Regelsätze Hartz IV: Vor allem Kinder sind Leidtragende
Interview mit Diana Golze
In dieser Woche wird der Antrag der Fraktion DIE LINKE »Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze« im Bundestag verhandelt. Was ist der Hintergrund für diese Initiative?
Die Einführung des Arbeitslosengeldes II im Jahr 2005 stellt einen der krassesten sozialpolitischen Einschnitte in der Geschichte Deutschlands dar. Davon betroffen sind nicht nur Erwerbslose. Vor allem Kinder sind Leidtragende eines Gesetzes, das mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat. Unsere Kritik an den Regelsätzen für unter 18-Jährige lautet vor allem, dass sie sich nicht aus den Bedürfnissen und Bedarfen von Kindern und Jugendlichen zusammensetzen. Willkürlich wurde der ohnehin zu niedrige Regelsatz eines alleinstehenden Erwachsenen als Grundlage genommen und dann prozentual auf Kinder und Jugendliche reduziert. Ein Kind bekommt 60 beziehungsweise 70 Prozent dessen, was einem Erwachsenen zugestanden wird. Das hat mit dem Leben von Kindern nichts gemein.
Was bedeuten diese Gesetze für Kinder und Jugendliche?
Höhere Ausgaben für Schule, Kindergarten, Musikschulen, Nachhilfestunden sind genauso wenig berücksichtigt wie ein anderer Bedarf an Buntstiften und Schulmaterialien. Das heißt, dass nicht berücksichtigt wurde, dass Kinder und Jugendliche durch ihr Heranwachsen häufiger als Erwachsene Kleidung brauchen und für sie eine gesunde und ausreichende Ernährung von immenser Bedeutung ist. Für letzteres sieht der Regelsatz gerade mal drei Euro pro Tag vor. Und auch wenn sich verschiedene Politikerinnen und Politiker und die Presse noch so viel Mühe mit Erklärungen geben: Mit drei Euro kann man ein Kind nicht ausreichend und vor allem gesund ernähren. Darum sind die bisherigen Regelsätze für uns Armutssätze!
Was sind aus Sicht der Fraktion DIE LINKE die gesellschaftlichen Auswirkungen?
Seit der Einführung des ALG II beziehungsweise von Hartz IV ist nachweisbar die Kinderarmut um ein Vielfaches gestiegen. Im September 2009 lebten drei Millionen Kinder und Jugendliche auf Armutsniveau. Das ist ein Anstieg von einer halben Million Menschen im Vergleich zum Vorjahr!
Wie steht es um die Rechte der Kinder und Jugendlichen?
Wenn Ernährung, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe in einem Regelsatz nicht vorgesehen sind, bedeutet das, dass Kinder in ihren Entwicklungsmöglichkeiten ausgegrenzt werden. Wenn sich Familien von Hartz IV höchstens bis zum 20. des Monats ernähren können, wenn Kinder deshalb hungrig in die Schule oder Kita kommen, wenn sie in Tafeln oder Suppenküchen Schlange stehen müssen - dann bedeutet das, dass hier das Kindeswohl von staatlicher Seite verletzt wird. Wenn man diese Kinder durch ein ausgrenzendes Bildungssystem von vorn herein um ihre Zukunft bringt, dann bedeutet das die Verletzung des Rechtes auf Bildung. Solange Armut den Bildungserfolg massiv beeinflusst, kann niemand ernsthaft von Chancengleichheit sprechen. Drei Millionen Kinder in Armut bedeutet drei Millionen Kinder, denen von der Gesellschaft die Grundsteine für die Zukunft verwehrt werden!
Was ist aus Sicht der Fraktion DIE LINKE kurzfristig möglich, um diese Entwicklung zumindest anzuhalten?
Uns ist natürlich klar, dass die Erhebung eines Regelsatzes, der den Bedarfen eines Kindes gerecht wird und die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe widerspiegelt, nicht von heute auf morgen geschehen kann und wird. Darum haben wir auch einen Lösungsvorschlag gemacht, der kurzfristig umsetzbar ist: In einem ersten Schritt müssen die Regelsätze für unter 18-Jährige umgehend angehoben werden.
Wie hoch sollten diese Regelsätze sein?
Konkret sollen die Regelleistungen für Kinder entsprechend einer Bedarfsermittlung durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband festgelegt werden: Kinder unter sechs Jahren sollen monatlich 276 Euro, Kinder zwischen 6 und 14 Jahren sollen 332 Euro und Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren sollen monatlich 358 Euro erhalten. Diese Änderungen sind innerhalb kürzester Zeit möglich. Dass das geht, hat der ehemalige Arbeitsminister Scholz bewiesen: Im Wahlkampf hat er die Regelsätze für 6- bis 13-Jährige um zehn Prozent angehoben. Auch wenn diese Anhebung noch nicht einmal ansatzweise ausreichend war, zeigt sie doch deutlich, dass reagiert wird, wenn der Druck entsprechend hoch ist.
Woher nimmt DIE LINKE die Zuversicht, dass solche ersten Schritte auch gegangen werden? Haben sich durch die Ergebnisse der Bundestagswahl im September die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Bekämpfung von Kinderarmut verändert?
Wenn man den Wahlversprechen Glauben schenken würde, dann schon. Aber bereits die Behandlung unseres Antrages im Fachausschuss hat deutlich gemacht, dass sich in dieser Frage keine grundsätzlichen Veränderungen abzeichnen. Einen derart weitreichenden Antrag brachte nur eine einzige Fraktion ein: DIE LINKE. Die breite Mehrheit aus CDU, CSU, FDP und SPD stimmte aber gegen unseren Antrag! Zuversicht schöpfen wir aus dem immer größer werdenden Bündnis gegen Kinderarmut, das aus Vereinen, Verbänden und anderen Initiativen besteht und für einen wachsenden gesellschaftlichen Druck sorgt. Hoffnung setzten wir auch in eine baldige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das sich zurzeit mit der Frage der Zusammensetzung des Kinderregelsatzes befasst. Auch wenn es mich traurig stimmt, dass einmal mehr Gerichte Politik machen müssen, ist es den vielen unermüdlich gegen diese Armutsgesetze kämpfenden Menschen zu verdanken, dass diese Entscheidung ansteht.
Was fordert DIE LINKE langfristig?
DIE LINKE bekennt sich weiterhin zu der Idee einer individuellen und bedarfsorientierten Kindergrundsicherung als eigenständiges soziales Sicherungssystem für alle in der Bundesrepublik lebenden Kinder. Nur wenn wir Kinder als eigenständige Bevölkerungsgruppe mit eigenständigen Ansprüchen anerkennen und diese erfüllen, werden wir Kinderarmut dauerhaft und wirkungsvoll bekämpfen und verhindern.
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