"Um das Beste an der EU zu retten, müssen wir das Schlimmste abschaffen"
Das Interview ist zuerst auf Französisch erschienen auf www.liberation.fr
Der Wirtschaftswissenschaftler aus dem Lager von Jean-Luc Mélenchon erläutert die Notwendigkeit, ein Machtgleichgewicht in der EU zu schaffen, und bekräftigt das Bekenntnis der Bewegung „La France insoumise“ (dt.: „Das sich nicht unterwerfende Frankreich“) zu Europa.
Der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Généreux, mitverantwortlich für das Programm von “La France insoumise” und Autor von Bonnes Raisons de voter Mélenchon (dt.: „Gute Gründe, Mélenchon zu wählen“; erschienen am 23.3.2017 beim Verlag Les Liens qui libèrent), spezifiziert die europapolitischen Pläne des Kandidaten und erläutert, warum er sich für eine Neuverhandlung der Verträge einsetzt.
Würde Mélenchon als Präsident auf europäischer Ebene alles neu verhandeln?
Jacques Généreux: Er würde sich als erstes von mehreren stupiden Vorschriften aus den europäischen Verträgen befreien. Aber um es vorwegzunehmen: Wir sind nicht europafeindlich. Wir sind das genaue Gegenteil des FN. Uns sind die Gefahren, mit denen die Europäische Union konfrontiert ist, voll und ganz bewusst, und wir möchten alles Erforderliche tun, um sie zu retten. Wir lehnen die nationalistischen und stark vereinfachenden Parolen des FN ab, der skandiert, der Euro und die EU seien schlecht und wir sollten deshalb austreten. Ja, wir fordern eine wirksame Überarbeitung der Verträge, aber nicht in Form eines Ultimatums.
Es geht also nicht um „alles oder nichts“?
Nein, natürlich nicht. Es geht ja nicht darum, den Zusammenbruch der Union herbeizuführen, sondern darum, zum Selbstverständnis der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Völkern zurückzufinden. Um das Beste der europäischen Integration zu retten, muss aber das Schlimmste abgeschafft werden, nämlich der durch Steuer- und Sozialdumping verursachte Wirtschaftskrieg sowie die stupide Besessenheit vom ausgeglichenen Haushalt, die eine wirksame Wirtschaftspolitik untersagt. In dieser Sache werden wir nicht nachgeben, denn stellt man das nicht in Frage, ist die Union zum Scheitern verurteilt. Wir müssen begreifen, in welchem Ausmaß die Eurozone dem Wahnsinn verfallen ist. Die vermeintlich proeuropäischen Regierungen haben die Eurozone mit ihren tollen Rettungsplänen nicht gerettet, sie haben sie vielmehr wirtschaftlich und menschlich zugrunde gerichtet. Man muss wohl niemanden daran erinnern, wie die Griechen behandelt worden sind.
Aber wie soll denjenigen, die versucht sind, der Idee eines geeinten Europas den Rücken zu kehren, neue Hoffnung vermittelt werden?
Wir müssen wieder und wieder erklären, in welchem Ausmaß das zynisch-egoistische und brutale Krisenmanagement für die wachsende Entfremdung von Europa verantwortlich ist. Denn dieses Krisenmanagement hat dem Gefühl der Solidarität und der gemeinsamen Interessen der Völker erheblich geschadet. Die Verantwortlichen dieser Politik haben den Nationalisten Tür und Tor geöffnet. Öffnen wir doch die Augen: Die derzeitigen Regierungen sind längst aus der Europäischen Union ausgetreten. Sie retten, was zu retten ist, ihre Banken, ihre Handelsbilanzen, da sie nicht mehr für andere zahlen wollen, da sie nichts mehr gemeinsam und für alle tun wollen.
Sie sind der Ansicht, dass uns Schlimmes bevorsteht, wenn wir so weitermachen…
Ja, weil unsere Union vor dem Zerfall steht. Es stellt sich somit nicht mehr die Frage, ob man aus einer bereits leblosen Union austreten sollte oder nicht. Vielmehr geht es darum, wie einem echten Projekt der europäischen Zusammenarbeit neues Leben eingehaucht werden kann. Wir sind nicht nur mit nationalistischen, fremdenfeindlichen Ansichten konfrontiert, sondern auch mit den Denkweisen der Arbeiterklasse, die eigentlich nicht fremdenfeindlich oder rassistisch ist, aber vor der Erkenntnis steht, dass dieses Europa nicht mehr für Frieden und Fortschritt, sondern für sozialen Rückschritt und Rivalität zwischen den Nationen steht. Denken Sie nur an die berühmte Entsenderichtlinie. Sie zeigt konkret auf, inwieweit die EU ein Europa des gegenseitigen Wettbewerbs der Arbeiternehmer ist. Genauso werden europa- bzw. fremdenfeindliche Denkweisen geschürt.
Inwiefern unterscheidet sich Ihre Vision von Europa von derjenigen der anderen Kandidaten?
Die „Republikaner“ oder „En Marche” wollen nichts ändern. Der FN will alles zerschlagen und die Sozialisten glauben an Wunder, in der Hoffnung, dass eines Tages Europa ganz links stehen wird und man sich einstimmig auf eine fortschrittliche Neugestaltung Europas einigen wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Linke Ende der Neunzigerjahre in der Mehrheit war. Doch sie stand damals im Zeichen von Tony Blairs „Drittem Weg” bzw. Gerhard Schröders „Neuer Mitte”. Eine Linke, die von den Wohltaten des Markts überzeugt war und die demokratische und soziale Neuausrichtung der Union und des Euro nie in Angriff genommen hat.
Was läuft denn grundlegend falsch?
Nehmen wir einmal das Thema der einheitlichen Währung. Man hat den Staaten das Instrument der Wechselkurse und der Geldpolitik genommen und ihre fiskalpolitischen Spielräume unaufhörlich weiter eingeschränkt. Folglich bleibt den Ländern der Eurozone gar keine andere Möglichkeit, als ihre Wirtschaft durch Steuer- und Sozialdumping zu stützen. Wetteifern nun alle Staaten um die Wettbewerbsfähigkeit, und zwar zulasten ihrer Nachbarn, so führt dies schlussendlich nur zu einem Europa, das in der Stagnation feststeckt. Allen Ökonomen ist bewusst, dass der Euro nicht tragfähig ist, wenn diese gravierende Fehlentwicklung nicht behoben wird.
Wie also sollte dieses Europa neu gestaltet werden?
Wir müssen die Fiskalpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten wieder flexibler gestalten, indem wir Schulden zur Finanzierung von Investitionen und Defizite in einer Rezession zulassen. Und wir bräuchten auch einen echten europäischen Haushalt, über den eine kohärente europäische Industriepolitik zur Förderung der ökologischen Wende und technologischer Innovationen durchgeführt werden kann. Die Europäische Zentralbank muss so reformiert werden, dass eine direkte Staatsfinanzierung möglich wird. Vor allem muss eine Harmonisierung der Steuer- und Sozialpolitik auf den Weg gebracht werden, um die für die Union verheerende Praxis des Dumping zu stoppen.
Aber warum wollen Sie die europäischen Verträge missachten?
Weil es der einzige Weg ist, dem Wählerwillen unserer Bürger wieder Bedeutung zu verleihen und die anderen Staaten zu einer Reform der EU zu zwingen. Weil Frankreich das große Land ist, das das nötige Gewicht und den nötigen Einfluss hat, um einen solchen Schock auszulösen. Wenn wir uns damit begnügen, unsere Partner freundlich um Verhandlungen zu bitten, wird nichts passieren. Unsere Botschaft lautet deshalb: Frankreich jedenfalls wird nicht zögern, einseitige Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Verhandlungen nicht vorankommen.
Was wollen Sie konkret tun, wenn Sie an der Macht sind, um die Grundlagen dieses von Ihnen ersehnten neuen Europas zu schaffen?
Wir werden unseren Partnern und den EU-Institutionen ein Memorandum schicken, in dem das Vorgehen Frankreichs erläutert wird. Dieses Memorandum soll veröffentlicht, übersetzt und in allen Ländern der Union verbreitet werden. Es geht nicht darum, ein Europa vorzuschlagen, das allein auf Frankreich zugeschnitten ist. Und wir werden unsere Teilhabe an der Union auch nicht von der Erfüllung rein französischer Forderungen abhängig machen. Wir wollen lediglich wieder den Weg einer echten Union der Völker, und nicht der Märkte, beschreiten, einer Union, die sich auf Kooperation und Solidarität, und nicht auf Wirtschaftskriege stützt, wo wir doch heute in eine Rivalität zwischen Nationen zurückfallen. Wir werden die nötigen Zugeständnisse machen, sofern sie zu einem Kurswechsel beitragen.
Keine einseitigen Maßnahmen?
Doch, natürlich. Wir werden nicht den Abschluss der Verhandlungen abwarten, um den Kapitalverkehr zu kontrollieren und uns vor Steuervermeidung oder vergifteten Finanzprodukten zu schützen. Wir werden nicht die Aufnahme von Verhandlungen abwarten, um den 2012 verabschiedeten Fiskalvertrag (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) zu kündigen, und wir werden auch die Anwendung der Arbeitnehmer-Entsenderichtlinien beenden. Wir werden die Liberalisierung der Daseinsvorsorge stoppen. In Bezug auf den Welthandel werden wir die Ratifizierung von Freihandelsabkommen wie TTIP mit den Vereinigten Staaten oder CETA mit Kanada verweigern, und wir werden alles daran setzen, dass die EU innerhalb der Welthandelsorganisation endlich mit einer Stimme spricht und dass ein solidarischer Protektionismus eingeführt wird.
Ist das die Strategie des Machtgleichgewichts?
Ja. Und was setzen wir schon aufs Spiel, wenn wir einige Bestimmungen der Verträge nicht einhalten? Nichts. Ein Mitgliedstaat kann den Austritt aus der Union auf eigenen Wunsch beantragen, aber niemand kann ein Land aus der EU oder der Eurozone herausdrängen. Niemand wird versuchen, Frankreich auszuschließen, weil das das Ende des Euro und das Ende der EU bedeuten würde.
Nicht einmal Deutschland?
Vor allem nicht Deutschland, denn es ist in einer Wachstumsstrategie gefangen, die allein auf Exporte setzt. Und solange der Euro da ist, ist Deutschland vor wettbewerbsbedingten Abwertungen der anderen großen europäischen Länder geschützt. Schlimmstenfalls drohen Frankreich wegen der Verletzung der Fiskalvorschriften finanzielle Bußgelder. Wir haben sowohl die Mittel, diese zu bezahlen, als auch die Möglichkeit, es nicht zu tun.
Würden Sie den Euro verlassen?
Wenn wir nur wählen könnten zwischen der bedingungslosen Unterwerfung unter vergiftete Verträge oder der Rückkehr zur Währungssouveränität, dann würden wir das französische Volk entscheiden lassen. Aber wir haben noch eine andere Option, weil wir nicht in der Lage Griechenlands sind und weil niemand will, dass Frankreich aus irgendetwas ausscheidet, denn das wäre, ich wiederhole mich, einfach nur das Ende des Euro und das Ende der EU. Frankreich kann formal in der Eurozone bleiben, aber gleichzeitig Maßnahmen treffen und sich Freiheiten schaffen, die eine andere Politik ermöglichen. Das ist der beste Weg, um viele andere Partner, vor allem aus Südeuropa, zu überzeugen, es uns gleichzutun und sich im Hinblick auf eine Neugestaltung der Union mit uns zu verbünden.
Was halten Sie von dem Vorschlag eines neuen Vertrags für ein demokratischeres Europa?
Das ist eine gute, alte Forderung der Linken. Aber im gegenwärtigen Zustand der Uneinigkeit ist das nur ein schöner Traum. Und selbst wenn wir eines Tages diese berühmte parlamentarische Versammlung der Eurozone hätten, welche Befugnisse hätte sie, um Europa einen neuen Kurs zu geben, wenn sie sich mehrheitlich aus Abgeordneten des rechten Spektrums oder des „falschen“ linken Spektrums der Mitte zusammensetzt, die bis heute das Europa der Märkte unterstützen? Nein, ich glaube, dass vor allem ein Machtgleichgewicht geschaffen werden muss. Und zwar schnell: Die Zeit drängt.
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