Erschütterung des politischen Systems - In Frankreich wird der Front National stärkste Kraft
Von Bernhard Sander
Das institutionelle politische System in Frankreich steht noch, aber das Parteiensystem weist unübersehbar massive Risse auf. Die Europawahl hat eine politisches Beben ausgelöst: Wenig überraschend heißt der Sieger Front National, der nach Aussage der deutschen Bundeskanzlerin »meilenweit von unserer Programmatik entfernt ist«, mit 24,4%.
Die regierenden Sozialdemokraten (PS) repräsentieren nur noch 14% der Wähler, der Front de Gauche konnte gerade noch 6,3% hinter sich bringen (was gegenüber dem ersten Wahlgang für die Präsidentschaft fast eine Halbierung der Zustimmung bedeutet); lediglich in ihren Diaspora-Gebieten sprechen die Ergebnisse für eine bessere Verankerung.
Die Grünen, gerade frisch in die Reihen der Opposition gerückt, stagnieren bei 9%. Nach der verlorenen Berezina-Schlacht folgte postwendend die Meuterei und Fahnenflucht. Ein Debakel für die Linke, aber auch für die ehemalige Präsidentenpartei UMP, die es auf 21% brachte.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Politiker »alle verrottet« bis ins Mark sind, wie es der FN seit Anbeginn verkündet, dann war es die Veröffentlichung der Tageszeitung Libération über die Machenschaften der UMP-Spitze, mit denen der Staatskasse wohl illegal 20 Mio. Euro zur Parteifinanzierung entzogen worden sind.
Die gesamte Parteiführung der UMP sah sich zum Rücktritt gezwungen. Neben der Veruntreuung von öffentlichen Geldern ist der eigentliche Grund für die Enthauptung der Konservativen jedoch, dass die Partei in ihrer tiefsten Krise seit der Gründung steckt.
Die UMP war als rechts-bürgerliches Bollwerk gegründet worden, als sich die Gaullisten um Jaques Chirac 2002 im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl auf die Unterstützung der Linken angewiesen sah, um das Amt gegen den Front National und ihren Kandidaten Jean-Marie Le Pen zu verteidigen.
Nicolas Sarkozy machte aus der UMP erst die Wahlkampfmaschine »Union für die Mehrheit des Präsidenten« und später als »Union für eine Mehrheit im Volk« das Bündnis der Leistungswilligen. Sie trieb mit einem triumphalen Wahlsieg den Front National nach 2007 in eine schwere Krise.
Aber Sarkozy trieb auch das Land im Gefolge der großen Finanz- und Weltwirtschaftskrise auf eine abschüssige Bahn: Der industrielle Sektor leidet seitdem unter galoppierender Auszehrung, die soziale Spaltung wurde vertieft durch unverschämte Umverteilung zugunsten der vermögenden Schichten, die Staatsfinanzen sind zerrüttet.
Nach dem Rücktritt seines Vertrauten Jean-François Copé von der Parteiführung dürften auch die Rückkehrambitionen Sarkozys erledigt sein und Marine Le Pen kann sich auf weitere Anteile aus der Erbmasse freuen. Denn als Führungspersonal bleibt nur die Garde verschlissener Ministerpräsidenten Jean-Pierre Raffarin, Alain Juppé und François Fillon.
Die Sozialdemokraten, die Sarkozys Erbe 2012 übernahmen, konnten unter den beengten Rahmenbedingungen, die ihnen EU-Kommission und deutsche Regierungen (einschließlich ihrer Parteifreunde von der SPD) lassen, die gesellschaftliche Entwicklung nicht – wie versprochen – zügig zum Besseren wenden. Sowohl Arbeitslosenrate als auch Verschuldung stiegen seit dem Regierungsantritt des sozialistischen Präsidenten François Holland weiter an.
Die durch die Erhöhung von Steuern ausgelöste Progression trifft nun immer mehr Mittelschicht-Angehörige. Die Belastungen durch steigende indirekte Steuern drosseln den privaten Konsum, die tragende Säule des französischen Wirtschaftsmodells. Die Handelsbilanz gerät in noch größere Schieflage, weil immer weniger Sektoren des produzierenden Gewerbes konkurrenzfähige Produkte vorstellen können. Der angekündigte Politikwechsel blieb konturenlos und funktionierte nicht einmal als symbolische Täuschung.
Der Erfolg des FN kam nicht überraschend, wie jetzt oft geschrieben wird. Das Kommunalwahlergebnis von 6% im März vernebelte die Lage. Es kam nur dadurch zustande, dass man die bei lokalen Teilkandidaturen erzielten Zahlen auf das gesamte Land umrechnete. Fakt bleibt jedoch, dass der FN mit 4,7 Mio. Stimmen rd. 1,7 Mio. weniger eingesammelt hat als bei der Präsidentschaftswahl – auch ein Mobilisierungsproblem, wenn man um Stimmen für ein Parlament wirbt, dass man als Kasperletheater denunziert.
Zwar hatte sich der EU-Wahlkampf gegen die »Stadthalter Brüssels«, als die alle anderen Parteien bezeichnet werden, auf wirtschaftliche Fragen konzentriert und die Bedrohung des gesunden Volkskörpers durch mal-bouffe (Genfood, Chlorhühnchen usw.), Fracking, Sozialdumping und dadurch erzwungene Einwanderung angeprangert. Aber der alte Jean-Marie Le Pen hatte noch mal eine Duftmarke gesetzt, um den ideologischen Kern in den Hinterköpfen der Aktivisten aufzuladen: Monsieur Ebola (eine meist tödlich verlaufende Viruserkrankung) könne mit der Einwanderung binnen dreier Monate aufräumen.
Selbst wenn man das Ergebnis des FN mit Hinweis auf die geringe Wahlbeteiligung von 41% relativiert, bleibt der Zusammenbruch des demokratischen Parteiensystems ein Fakt, auf den die Linke in all ihren Facetten reagieren muss, wenn sie die seit längerem anhaltende Lähmung ablegen will. Da wird es mit einem »ernsten Aufruf« der Kommunistischen Partei zur Bildung einer »Volksfront des 21. Jahrhunderts« nicht getan sein.
Was sind die Erwartungen der kleinen Leute? Was ist man auf Seiten der Sozialdemokraten bereit einzubringen, jenseits einer Wählerbeschimpfung wie bei Hollande, der das Votum für FN als »der Rolle, dem Ansehen und den Ambitionen Frankreichs nicht angemessen« bezeichnete? Und wieviel von ihrer wolkigen Phraseologie ist die Linke der Linken bereit aufzugeben?
Der PCF will die Zusammenarbeit in der Linksfront fortsetzen. Deren Ex-Spitzenkandidat Jean-Luc Mélenchon unterstreicht, dass »nicht die Migranten, die Sitten oder die Natur der Ehe das Problem in Frankreich darstellen«, sondern die Regierungsmannschaft habe »die Sprache der Linken verraten« und damit die braune Welle in Europa ermöglicht. Sind dies die angemessenen Antworten auf das Debakel?
Die Front de Gauche erlebte bei den EU-Wahlen 2009 die Feuertaufe und lag zusammen mit den plötzlich erstarkten Linksradikalen gleichauf mit dem FN. Die Dynamik der Volksabstimmung gegen den EU-Verfassungsvertrag von 2005 und aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2011/12 konnte nicht aufrecht erhalten werden, was wesentlich darauf zurückgeführt werden muss, dass die Akteure den grundsätzlich anderen Charakter der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 nicht verstanden haben.
Sie gehen von einer, im schlimmsten Fall sogar als vom nationalen Kapital suggerierten, Konjunkturkrise aus, die lediglich dem Zweck diene, die Sarkozysche Umverteilungspolitik von unten nach oben fortzusetzen. Zweifellos ist dies ein Aspekt der Realität, aber die Antworten waren keine europäischen und sie waren keine für die Strukturprobleme.
Die Kommunalwahlvorbereitung hatte zudem die ganze Vielfalt der Haltungen zum regierenden PS gezeigt. Auch den Charakter der Krise des Systems der politischen Repräsentanz hat die Linke der Linke beharrlich ignoriert. Die wirtschaftliche Krise gruppiert die politischen Kräfte nicht automatisch zugunsten der Linken um. Wenn eine erkennbare Alternative fehlt, bleibt Verbitterung und aufkommendes Ressentiment.
Alle drei Themen schleppt die Linke seit dem Aufkommen des Neoliberalismus, der Euro-Einführung und dem Eisenbahnerstreik von 1996 mit sich. Damit steht aber auch immer wieder der Erneuerungsansatz des Front de Gauche auf dem Spiel.
Ein kleiner Teil der Enttäuschten, die sich überhaupt noch mal zur Teilnahme am demokratischen Verfahren aufraffen konnten, parkt zur Zeit mit 3% der Stimmen bei einer linkssozialdemokratisch-grünen sehr jugendlichen Partei »Neue Sache« aus dem Milieu der Bürgerinitiativen, kritischen Bildungsbürgern usw., die erst sechs Monate alt ist. Sie engagieren sich für eine Ausweitung der Demokratie, gegen das Übergewicht der Finanzwelt und gegen den Ansatz der Sparpolitik. Umweltschutz und die Rechte des Individuums sind tragende Werte, wenn es gilt Lebensstandard, Lebensqualität und Lebensumstände neu zu gestalten.
Die gesellschaftlichen Probleme sind nach der Wahl die alten: Dem Staatshaushalt fehlen gegenüber dem Planansatz 14,6 Mrd. Steuereinnahmen im abgeschlossenen Haushaltsjahr 2013. Auch dies eine Herkules-Aufgabe für die gesamte politische Linke.
Ähnliche Artikel
- 24.05.2014
- 25.10.2011
GREGOR GYSI: 90 Prozent unserer Zeit darauf verwenden, Politik zu machen
- 28.05.2014
- 18.05.2014
- 16.05.2014