Mit der Mehrbelastung der Einkommensstarken gegen die kalte Progression

Von Rudolf Hickel

26.08.2014 / www.alternative-wirtschaftspolitik.de, 15.08.2014

Beim Start in die Sommerpause hat Sigmar Gabriel einen unvermeidbaren Tabubruch in der Großen Koalition einzuleiten versucht. Der wiederbelebte Dauerbrenner kalte Progression wird wohl das nachrichtenarme Sommerloch überleben. Denn im Kern geht es um eine für die Steuergerechtigkeit wichtige Teilstrecke des Tarifverlaufs der Einkommensteuer. Einzig und allein durch den in dieser linearen Progressionszone stärkeren Anstieg der Steuerlast im Vergleich zu den zusätzlich erzielten Einkommen ist der auf der ökonomischen Leistungskraft bezogene Grundsatz gerechter Lastverteilung im deutschen Steuerrecht verankert. Da der mit wachsendem Einkommen steigende Steuersatz konstant bleibt (konstant ansteigender Grenzsteuersatz), handelt es sich um einen linearen Progressionsverlauf. Dieser beginnt mit dem Grundfreibetrag. Bis zum zu versteuernden Jahreseinkommen von 8.355 Euro für Alleinstehende werden keine Steuern erhoben (Nullzone). Die Zone der linearen Progression endet mit dem Einstieg in den Spitzensteuersatz. Nicht nur durch die mehrfache Senkung des Spitzensteuersatzes auf derzeit 42 Prozent – ab 250.731 Euro setzt die Reichensteuer mit 45 Prozent ein – sondern auch durch den heute mit

53.882 Euro frühen Einstieg der Spitzenbesteuerung ist die Strecke der an der steigenden ökonomischen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Besteuerung deutlich geschrumpft.

Viel zu wenig wird der dringliche Bedarf, den Verlauf der linearen Progressionszone zu reformieren, anerkannt. Dabei gibt es ein besonderes Ärgernis. Im Zuge der Einkommensteuerreform 1994 ist durch den damaligen Bundesfinanzminister der sog. „Waigelbuckel“ geschaffen worden. Vom Grundfreibeitrag bis zum zu versteuernden Einkommen mit 13.471 Euro für einen Alleinstehenden wächst die Belastung vom Eingangsteuersatz mit 14 Prozent sehr schnell um zehn Prozentpunkte auf 24 Prozent. Zu Recht ist die Rede vom „Kleinverdiener-Buckel“. Von dem schnellen Belastungsanstieg sind heute die vielen Teilzeitbeschäftigen, insbesondere Frauen, betroffen. Bei Alleinstehenden, deren Einkommen von 12 000 Euro aus um drei Prozent wächst, steigt die Steuerlast mit 12,2 Prozent erheblich stärker. Die künftigen Mindestlöhner werden sich schnell in dieser Steuerfalle bewegen. Diese schnell ansteigende Mehrbelastung der unteren Lohnsteuerzahler gegenüber der langsamer steigenden Belastungskurve nach dem Waigel-Knick steht im Widerspruch zum Prinzip gerechter Steuerlastverteilung nach der ökonomischen Leistungskraft.

Während der Waigel-Knick in der Diskussion kaum eine Rolle spielt, steht die Kritik der kalten Progression als Folge dieses linearen Tarifverlaufs im Mittelpunkt. Diese kalte Progression lässt sich durch die Unterscheidung zwischen der Besteuerung des nominalen Einkommens und der Entwicklung des um die Inflationsrate bereinigten Einkommens vermessen. Wächst das Lohneinkommen um drei Prozent, aber auch die Geldentwertung um denselben Prozentsatz, dann steigt die Steuerlast mit dem nominalen Einkommen. Dagegen bleibt die reale Kaufkraft der Einkommen unverändert. Für die Messung der ökonomischen Leistungsfähigkeit als Grundlage gerechter Besteuerung kann nur die Höhe des realen Einkommens genutzt werden.

Das „Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung“ hat zum 30. Juli 2014 die Studie vorgelegt: „Gute Gelegenheit: Jetzt die kalte Progression abschaffen“. Auf das Jahr 2007 bezogen, seit dem die Tarifstruktur nicht mehr verändert wurde, belaufen sich die Mehreinnahmen aus der kalten Progression bis 2014 auf 7,6 Milliarden Euro. Bezogen auf das Basisszenario von 2014 und unter Nutzung der makroökonomischen Prognose der Gemeinschaftsinstitute würde die Streichung der kalten Progression für 2015 und 2016 im Jahresdurchschnitt 3,8 Milliarden Euro an Entlastung bringen. Dabei sind die unterschiedlichen Verteilungswirkungen der kalten Progression interessant. Es zeigt sich, dass die absolute Mehrbelastung durch die kalte Progression bei den Geringverdienern recht niedrig ausfällt. Die auf das Einkommen bezogene relative Steuerbelastung fällt dagegen hoch aus. Die Abschaffung der linearen Progression würde die Jahreseinkommen zwischen 10.000 Euro und 20.000 Euro um 11,9 Prozent senken. In der Zone von 20.000 bis 30.000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen beläuft sich die durch die Streichung inflationsbedingter Steuermehreinnahmen reduzierte Steuerlast auf 14 Prozent. Über diese Einkommensgruppe hinaus nimmt zwar die absolute Entlastung der starken Steuerzahler zu, die relative Entlastung geht jedoch deutlich zurück. Bei 120.000 Euro fällt die relative Entlastung auf unter ein Prozent (absolute Entlastung um 409 Euro). Im Durchschnitt aller Steuerzahler ließen sich gegenüber dem aktuellen Tarif 98 Euro einsparen.

Reformbedarf ist gegeben. Allerdings lenkt die Debatte in der Bundesregierung um die kalte Progression vom eigentlichen Problem ab. Das gilt auch für die Wirtschaftsverbände und die marktfundamentalistischen Beratungs- und Forschungsinstitute, die sich wieder einmal als die Retter vor dem inflationsbedingten Steueranstieg aufspielen. Durch die Reduktion auf die lineare Produktion wird von einer grundlegenden Reform des gesamten Steuertarifs abgelenkt. Unbestritten, es gibt Handlungsbedarf. Diejenigen, die in die Besteuerung hineinwachsen, dürfen nicht vergleichsweise stärker besteuert werden. In einem ersten Schritt muss der „Waigel-Knick“, der die Steuerzahler in der Nähe des Grundfreibetrags besonders stark belastet, umgehend abgeschafft werden. Diese Änderung darf ernsthaft nicht mit dem Hinweis darauf, der Staat braucht jeden Euro für Infrastruktur, abgetan werden. Mit diesem Argument vernachlässigt beispielsweise Gustav Horn vom IMK die Notwendigkeit, die staatliche Finanzierung auf dem durchgängigen Prinzip der Steuergerechtigkeit zu fundieren. Die Antwort lautet: Steuerausfälle durch mehr Gerechtigkeit im unteren Lohnsteuerbereich durch Steuererhöhungen bei den Einkommensstarken zu kompensieren. Dazu muss die gesamte lineare Progression innerhalb einer gerechten und ergiebigen Neuordnung des gesamten Tarifs eingeordnet werden. Dadurch entschärft sich auch das Problem der „kalten Progression“. Auch die Forderung nach einem „Tarif auf Rädern“, der die Entwicklung der Eckwerte des Steuertarifs von der Inflationsrate abhängig macht, verliert dadurch an Bedeutung. Der Streit um die lineare Progression sollte endlich zur Reform des gesamten Tarifverlaufs der Einkommensteuer vom Grundfreibetrag bis zum Spitzensteuersatz genutzt werden. Schließlich ist der heute geltende schnelle Anstieg der linearen Progression auf einer recht kurzen Strecke durch den über viele Jahre auf 42 Prozent reduzierten Spitzensteuersatz bei ebenfalls frühem Einstieg in diese obere Zone erzeugt worden. Wer also in diesem Steuerbereich mehr Gerechtigkeit will, der muss fordern. Daher sollte vom Grundfreibetrag, dessen Höhe durch das Existenzminimum bestimmt wird, künftig die lineare Progression ohne den Waigel-Knick bis zu einem Spitzensteuersatz von mindestens 49 Prozent, den die SPD im letzten Bundestagswahlkampf gefordert hat, durchgezogen werden. Dadurch, dass künftig der Beginn der Spitzenbesteuerung auf ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 80.000 Euro angehoben wird, gelingt es, den Anstieg innerhalb der linearen Progression deutlich zu strecken. Der Anstieg der Steuersätze auf zusätzliches Einkommen verlangsamt sich.

Die Politik, die immer wieder nur den kurzen Verlauf der linearen Produktion skandaliert und gleichzeitig damit versucht, von der Gesamtreform mit einem höheren Spitzensteuersatz abzulenken, ist unaufrichtig und unzumutbar.