Beitrag zur Serie »Was ist systemrelevant?«: Bildung gehört den 99 Prozent!

Von Nicole Gohlke, hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

14.10.2012 / 11.10.2012, Linksfraktion


Ministerin Annette Schavan (CDU) spricht oft und gern davon. Mehr Bildungsgerechtigkeit will sie schaffen. Das klingt gut, die Sache hat nur einen Haken – kosten darf das bei Ministerin Schavan nichts. Da die wechselnden Bundesregierungen der vergangenen Jahre ihren politischen Hauptschwerpunkt auf die Entlastung der Vermögenden und Konzerne und die Rettung der Banken gelegt haben, fehlt es auch bei der Bildung an allen Ecken und Enden.

Die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems und das konsequente Wegducken vor den gesellschaftlichen Bedürfnissen vertiefen die soziale Spaltung in diesem Land. Während für eine Vielzahl von Jugendlichen die Lebensplanung schon frühzeitig ohne Abschluss und Ausbildungsplatz endet, ist selbst ein Hochschulabschluss mitnichten eine Garantie für eine gute bezahlte Arbeit. Selbstverständlich ist die Bildung systemrelevant, doch ihre Funktionalität und innere Organisation richten sich zunehmend nach den Interessen der Kapitalseite aus.

Spitzenreiter der Selektivität

Das deutsche Bildungssystem gehört zu den ungerechtesten aller großen Industrienationen und rangiert im europäischen Vergleich seit Jahren im untersten Drittel. Die Spaltung beginnt dabei schon frühzeitig, denn bereits nach der Grundschule werden die Schülerinnen und Schüler nach Haupt- und Realschule aussortiert. Gerade in den ersten Jahren sind die schulischen Leistungen sehr stark vom Bildungsgrad, den sozialen Voraussetzungen und zeitlichen Kapazitäten der Eltern abhängig. Zudem werden in allen Fächern erwartete wichtige Fähigkeiten in den Familien geprägt. Sprachgewandtheit beispielsweise ist maßgeblich von der Anspielungs- und Gesellschaftssprache des jeweiligen Familienmilieus abhängig.

Das frühzeitige Aussortieren führt zu einer Vererbung der Bildungschancen und damit zur generationsübergreifenden Reproduktion der Armut. Bei etwa 47 Prozent der Hauptschüler haben schon die Eltern einen Hauptschulabschluss – nur cirka 9 Prozen kommen vom Gymnasium. Bereits an den Schulen wird somit für den Arbeitsmarkt vorsortiert.

Doch während Haupt- und FörderschülerInnen vielfach in Berufsvorbereitungs- und Beschäftigungsmaßnahmen versanden, ist auch der Realabschluss noch keine Garantie für einen betrieblichen Ausbildungsplatz, denn diese wurden in den letzten Jahren sukzessive abgebaut. Die Gewinner von dieser Entwicklung sind die privaten Berufsfachschulen oder ähnliche Institutionen, die aus der Ausbildung Profit schlagen. Doch auch im dualen System hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. Viele Auszubildende werden nicht qualitativ umfassend ausgebildet, sondern werden als billige Arbeitskräfte missbraucht und gleichzeitig als Lohndrücker zur etablierten Stammbelegschaft in Konkurrenz gesetzt. Übernahmegarantien gibt es freilich kaum.

Willkommen im "Aldi Süd-Hörsaal"

Stattdessen lässt sich eine Entwicklung herausstellen, dass die Ausbildung für höher qualifizierte Arbeitskräfte zunehmend an den Hochschulen in den neuen Bachelor-Studiengängen geschieht. In wesentlich kürzerer Zeit als bei den alten Diplom-Studiengängen wurden in den vergangenen Jahren Studierende mit einem schlankeren Schmalspurstudium abgespeist. Den Vorteil haben die Unternehmen: "Überflüssige" Qualifikation wird für die breite Masse abgebaut, die Unternehmen von der Ausbildungspflicht entlastet und die kürzere Studiendauer spart dem Staat immense Kosten. Es bleibt schließlich einer kleinen Minderheit vorbehalten, mit einem Master-Abschluss die deutlich höheren Chancen für eine faire Bezahlung im späteren Berufsalltag zu erhalten.

Doch die Hochschulen sind nicht nur die letzte Stufe auf einer langen Treppe ständigen Konkurrenzkampfes und sozialer Auslese, sondern werden auch zunehmend wirtschaftlichen Interessen ausgeliefert: Geisteswissenschaftliche Fächer werden für wirtschaftserträgliche Studiengänge aufgegeben, staatliche Zuschüsse werden zugunsten der privaten Drittmittel-Einwerbung zurückgefahren und Privatisierungen - vom "Aldi Süd-Hörsaal" bis zum "Google Institut" - werden zur Normalität.

Nein, das Bildungssystem in der Bundesrepublik hat mit umfassender und emanzipatorischer Bildung nicht mehr viel gemein. Bildung muss sich rechnen und für die Profitmaximierung der deutschen Konzerne nutzbar gemacht werden.

Bildung jenseits der Ausbeutung

Es wird höchste Zeit, dass sich daran etwas ändert. Die Alternativen sind bekannt und werden von der LINKEN immer wieder eingefordert: Lernen in der Gemeinschaftsschule, offene Hochschulen, ausfinanzierte staatliche Lehrstellen und eine solidarische Ausbildungsplatzumlage. Die weltweiten Kämpfe für eine bessere Bildung zeigen – von Chile und Kanada über Spanien und Großbritannien bis nach Griechenland –, dass der Handlungsdruck enorm ist und dass die Menschen wissen, wie wichtig die Bildung für sie und die Gesellschaft ist.

Denn Bildung ist systemrelevant, aber nicht im Sinne kapitalistischer Funktionalität – sie ist der Schlüssel zur persönlichen Entwicklung und kognitiven Entfaltung des Menschen. Sie ist die Grundlage für berufliche Qualifikation und eine erfüllte und sinnhafte Berufstätigkeit. Und sie ist die Voraussetzung für eine kritische Reflexion der Gesellschaft und damit grundlegend für die Demokratie. Die Bildung gehört den 99 Prozent!

linksfraktion.de, 11. Oktober 2012