Kämpfe um Zeit - Auswertung einer Strategieberatung Rosa-Luxemburg-Stiftung/WISSENTransfer
Von Sybille Stamm und Richard Detje
1. Auch in Deutschland – nicht nur in den »Krisenstaaten« der EU – ist Arbeitslosigkeit eine Geißel und schwere Hypothek der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung. Dabei hat nicht erst die Entschärfung der Krise 2008/2009 gezeigt, dass Arbeitszeitverkürzung ein probates Mittel ist, mit dem ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert, damit erheblicher »Angstrohstoff« aus dem betrieblichen und gesellschaftlichen Leben genommen und zugleich eine Stabilisierung der Nachfrage im Binnenmarkt erfolgreich gelingen kann. Also: »Arbeit umfairteilen« durch Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich? Diese Initiative ist hoch kontrovers.
Die arbeitsmarktpolitische Zuspitzung der »Kämpfe um Zeit« droht angesichts veränderter Rationalisierungs- und Steuerungsprozesse ins Leere zu laufen. Dass Arbeitszeitverkürzung Beschäftigung sichert, gilt dort, wo die vorhandene Beschäftigung das Auftrags-/Arbeitsvolumen überschreitet. Doch das Gegenteil ist betriebliche Realität: Aufgrund einer Personalpolitik der untersten Linie aufgrund von permanentem cost cutting herrscht das Gegenteil: Beschäftigungs- bzw. Zeitnotstand. Arbeitszeitverkürzung selbst bei vollem Personalausgleich würde an diesem Status quo nichts ändern. Anders formuliert: Der gesellschaftliche Widerspruch zwischen erzwungener Null-Arbeit auf der einen und pathologischer Überarbeit auf der anderen Seite ist unter diesen Bedingungen nicht durch die Konzentration der »Kämpfe um Zeit« auf die Forderung nach umgehender Wochenarbeitszeitverkürzung aufzubrechen.
2. Mit »Vermarktlichung«, »indirekter Steuerung« und »Flexibilisierung« werden Steuerungsprozesse in Unternehmen und Betrieben gefasst, mit denen der Zusammenhang von Arbeit und Leistung verflüssigt wird. Nicht mehr definierte Arbeitsquanta und Leistungsnormen, sondern das Arbeitsergebnis ist vorgegeben (was, wie viel, bis wann). Mit weit reichenden Folgen: Vor die Regulierung der Arbeitszeit schieben sich die Leistungsbedingungen. Die enorme Intensivierung der Arbeit und Verdichtung der Poren des Arbeitstages lässt die Verlängerung der Arbeitszeit zu einem Ventil werden – deshalb die de facto Wiedereinführung der 40 Stunden/Woche. Das heißt aber: Nicht die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, sondern die Regulierung der Leistungsbedingungen wird zum Kern von Konflikten und Auseinandersetzungen.
3. Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung – 35-Stunden-Woche – bündelte Mitte der 1980er Jahre die Kämpfe um Zeit. Die seitdem erfolgte massive Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse lassen es fraglich erscheinen, dass diese Bündelung mit einer neuen Maßzahl der Wochenarbeitszeit – 30 Stunden – gelingen kann: für Projektarbeit in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen bis in weite Bereiche der Arbeitsvorbereitung über Service- und Dienstleistungsarbeiten bis hin zu Teilzeitarbeit, geringfügiger und temporärer Beschäftigung. Richtig ist: Es gibt einen weit verbreiteten Wunsch nach kurzer Vollzeit. Doch um dahin zu kommen, scheinen heute unterschiedliche Pfade gegangen werden zu müssen.
Dies gilt auch im Hinblick auf die Regulierung und Normierung der Arbeitszeit. Hier ist nicht nur Neuland zu betreten, weil – aufgrund von neuen Steuerungsmodellen und nach politischen Niederlagen – an die Stellen der Erfassung und Kontrolle von Arbeitszeit Marktsteuerung bis hin zu »Arbeit ohne Ende« getreten ist. Sondern auch deshalb, weil sich die Akteursperspektive verschoben hat: Die Regulierung und Kontrolle der Arbeitszeit muss durch die Beschäftigten jeweils selbst erfolgen, oder es wird sie nicht geben. Dass dafür Leitplanken und Haltegriffe erforderlich sind, ist selbstverständlich.
4. Statt Konzentration auf eine fixe Größe allgemeiner Wochenarbeitszeit hat sich in den betrieblich-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein Bündel unterschiedlicher Problemlagen herauskristallisiert:
- die Gesundheitsbelastungen von wachsendem Arbeitsstress bei gleichzeitiger Intensivierung, Extensivierung und Flexibilisierung der Arbeit – damit die Forderung nach Guter Arbeit
- die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Rente mit 67) bei progressivem Verschleiß aufgrund nicht alternsgerechter Arbeitsbedingungen – damit die Forderung nach flexiblen Altersübergängen
- die exkludierenden Widersprüche zwischen Familie und Beruf ebenso wie die massive Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern (vom Lohn über die Arbeitsinhalte und -organisation bis hin zur Arbeitszeit) – damit die Forderung nach Work-Life-Balance und Geschlechterdemokratie.
Mit diesen Problemlagen stehen wiederum besonders belastete Personengruppen im Focus.
Ebenso wie die Regulierung und Kontrolle der Arbeitszeit – ihrer Intensität und ihrer absoluten Größe nach, sowie hinsichtlich Lage und Verteilung – durch das Nadelöhr individueller Ansprüche und Bedürfnisse gehen muss, so ist von den unterschiedlichen Zugängen und Problemlagen bei der Wiederaneignung der Zeit auszugehen. Neue gesellschaftliche Normierungen und Standards können – sollen sie mehr sein als eine blutleere Durchschnittsberechnung – nicht Voraussetzung sondern nur (spätes) Resultat der Kämpfe um Zeit sein.
5. Die zentralen Topoi – Gesundheit, demographische Entwicklung, Geschlechterfrage
- verweisen darauf, dass die »Kämpfe um Zeit« nicht auf die Verteilung und Regulierung von Arbeitszeit enggeführt werden können. Die Wiederaneignung der Zeit ist gleichermaßen ein arbeits- wie gesellschaftspolitisches Projekt. Das war es auch bereits in dem Kämpfen um die 35-Stunden-Woche Mitte Anfang der 1980er Jahre.
6. Die »Kämpfe um Zeit« sind komplexer und anspruchsvoller geworden. Entsprechend die Durchsetzungsbedingungen. Die Wiederaneignung der Zeit trifft den Kern eines finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes, dessen Verwertungsansprüche mehr als je zuvor auf dem Raubbau lebendiger Arbeit basieren. Galt von Beginn des Kapitalismus mit der Regulierung des Arbeitstages, dass der Kampf um Zeit ein Kampf um diePolitische Ökonomie in Gänze ist, so gilt dies heute im Besonderen. Dabei geht es um Hegemonie im eminenten Sinne – nicht um Themensetting.
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