SPD Volkspartei bleiben und bei Wahlen wieder dauerhaft über 30% gewinnen wolle, müsse die Partei drei Dinge erreichen: »die soziale Balance wieder herstellen, wirtschaftliche Kompetenz inhaltlich und personell besetzen und Plattform für die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sein.«
Das sind zumindest auch die Überschriften von Sigmar Gabriel – seit einem Jahr Vorsitzender der Nach-Schröder-Müntefering-Beck-SPD. In seiner strategischen Option besetzen die Grünen den Platz der FDP als »echte liberale Partei in Deutschland«. Die SPD erneuert sich als Integrationskraft verschiedener sozialer Milieus, während Merkel Platz macht »in der bürgerlichen Mitte« und damit zugleich den Schwarz-Grün-Spuk beendet. Rot-Grün als neues sozialliberales Bündnis, das auf die LINKE nicht angewiesen ist. So präsentierte Gabriel dem SPD-Parteitag am 26. September in Berlin die Perspektive für 2013.
Gabriel ist nicht Klein-Fritzchen. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit einer ehemaligen Volkspartei weiß er zu unterscheiden. In dem einen Jahr seit dem Desaster der Bundestagswahl stand die Neuaufstellung der Partei zu drei Themen auf der Tagesordnung: Abzug auf Afghanistan, Mindestlohn und Revision von Hartz IV sowie Verschiebung der Rente mit 67. Nicht ohne Symbolik und Halbheiten – aber dass die SPD sich nicht bewegt habe, können nur Tagträumer meinen.
Damit ist der Weg noch lange nicht am Ende. Einen der kritischsten Punkte – der seine Partei sprengen könnte – sparte er sich für den letzten Teil seiner Parteitagsrede auf: die Causa Sarrazin. Und die Auseinandersetzung damit fand vor der eigentlichen Parteitagstagesordnung ab – in zwei getrennten Diskussionsforen, das eine mit dem Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky, dem Raum gegeben wurde, die »Integrationsverweigerer« aufs Korn zu nehmen, das andere mit dem Regierenden Bürgermeister Wowereit, der sich Integrationserfolge »nicht wegschwatzen« lassen will »durch populistische Parolen«. Gabriels Strategie: sowohl als auch – »offen darüber reden«.
Das ist nicht nur »Politsprech«. Gabriel hat noch etwas anderes im Fokus: die SPD selbst. Wenn man den SPD-Vorsitzenden hört, ist viel von »Wirklichkeit«, vom »Leben, wie es wirklich ist«, von »Offenheit« die Rede. Das als reine Plattitüden abzutun, wäre falsch.
Der Zerfall der SPD als Volkspartei hat vielfältige gesellschaftliche, sozialstrukturelle, kulturelle und politische Gründe – er ist aber auch Ergebnis eines Top-Down-Prozesses. Das Management der Regierungs-SPD war ein post-parteipolitisches. Dass Parteien einen – wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes in den Geburtsstunden der Republik meinten – wichtigen Beitrag zur Willensbildung der WählerInnen zu leisten hätte, schien hilflos antiquiert. Für innerparteiliche Debatten blieb nur Verachtung. Die erfolgreiche Inszenierung von Politik schaute man sich in den USA an: Instrumentalisierung von Umfragen, Akklamation durch ausgesuchter Claqueure, mediengerechte Kommunikation, Internet.
Der Effekt: eine Mitgliederwanderung aus der Partei heraus und eine selbstreferenzielle Organisation von Politik an der Spitze, die sich umgab mit dem, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als politische »Oblaten« bezeichnete, da sie die Eigenschaft aufweisen, auch in heftigen rhetorischen Stürmen fest am Gaumen zu kleben. Dieses Juste Milieu verstärkte Verselbständigung, Realitätsverleugnung und soziale Ausschlussprozesse – einschließlich des Zynismus gegenüber den Opfern des finanzmarktkapitalistischen »Bereichert euch« und der Agenda 2010.
Sicher: Sigmar Gabriel ist in diesem Juste Milieu aufgestiegen. Aber als Parteivorsitzender muss er mehr leisten, als die Implosion des Münteferingschen Parteimanagements zu verwalten. Seine politische Zukunft hängt daran, die SPD aus einem Zustand zwischen »Mauerblümchen-Dasein und Müllhaufen der Geschichte« herausholen. Dazu ist dreierlei erforderlich.
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Erstens die Erkenntnis: »Die größte Gefahr für die Demokratie ist ihre Verachtung… Viele Menschen haben längst nicht mehr den Eindruck, dass wir in der Politik, in den Regierungen und in den Parteien – also auch wir Sozialdemokraten – wissen, wie das Leben wirklich ist. Viele glauben, wir interessieren uns auch gar nicht dafür.«
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Dazu gehört zweitens die Wiederaufwertung der Partei durch Kommunikation in sie herein und mit ihr, nicht, weil man demnächst wieder den »lebendigen Ortsverein« prämieren will, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass dem Parteimitglied etwas anderes vermittelt werden muss, also »Störenfried« zu sein.
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Und drittens der Versuch, den Laden zusammen zu halten. Damit wären wir wieder bei der Causa Sarrrazin – aber nicht nur dort.
Ungefähr in der Mitte seiner Parteitagsrede sagte Gabriel: »Drei Jahrzehnte war doch das Credo: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht. Politik braucht man nur da, wo es Regeln braucht, die das Gemeinwohl herbeiführen können. Wenn man der Meinung ist, das können die Märkte alleine, na klar, dann braucht man keine Politik. So war doch die herrschende Lehre seit drei Jahrzehnten… Die Krise lehrt uns, dass jeglicher Marktfundamentalismus uns teuer zu stehen kommt. Und sie hat uns auch gelehrt, dass es weder unsichtbare Hände noch dritte Wege gibt. – Es hat ein bisschen gedauert. Das ging mir auch so, als ich die Rede dreimal umgeschrieben habe«.
Also Ende des dritten Weges! »Der Finanzkapitalismus der letzten zwei Jahrzehnte ist gescheitert… Der Finanzkapitalismus ist nicht Motor für neuen Wohlstand... Er blockiert die Produktivkräfte der Zukunft« (Parteitagsbeschluss)
Dabei geht es nicht nur um die bundesdeutsche SPD, sondern nicht minder um die europäische Sozialdemokratie. 1999 wollten Tony Blair und Gerhard Schröder in Top-Down-Manier ein neues Kapitel des Kapitalismus aufschlagen: keine Marktgesellschaft, aber einen modernisierten Kapitalismus; weg von Schuldenpolitik, staatlichem Dirigismus, überhöhten Steuern, hin zu mehr Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit. Die heutigen sozialdemokratischen Führer wissen, auch wenn sie es vielfach nicht offen aussprechen: Das Wohlstandsparadigma des Finanzmarktkapitalismus steht auf tönernem Grund.
Überall in Europa ist der Zusammenhalt der Gesellschaft durch Armut, Ausgrenzung, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit bedroht. Auf der politischen Agenda steht für die Sozialdemokraten nach dem Scheitern ihrer »Modernisierungs«-Politik die systemimmanente Erneuerung des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems. Für Gabriel: Die Erneuerung der »sozialen Marktwirtschaft«.
Aber wie sieht das aus? Die Überschriften lauten: wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (Arbeit, Leistung, Bildung sollen sich »lohnen«; die »Industrie ist die Grundlage unseres Wohlstands«), soziale Sicherheit (Schutz vor Armut) und ökologische Verantwortung ohne AKWs. Das ist nicht mehr als Steinmeiers Deutschland-Plan. Was den Überschriften zu unterlegen ist, bleibt ein höchst widersprüchliches Arbeitsprogramm, in dem »Konsolidierungspolitik bei Einhaltung der Schuldenbremse« und damit ein Austeritätsregime festgeschrieben ist, das – wie Wolfgang Streeck vom MPI für Gesellschaftsforschung zurecht schreibt – das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes de facto aushebelt.
Wenn Gabriels »Offenheit« heißt, den Verteilungsauseinandersetzungen wie jetzt auf dem Parteitag mit wenig ergiebigen Beschlüssen zu Spitzensteuersatz, Finanztransaktionssteuer (als einzigen Beitrag, um die »Verantwortlichen der Finanzkrise an den Kosten zu beteiligen«), die Streichung ökologisch schädlicher Subventionen aus dem Wege zu gehen, wird auch die Partei scheitern. Denn bleibt sie im Sumpf der Postdemokratie stecken: In der symbolischen Inszenierung von Nichtigkeiten zur Kaschierung vermeintlicher Sachzwänge.
Dann verdorren die ersten Früchte der neuen Offenheit schnell wieder – in den letzten zwölf Monaten sind über 70.000 Menschen neu in die SPD eingetreten, davon die Hälfte unter 35 Jahren. Diese wollen mehrheitlich sicherlich keine staatlich gelenkte Wirtschaft, aber auch keinen entfesselten Kapitalismus und schon gar keine Vorherrschaft der Finanzkonzerne und Vermögensverwalter.
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