ver.di: Warum in Deutschland Arme elf Jahre früher sterben - Todesursache Arbeitslosigkeit
Von Uta von Schrenk
Wer arm ist, stirbt früher. Diese so schlichte Erkenntnis gilt leider nicht nur in der so genannten Dritten Welt, sondern auch im wohlhabenden Deutschland. Betrachtet man die Lebenserwartung des reichsten und des ärmsten Viertels der deutschen Bevölkerung, so ergibt sich ein statistischer Unterschied von elf Jahren bei den Männern und acht Jahren bei den Frauen. Das besagen die Daten der Deutschen Rentenversicherung.
Das Robert-Koch-Institut hat in seinem Gesundheitsbericht für die Bundesregierung vom März dieses Jahres dabei festgestellt, dass Arbeitslosigkeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse Lebens jahre kosten – nicht unbedingt ein bescheidenes Ein kommen. „Arbeitslose sind häufiger krank und sterben früher“, heißt es dort. Je häufiger und länger jemand arbeitslos ist, desto höher sein Risiko, an Depressionen, Stoffwechsel- oder Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken. Die Ursache: Ist der Job weg, gerät der Betroffene – und hier vor allem Männer, die sich immer noch als Ernährer der Familie begreifen – aus der Bahn – er raucht mehr, trinkt mehr Alkohol, ernährt sich weniger bewusst und bewegt sich seltener. Zu der Jobkrise gesellt sich das gesundheitlich riskante Verhalten.
Die Forscher vom Robert-Koch-Institut haben ein zweites Phäno men beobachtet: „Prekär Beschäftigte haben mehr gesundheitliche Beschwerden.“ Dabei leben diese ähnlich gesundheitsbewusst wie Arbeitnehmer/innen mit einer guten, sicheren Stelle. So leiden Frauen in prekären Jobs zu 35 Prozent häufiger unter körperlichen Beschwerden als die Vergleichsgruppe. Spätestens hier zieht ein „Selbst-Schuld“ nicht mehr. Und arbeitsbedingte Gesund heits gefähr dung nimmt zu: Seit 1984 ist etwa die Teilzeitarbeit von 11 auf 22 Prozent gestiegen, auf mehr als acht Millionen Arbeit nehmer/innen. Und in den vergangenen 15 Jahren sind die Löhne der obersten und untersten zehn Prozent um ein Fünftel auseinandergedriftet. Zugleich wird es laut Wissenschaftszentrum Berlin zunehmend schwerer, dem Prekariat zu entkommen, 57 Prozent in den achtziger Jahren, heute bereits 65 Prozent stecken in der unteren Einkommensschicht fest.
„Jede Entwicklung, durch die geringe Löhne steigen, Bildungschancen und berufliche Situation – vor allem auf den unteren Stufen der gesellschaftlichen Hierarchien – verbessert werden, ist auch gute Gesundheitspolitik”, sagt Professor Rolf Rosenbrock, Gesundheitsexperte und Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. „Die gemeinsame Folge der ungleichen Verteilung von Chancen und Ressourcen ist geringere Teilhabe – auf nahezu allen Feldern des Lebens.“ Helfen können hier laut Rosenbrock partizipativ angelegte Projekte, zum Beispiel in der betrieblichen Gesundheitsförderung, aber auch in Stadtteil-Projekten oder Kitas. Die Erfolge solcher Projekte seien belegt. „Da gibt es in Deutschland kein grundsätzliches Wissensproblem, sondern es fehlt der politische Wille”, sagt Rosenbrock, „aus diesem Grund wird der Ruf nach einem Bundesgesetz für die nicht-medizinische Gesundheitsförderung und Prävention immer lauter”.
Weniger dramatisch, aber dafür umso häufiger zeigt sich die Ungerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung von Kassen- und Privatpatient/innen. Hier geht es etwa um Termine beim Facharzt, auf die Kassenpatient/innen laut einer Umfrage der AOK Rheinland/Hamburg vom Juni 2011 deutlich länger warten müssen – beim Kardiologen warteten Kassenpatient/innen im Zeitraum der Erhebung durchschnittlich 71 Tage, Privatpatient/innen dagegen nur 19.
Das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Kranken versicherung führt zu einer massiven Fehlversorgung, sagt Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheitspolitik bei ver.di. „Privatversicherte erhalten Leistungen, die sie nicht brauchen und nicht wünschen – nur weil diese besser abrechenbar sind. Gesetzlich Versicherten dagegen werden Leistungen, die sie benötigen, vorenthalten, wenn der Arzt bereits sein Maximum an Einkommen erzielt hat.” Der Grund hierfür sei die unterschiedliche Vergütung der PKV und der GKV – Ärzt/innen können für Privatpatient/innen den 2,3-fachen Satz abrechnen.
Doch die Unterscheidung von Privat- und Kassenpatient/innen in Deutschland zieht noch andere fatale Folgen in der ärztlichen Versorgung nach sich: In den neuen Bundesländern gibt es auch deshalb weniger Vertragsärzt/innen, weil es auch weniger Privatpatient/innen gibt (etwa 5 Prozent in den neuen und 11 Prozent in den alten Bundesländern). Und in Großstädten ballen sich die Arztpraxen in den Wohngebieten mit der einkommensstärkeren Bevölkerung.
Die Ungerechtigkeit des Systems betrifft auch die Privatpatient/innen selbst: Eine übermäßige Versorgung erhalten hier vor allem die leicht erkrankten Patient/innen. Chronisch Kranke oder Behinderte werden in der Regel von privaten Kassen entweder garnicht erst aufgenommen oder müssen erhebliche Zuschläge zahlen, die sie sich häufig nicht leisten können. Wer als Privatpatient
chronisch krank wird, hat kaum noch die Chance die Kasse zu wechseln. ver.di fordert daher die Bürgerversicherung, die alle Patient/innen in Deutschland gleich stellen würde.
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