Für "große Herausforderungen" und "kleine Leute"?
Von Joachim Bischoff, Richard Detje und Björn Radke
Lange, über fünf Wochen sich zäh hinziehende Verhandlungen mit einem 17 Stunden dauernden Schlussakkord benötigten Unionsparteien und SPD, um ihre dritte Große Koalition zu verabreden. Ein Lehrstück in Sachen Elitendiskurs. Hinter verschlossenen Türen wurde verhandelt, WählerInnen und Parteivölker ausgeschlossen, Medien mit Spielmaterial versorgt.
Noch zwei Tage vor Verhandlungsschluss speisten Sigmar Gabriel und Angela Merkel die IG Metall auf deren Gewerkschaftstag mit Plattitüden ab. Vorsicht, das als Verhandlungs»technik« zu schlucken (»nichts ist beschlossen, solange alles beschlossen ist«). Bluffen mag ja vom spielerischen Poker längst zur politischen Spieltheorie avanciert sein – doch Demokratie wäre das Gegenteil.
Geschenkt, weil professionelle »Politik« nun einmal so und nicht nach Gutmenschenart funktioniere? Nein! In »postdemokratischen« Zeiten (Colin Crouch), in denen das Primat der Politik ausgehebelt ist, und in Zeiten von »Demokratieentleerung« (Wilhelm Heitmeyer), in denen entzivilisierte Eliten sich nur noch zynisch zum Gemeinwesen verhalten, kann die Demokratiefrage nicht an die Bundeszentrale für Politische Bildung adressiert werden.
Sollte es einen Streit darum gegeben haben, Deutschlands Zukunft zu gestalten (so der Titel des Koalitionsvertrages), so wäre er öffentlich, nicht klammheimlich zu führen gewesen. Stattdessen gab es miese Kontinuität: Die Deckelung von politischer Willensbildung und Aufklärung im Wahlkampf setzte sich in den großkoalitionären Verhandlungen in höherer Potenz fort.
Warum fünf lange Wochen, in denen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum Distinktionskriterium politischer Interessenvertretung wurde? Würde man die Präambel des Koalitionsvertrages von CDU/CSU und SPD lesen – was kaum jemand tut –, könnte man zumindest den basso continuo heraushören. Die dritte große Koalition erscheint dort als politisch folgerichtige Fortsetzung der zweiten – Schwarz-Gelb quasi als Irrlicht zwischendrin. Denn: Dass Deutschland heute »in guter Verfassung« ist, sei der »gezielten Reformpolitik der Vergangenheit« zu verdanken (also Schröder, danach Merkel/Müntefering) und der beherzten Krisenpolitik 2009 (Merkel/Steinbrück).
Die große Koalition ist im Verständnis ihrer Akteure kein demokratischer Notfall, sondern Erfolgsmodell: zu Wiedervorlage und Nachahmung empfohlen. Man könnte meinen, dass der politische Alltag über die Postdemokratie-Debatte bereits hinaus gegangen ist. Oder dafür längst die probaten Regierungsformeln gefunden hat.
Es ist ehrlich, wenn die Koalitionäre ihr aktuelles Projekt in der zeithistorischen Verlängerung der Agenda 2010 sehen. Durch die Flexibiliserung des Arbeitsmarktes, die Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme (vor allem Alterssicherung und Gesundheit) sowie die Entfesselung des Kapitalmarktes und des Finanzsektors konnte die Deutschland AG mit ihren Regularien der organisierten Lohnarbeit und korporatistischen geprägten Machtverhältnissen für den Turbokapitalismus geöffnet werden.
Es ist damit auch dokumentiert, dass das sozialdemokratische »Flüstern« von einer erneuten, zweiten Bändigung des nun mehr entfesselten Kapitalismus bloßes Sonntagsgerede ist. Eine wirksame arbeits- und sozialpolitische Korrektur der Agenda 2010 war nicht das Projekt der oppositionellen Sozialdemokratie. Sie konnte sich damit auf die neoliberale Grundmelodie der Unionspartien einlassen: »Wir wollen in den nächsten Jahren die guten Entwicklungen fortführen und Missstände überwinden. In vier Jahren soll unser Land noch besser dastehen als heute. Diese Aufgabe ist groß. Unsere exportorientierte Wirtschaft ist auf vielfältige Weise international verflochten und steht im Wettbewerb mit anderen Industrieländern sowie einer wachsenden Zahl dynamisch aufstrebender Volkswirtschaften in den Schwellenländern. Globale Ungleichgewichte, Klimawandel und der Verbrauch knapper Ressourcen erfordern ein neues, nachhaltiges Wohlstandsmodell. Die Weltwirtschaft erholt sich nur langsam von den Folgen der großen Finanzkrise. Jeder Erfolg muss hart erarbeitet werden. Die europäische Schuldenkrise ist noch nicht überwunden und fordert auch in den kommenden Jahren Anstrengungen von uns.«
Das angestrebte nachhaltige Wohlstandsmodell entsteht in der Verlängerung von Deregulierung und Flexibilisierung. Es gilt die durch die Staatsinterventionen (Umschuldung, Bankenrettung) gewonnene Zeit zu nutzen und die angestiegene öffentliche Schuldenblast zurückzuführen, auch um den Preis, dass sich die soziale Spaltung in der Gesellschaft vertieft.
Mit großem Kopfschütteln werden die staunenden politischen Beobachter registrieren, dass die Wettbewerbsfähigkeit auch als Schlüsselreform für die Krise der Euro-Zone ausgewiesen wird. Die einstige sozialdemokratische Überlegung, auch eine gemeinschaftliche Aktion bei der Entschuldung zu verfolgen, wird ohne Begründung verworfen. In der Auseinandersetzung über die Umsetzung von Wachstumsimpulsen eventuell sogar – wie von gewerkschaftlicher Seite gefordert – eine Art europäischer Marshall-Plan aufzulegen, ist die Sozialdemokratie auf die abgrenzende Logik der Neoliberalen eingeschwenkt.
Übrig bleibt das Credo vom Weiter so: Wir »brauchen mehr Wettbewerbsfähigkeit durch Strukturreformen und neue Wachstumsimpulse in allen Mitgliedsstaaten. Das soziale Europa ist für uns von gleichrangiger Bedeutung wie die Marktfreiheiten im Binnenmarkt. Wir helfen, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa gezielt zu bekämpfen.«
»Solide Finanzen mit ausgeglichenen Haushalten sind für uns unerlässlich.« lautet folgerichtig das nächste Credo. »Die Neuverschuldung wollen wir dauerhaft stoppen, die Schuldenstandsquote senken und dabei die Investitionskraft von Bund, Ländern und Kommunen sicherstellen. Nur so werden wir unserer Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln gerecht. Wir sind uns einig, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, ein wirksamer Steuervollzug und die konsequente Einhaltung der Schuldenbremse für die Sicherung der Einnahmen und der Handlungsfähigkeit des Staates unerlässlich sind. Mit einer soliden und gerechten Haushaltspolitik schaffen wir auch weiter die Vorausset-zungen für eine stabile Währung, für Wachstum und sichere Arbeitsplätze.«
Der neoliberale Irrsinn wird durch die sozialdemokratische Unterschrift gleichsam geadelt. Nicht etwa die Einkommens- und Vermögensunterschiede sowie die Finanzialisierung der Akkumulation sind für die Widersprüche des Raubtierkapitalismus verantwortlich, sondern die Fehlentwicklung der öffentlichen Finanzen. Nicht einmal das Koalitionsgeschenk an die FDP, die Möwenpick- oder Hotelsteuer, wurde rückgängig gemacht, geschweige denn die sonstigen »Steuersenkungen« für Wohlhabende. Der oberste Grundsatz heißt: Sanierung der öffentlichen Finanzen ohne Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensungleichheiten.
Im Grundsatz stimmen die Großkoalitionäre darin überein, dass
- die öffentliche Verschuldung gesenkt werden muss: nicht nur Stop der Neuverschuldung, sondern Haushaltsüberschüsse;
- die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiter gestärkt werden muss,
- daraufhin die öffentliche Infrastruktur und die Energiepolitik ausgerichtet sein muss,
- während die soziale nicht noch weiter unter die Räder geraten dürfe.
Die Sozialdemokratie hat erneut wegen einer Regierungsbeteiligung ihre strategische Seele neoliberalen Vorstellungen geopfert und sie hat noch nicht einmal eine Ahnung von dieser perspektivlosen Operation. Die SPD-Granden Gabriel, Nahles etc. legitimieren diese Unterwerfung mit dem Argument, in der 150 jährigen Geschichte der SPD sei es stets darum gegangen, dass es den Bürger_innen am Ende der Periode – also 2017 – besser als gegenwärtig gehen müsse.
Drei Beispiele dafür:
Erstens. »Wir wollen nachhaltig ausgeglichene Haushalte«, mehr noch, Abbau der staatlichen Gesamtverschuldung von 81% auf unter 70% bis Ende der Legislaturperiode. Das soll gänzlich ohne Steuererhöhungen gelingen. Forderungen nach Wiedereinführung einer Vermögensteuer und einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes standen in der großen Koalition zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Was aber ist von einer Regierung zu halten, die das Auseinanderlaufen von privatem Reichtum und öffentlicher Armut überhaupt nicht mehr zum Thema macht? Die Union hat Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse verweigert und glaubt an die Illusion der Verwirklichung eines nachhaltigen Wohlstandsmodells durch Steigerung des Wettbewerbsfähigkeit glaubt; die Sozialdemokratische verfolgt die Konzeption eines regulierten Kapitalismus; in Ansehung dieser Differenzen haben sich die politischen Akteure auf kleine Schritte verständigt.
Zweitens: Sechs Mrd. Euro sollen für Kommunen, Kitas, Schulen und Hochschulen zusätzlich bis 2017 zur Verfügung stehen. Das ist weniger als Substanzerhalt. Dass es in Schulklassenräumen durchregnet, steht unter Finanzierungsvorbehalt. An den Hochschulen werden weitere Fachbereiche, Bibliotheken usw. geschlossen und bei der Verkehrsinfrastruktur (+ 5 Mrd.) werden Züge künftig im Schritttempo über marode Brücken fahren. 600 Mio. für Städteförderung in Zeiten von Wohnungsnot in unteren Preissegmenten sind ein schlechter Witz. Auf 21. Mrd. werden die erforderlichen Aufwendungen für bezahlbares Wohnen, bezahlbare Energie und Mobilität geschätzt. Statt 1,4 Mrd. für die »Eingliederung« von Arbeitslosen hat der Paritätische Wohlfahrtsverband einen Bedarf von 8,6 Mrd. bis zum Ende der Legislaturperiode errechnet, einschließlich Maßnahmen zur Integration von Jugendlichen ohne Berufsabschluss. Die von der großen Koalition avisierten Gelder gleichen noch nicht einmal jene Mittel aus, die aus der Kasse der Bundesagentur für Arbeit in den letzten Jahren geplündert wurden.
Drittens: An Langzeitarbeitslose hat keiner der Großkoalitionäre gedacht, obgleich schon die letzte ALG II-Minierhöhung unterhalb dessen lag, was zur Existenzsicherung erforderlich ist. Und auch die Absenkung des Rentenniveaus schreitet weiter voran, womit der weitere Anstieg von Altersarmut vorprogrammiert ist. Zur Sicherung des sozialen Existenzminimums und zur Vermeidung von Altersarmut veranschlagt der Paritätische einen zusätzlichen Bedarf von gut 6 Mrd. jährlich – das wären 24,5 Mrd. bis zum Ende der Legislaturperiode.
Kommen wir zu den vermeintlichen Erfolgsposten, in erster Linie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Allerdings nicht sofort, sondern erst zum 1.1.2015 und nicht für alle. Denn bis Ende 2016 haben Tarifverträge Vorrang, auch wenn sie Stundenlöhne von unter 8,50 Euro vorsehen. Laut WSI-Tarifarchiv galt das Ende letzten Jahres für 11% der tariflichen Vergütungsgruppen. Hier wird der Mindestlohn um bis zu drei Jahre hinausgezögert. Zudem wird der Mindestlohnsatz bei steigenden Lebenshaltungskosten entwertet. Eine Erhöhung des Mindestlohns soll es vor 2018 nicht geben. Demgegenüber kann die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen als Fortschritt gewertet werden – womit tariflichen Mindestlöhnen ein höheres Gewicht zukommen dürfte.
Eine Eindämmung von Werkverträgen wird durch eine stärkere Kontrolle von Schwarzarbeit und erweiterte Informationsrechte der Betriebsräte schwerlich gelingen – auch hier setzt die große Koalition ebenso wie bei der Leiharbeit eher auf tarifliche Regelungen, statt beispielsweise auf die Wiedereinführung eines Verbots sachgrundloser Befristung. Die Bekämpfung von Prekarität und eine solidarische Neuordnung des Arbeitsmarktes werden so maßgeblich den Tarifvertragsparteien überlassen – der Gesetzgeber entzieht sich seiner Verantwortung.
Einmütig begrüßen die Gewerkschaften die konkreten Schritte in Richtung einer neuen Ordnung am Arbeitsmarkt. Die prioritären Maßnahmen für den Bundeshaushalt über die gesamte Periode in Höhe von 23 Mrd. Euro reichern zwar nicht, um den weiteren Substanzverlust bei der öffentlichen und kommunalen Infrastruktur aufzuhalten, aber – werden viele KommunalvertreterInnen aufatmen – immerhin führt das Diktat der Schuldenbremse nicht zu einem beschleunigten Verfall. Vorstellbar ist auch, dass die Korrekturen bei der »Energiewende« wenigstens zum Großteil den speziellen Umverteilungsprozess auf diesem Terrain beenden oder zurückführen.
Die so genannte Mütterrente bringt rund neun Millionen Frauen eine kleine Aufbesserung ihrer kargen Alterseinkünfte. Die Rente mit 63 entfaltet nicht gleichermaßen eine kleine Besserstellung, denn die Zahl der »Betroffenen« fällt deutlich geringer aus. Der abschlagsfreie Rentenzugang gilt für einen kleinen Teil der RentenempfängerInnen, blockiert aber weder den programmierten Anstieg des Renteneintrittsalters und beendet auch nicht die laufende Absenkung des Rentenniveaus. Die Maßnahmen sind ein höchst unzureichender Beitrag zur Bekämpfung der sich verstärkenden Altersarmut. Die »solidarische Leistungsrente« soll erst 2017 eingeführt werden und wird wegen der Bedingungen auch nur einen kleinen Beitrag zur Zurückdrängung der Altersarmut leisten können.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) stellt am28.11.2013 die spannende Frage für die nächsten Wochen: »Doch wie wird der Koalitionsbrei der SPD-Basis schmecken? Wird sie erkennen, dass diese Regierung weiter vom verhassten Reformgeist der Agenda 2010 abrückt als jede ihrer Vorgängerinnen seit Schröder?« Nur in Nuancen ist dieser Koalitionsvertrag von jenem »Reformgeist« abgerückt. Gleichwohl wird es vermutlich eine ausreichende Zustimmung zu dieser Ansage eines politischen »Weiter so« geben.Kurzfristig mag damit Schaden von der SPD-Parteiführung abgewandt sein, ob das langfristig auch auf die die deutsche und europäische Sozialdemokratie zutrifft, lassen wir dahingestellt.
Mehr zum Thema finden Sie auch in folgendem Artikel:Gregor Gysi: "Eine Koalition, die die soziale Spaltung im Land vertieft und lobbyhörig ist"
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