Politik sucht sich ihre Hängematte Pfingstcamp der sächsischen Linkjugend Solid im tschechischen Doksy
Von Robert D. Meyer
»Mit nichts beginnen, mit allem scheitern« lautete das Motto beim Pfingstcamp der Linksjugend Sachsen im tschechischen Doksy. In den Wäldern unweit der deutschen Grenze bietet das alljährliche Treffen Abstand von politischen Alltagsthemen in Deutschland.
Ausgerechnet »Prawda«, die »Wahrheit«, nennt sich die kleine achtseitige Zeitung des Pfingstcamps. Das große Vorbild nahm es zu Zeiten der Sowjetunion als Zentralorgan der Kommunistische Partei mit der Wahrheit nie so genau. Was als wahr und damit richtig galt, bestimmten Parteifunktionäre aus Moskau. Im Gegensatz dazu unternimmt das »Offizielle Organ des Pfingstcamps der Linksjugend« überhaupt nicht erst den Versuch, die Wahrheit verkünden zu wollen. Stattdessen widmet sich die Zeitung mit ironischem Unterton dem Alltag im Pfingstcamp der Linksjugend Sachsen in der Nähe der nordtschechischen Kleinstadt Doksy.
In einem kleinen Bungalow auf dem Gelände sitzt Rico Knorr, seit 2011 Jugendkoordinator der LINKEN Sachsen, vor seinem Laptop. »Anstrengend, größer, geiler«, nennt der Leipziger das inzwischen seit 15 Jahren vom sächsischen Jugendverband organisierte dreitägige Camp. Das Treffen hat sich längst über den sächsischen Landesverband hinaus als fester Termin für alternative junge Menschen aus der gesamten Bundesrepublik herumgesprochen. Von den 520 Teilnehmern reist mittlerweile ein Viertel aus anderen Bundesländern an. Die Veranstaltung wächst jedes Jahr. »Ein Teilnehmerrekord«, sagt Knorr. Zeit zur Entspannung bleibt ihm nicht. Kaum hat er sich hingesetzt, um die Fahrkosten eines Referenten abzurechnen, meldet sich ein anderer Camporganisator mit einer Frage über das Funkgerät. Bei Knorr laufen viele Fäden zusammen. Drei Tage Pfingstcamp bedeuten für die Organisatoren Monate der Vorbereitung und Arbeit.
Scheinbar im Widerspruch dazu fordert ein von der sächsischen Linksjugend aufgehängtes Plakat die »soziale Hängematte« und »Kuchen anstatt Brot«. Solche Aussagen provozieren nicht nur den politischen Gegner, sondern sorgen auch immer wieder unter vielen älteren Genossen in der eigenen Partei für Kopfschütteln. Doch genau dafür sind Jugendverbände schließlich da. »Mit solchen Ideen bekommen wir doch überhaupt erst eine breite gesellschaftliche Debatte«, sagt Thomas. Der 23-jährige Student kommt zum zweiten Mal in das Camp. Mitglied in der Linksjugend oder der LINKEN ist Thomas so wie viele andere junge Campteilnehmer nicht. In den Köpfen alternativer Jugendlicher dominiert nicht selten noch immer das Bild einer spießigen grauhaarigen Partei. Die politischen Diskussionen innerhalb der LINKEN interessieren den Sachsen-Anhalter dennoch.
Die Forderung nach einer »sozialen Hängematte« sind Kontrapunkt zu den Auswüchsen der modernen Leistungsgesellschaft und die womöglich ein wenig verzweifelte Antwort auf eine Entwicklung, in der sich der Einzelne häufig nur noch über seine Lohnarbeit definiert. Eine derartige Sichtweise auf die Dinge, die nicht zuletzt auch in Forderungen wie der nach einem bedingungslosen Grundeinkommen mündet, ist im sächsischen Landesverband der Linksjugend sehr populär. Dabei geht es im Grundsatz um die durchaus philosophische Frage nach der Freiheit des Einzelnen.
Damit beschäftigt sich auch der Vorsitzende der Berliner LINKEN, Klaus Lederer. Lässig mit Jeans und Pullover bekleidet, sitzt er mit zwei Dutzend anderen Leuten in einem Halbkreis aus zusammengeschobenen Holzbänken. Ein Podium oder die große Inszenierung des Politikbetriebes für die angereiste Parteiprominenz gibt es im Pfingstcamp nicht. Mit Anzug und Krawatte, würde hier jeder Berufsparlamentarier nur negativ auffallen und abschätzige Blicke ernten. Hierarchien aus dem zähen Politbetrieb in Deutschland gelten im Camp nichts.
Lederer will aus einem Buch zum Thema Freiheit lesen, das er mit vielen anderen Linken geschrieben hat, und darüber diskutieren. »Vor drei Jahren habe ich mich mit meinem Kumpel Karsten darüber geärgert, dass eine Splittergruppe einen Begriff besetzt, der eigentlich in der Linken daheim ist«, beginnt Lederer. Mit Splittergruppe meint er scherzhaft die FDP. Die anschließende Diskussion verläuft in einer lockeren Atmosphäre, von einem dominanten Verhalten einzelner Gesprächsteilnehmer spürt man nichts. Pfingstcamp bedeutet eine Art großes jährliches Zusammentreffen unterschiedlichster sich als links einordnender Menschen, die sich nach einer konträren politischen Auseinandersetzung mit ihrem Gegenüber bei einem Glas Bier wieder versöhnen, egal ob Punk, Autonomer, Anarchist oder Parteisoldat.
Wer keine Lust auf Seminare und Workshops hat, sucht sich stattdessen seinen Platz auf der Wiese des weitläufigen Campgeländes oder am nur wenige Minuten entfernten Mácha-See. Schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Region auch für viele DDR-Bürger ein beliebtes Urlaubsziel. Jahrzehnte später tauschen sich an gleicher Stelle junge Menschen offen über politische Fragen aus. So bunt wie die Planen der Seminarzelte auf dem Campingplatz fallen auch die Antworten aus.
Vielleicht ist es genau diese unverkrampfte Atmosphäre, weshalb es sich die LINKE-Vorsitzende Katja Kipping auch mit vollen Terminkalenders nicht nehmen lässt, am Pfingstcamp teilzunehmen. Trotz ihres Prominentenstatus umlagert sie kein Campteilnehmer. Viele kennen die Politikerin noch gut aus jenen Tagen, als Kipping einfache sächsische Bundestagsabgeordnete war. Hier muss die Parteivorsitzende nicht auf jede Silbe achten, hier kann sie sich unverkrampft bewegen, denn im Pfingstcamp ist Kipping nur eine von vielen Hundert Teilnehmern.
Dazu gehört Katharina. Die 19-Jährige kommt gerade aus einem Workshop zum Nahostkonflikt. Eine Thematik, die auch unter jungen Linken häufig zu Spannungen führt. Dieses Seminar bildet allerdings eine Ausnahme. »Ein guter Workshop, aus dem ich viel mitgenommen habe«, erzählt Katharina. Ursprünglich kommt sie aus Burgstädt bei Chemnitz, zog 2012 zum Studium nach Köln. Das Pfingstcamp ist ein willkommener Anlass, um alte Freunde wiederzutreffen und neue Kontakte zu knüpfen. Nun überlegt Katharina, ob sie die beiden Nahost-Referenten für eine Veranstaltung ihrer Kölner Linksjugendgruppe an den Rhein einlädt.
Politik bedeutet für sie an diesem Wochenende nicht alles. Katharina geht in Richtung der steinernen Terrasse des Camp-Restaurants und nimmt dort auf einer Bank Platz. Statt neuer Diskussionen versucht sie sich nun an einem selbst entworfenen Stoffbeutel. Nähen, Klettern, Kochen und ein Seminar zur Geschichte des Wodkas gehören genauso zum Pfingstcamp wie Veranstaltungen zu Themen wie Menschenrechte, Sexismus oder dem lokalen Engagement gegen Nazis und rechtes Gedankengut.
Ein Patentrezept für eine bessere Gesellschaft oder, wie diese konkret aussehen soll, hat niemand in Doksy parat. In diesem Punkt unterscheidet sich nicht nur die Campzeitung »Prawda« von so mancher früher verkündeten linken Wahrheit.
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