Sven Giegold, die Grünen, die Schulden und die Schuld der Unwissenden
Von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
Sven Giegold, Europaparlamentarier der Grünen, hat am 31. 5. dem Deutschlandfunk ein Interview gegeben, in dem er beschreibt, wie es in Europa aus der Sicht der deutschen Grünen weiter gehen soll. Wenn man dieses Interview liest, weiß man, dass Europa keine Chance hat. Wenn sich eine Partei wie die Grünen so hasenfüßig aufführt und mit allen Mitteln versucht, das bisschen Ökonomie nicht zu lernen, das man braucht, um wirklich mitreden zu können, wie sollte man dann von konservativen Parteien eine geistige Wende erwarten?
Gefragt, unter welchen Umständen die Grünen Jean-Claude Juncker wählen würden, sagt Giegold: „Wir haben dafür vier Anforderungen genannt: eine echte europäische Energie- und Klimapolitik …; wir möchten, dass in der Agrarpolitik es keine neuen Genmaispflanzen in Europa gibt, auch dafür gibt es eine breite Mehrheit in der Bevölkerung; drittens wollen wir das EU-US-Freihandelsabkommen auf neue Füße stellen, wir wollen, dass dem mindestens mal die Giftzähne gezogen werden; und schließlich – und ich halte das für ganz wichtig – braucht es einen neuen Aufbruch in der europäischen Demokratie. Das Unwohlsein der Bürger an dem, wie Europa derzeit die Entscheidungen trifft, ist sehr weit verbreitet, und da brauchen wir mehr an Bürgerbeteiligung und eine Begrenzung dieses überbordenden Lobbyismus.“
Das war es! Kein Wort von einer grundlegend anderen Wirtschaftspolitik zur Beendigung der Eurokrise. Kein Wort zu einer besonderen Rolle Deutschlands, kein Wort zur Deflation und kein Wort darüber, wie die europäische Wirtschaft überhaupt wieder in Gang gebracht werden soll (wir haben dazu gerade gesagt, was notwendig wäre). Darüber müsste man sich nicht aufregen, wenn es nicht von der politischen Seite käme, die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch als einigermaßen industrie-unbestechlich und daher etwas glaubwürdiger als ein großer Teil der politischen Szene gilt.
Und dann sagt er zu den Forderungen aus Frankreich, das Wachstum auch schuldenfinanziert anzukurbeln: “Die Forderungen aus Frankreich sind ja bisher sehr unkonkret. Also das bedeutet: Einerseits ist klar, es gibt das Signal aus Italien wie aus Frankreich, man möchte nicht so stark sparen, und gleichzeitig gibt es offensichtlich das Problem, die Reformen gerade in Frankreich wirklich auf den Weg zu bringen, die dem Land wieder Selbstbewusstsein geben würden und bei den sozialen Problemen etwas lösen könnten. Aus meiner Sicht wäre es naiv und falsch, jetzt einfach die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu lockern, denn es gibt eindeutig bessere Alternativen, und zwar ein echter europäischer Kampf gegen Steuerflucht und Steuerhinterziehung.”
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: “Reformen, die dem Land (Frankreich) wieder Selbstbewusstsein geben”! Muss Frankreich genau wie Deutschland unter Rot-Grün Wirtschaftskrieg gegen seine Nachbarn führen, damit es Selbstbewusstsein zurückgewinnt? Und Kritik am Stabilitäts- und Wachstumspakt ist laut Giegold “naiv und falsch”. Wenn der Staat nur mehr Steuern hätte, wäre alles in Ordnung.
Das zeigt wieder, dass auch diejenigen, die bei den Grünen dauernd über Wirtschaftspolitik reden, keine Ahnung haben, wovon sie reden. Sie wissen es nicht, aber das Schlimme ist, sie wollen es auch nicht wissen. Denn wenn sie wüssten, worum es wirklich geht, müssten sie über die Dinge reden, die in dieser Welt wirklich wichtig sind, und könnten sich nicht wie kleine Kinder in ihre Ökonische zurückziehen und aus den Diskussionen der “Erwachsenen” heraushalten. Folglich sind Schulden bei den Grünen vollständig tabu und Keynesianismus ist des Teufels, weil der mit irgendetwas wie Schulden zu tun hat.
Also tun sie so, als ob der Staat ohne große Probleme auch ohne Schulden auskommen könne, denn auch ohne Schulden des Staates – so das immer wieder benutze Argument – breche ja nicht sofort eine Rezession aus. Auch könne man eine Wirtschaft ohne neue Schulden des Staates wiederbeleben. Das ist schon das große Missverständnis. Es geht gar nicht darum, dass ohne Schulden des Staates sofort eine Rezession ausbrechen würde. Es geht im Kern darum, dass die Menschen in Deutschland und anderswo versuchen, privat für die Zukunft vorzusorgen. Folglich werden sie in Deutschland auch in diesem Jahr versuchen, etwa 150 Milliarden Euro neu zu sparen (ja, es geht um Neuersparnis in Analogie zur Neuverschuldung). Die Frage, die sich für jede Volkswirtschaft stellt – ob sie grün regiert wird oder nicht, spielt dabei überhaupt keine Rolle –, ist, wer sich in dieser Höhe, also in Höhe von 150 Milliarden Euro, in diesem Jahrzusätzlich verschuldet. Das muss natürlich nicht der Staat allein sein. In den sechziger Jahren waren die Hauptschuldner der Volkswirtschaft die deutschen Unternehmen, was vollkommen in Ordnung ist. Wenn aber die deutschen Unternehmen selbst auch sparen, so wie das heute der Fall ist, kann der Staat nicht einfach sagen: Was mit den 150 Milliarden passiert, geht mich nichts an, ich mache auf keinen Fall Schulden.
Das ist zum einen absurd, weil es impliziert, dass der deutsche Staat (und die Grünen) zufrieden damit ist, wenn wie in den letzten Jahren das Ausland all die Schulden macht, die der gewünschten deutschen Neuersparnis entsprechen – mit all den Unwägbarkeiten und Verlustpotenzialen, die das mit sich bringt, wie man in der Eurokrise und an den amerikanischen Drohungen in Sachen Handelsbilanzungleichgewichte sieht. Zum anderen unterstellt man, dem Staat sei es auch egal, ob die Bürger einen Großteil ihrer Ersparnisse für die Vorsorge verlieren, weil sich, wie das derzeit der Fall ist, trotz extrem niedriger Zinsen niemand verschuldet und investiert. Das kann ihm aber nicht egal sein, weil auch er seine Schulden- oder Sparpläne nicht verwirklichen kann, wenn alle Sektoren der Volkswirtschaft versuchen zu sparen. Wenn keiner Schulden macht, gibt es auch keine Vorsorge – übrigens auch keine ökologische Vorsorge. Auch ökologische Vorsorge im Sinne von Investitionen in umweltverträgliche Produktionsverfahren und Produkte muss über Schulden finanziert werden, wenn sie nicht nur ökologisch sinnvoll sein soll, sondern auch der Wirtschaft insgesamt helfen soll, vor allem in puncto Abbau von Arbeitslosigkeit.
Diese buchhalterischen Zusammenhänge, die der Keynesianismus schon vor vielen Jahrzehnten herausgearbeitet hat, muss man bei allen Entscheidungen berücksichtigen, wenn man große Fehler vermeiden will. Man mag einwenden, dass gute Politik und gute Ökonomie mehr können muss als nur Buchhaltung. Das stimmt. Beide Disziplinen können und dürfen aber diese buchhalterischen Zusammenhänge nicht ausblenden, wenn sie sinnvoll handeln wollen. Wer das ausblendet, weil er sich eine öffentliche Debatte über Schulden nicht zutraut, kneift vor der Wirklichkeit und sollte keine Politik mit dem Anspruch machen, Konzepte für die Lösung gesamtwirtschaftlicher Probleme anzubieten. Noch einmal Sven Giegolds Vorstellungen, „Schritte zu gehen, die Richtung der europäischen Politik zu verändern“, die solche fundamentale Logik gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge ausblenden: Er plädiert für „Projekte, die Europa eine stärkere Identität geben, die Investitionen darstellen und nicht einfach nur Sparen, und gleichzeitig aber Europa nach vorne bringen, und bei der Finanzierung eben nicht auf neue Schulden zu setzen, sondern auf die entschiedene Bekämpfung der Steuerflucht“ (Kursivdruck durch die Verf.).
Mit gesamtwirtschaftlicher Vernunft haben die Grünen nichts am Hut. Solche Sätze wie die von Sven Giegold sind nur zu erklären mit einer tiefen inneren Überzeugung der Person und seiner Partei insgesamt, dass Schulden schlecht sind und die zukünftigen Generationen belasten. Wer aber soll Europa retten, wenn auch die deutschen und europäischen Grünen von Sachkenntnis völlig unbeleckt sind und keine Idee haben, wie Europa aus der wirtschaftlichen Sackgasse entkommen kann, in die es die Konservativen und konservative Sozialdemokraten hineingeführt haben? Armes Europa!
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