Grün schlägt Schwarz
Von Albrecht von Lucke, Aus: Blätter für deutsche und internationale Politik Heft 1/2011
1997 machte „Grün schlägt rot“ Furore, das Buch der beiden US-Politikwissenschaftler Andrei Markovits und Philip Goski über die deutsche Linke nach 1945. Seine Kernthese: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die deutsche Sozialdemokratie immer weniger in der Lage, das gesamte linke Spektrum zu integrieren. Folge dieser Schwäche war nicht nur die Entstehung der APO, sondern auch das Aufkommen und Erstarken der neuen sozialen Bewegungen bis hin zur Gründung der Grünen.
2011 könnte sich der Titel des Buches gleich zweimal bewahrheiten: Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Berlin könnte „Grün“ „Rot“ schlagen und die Sozialdemokratie damit ihre angestammte Führungsposition im Parteienspektrum links von der Mitte verlieren. Erstmalig liegen die Grünen in Meinungsumfragen bundesweit fast gleichauf mit der SPD,und in den Prognosen für die beiden Landtagswahlen rangieren die grünen Spitzenkandidaten, Winfried Kretschmann und Renate Künast, teils klar, teils knapp vor ihren sozialdemokratischen Konkurrenten.
Tatsächlich erlebt das Land derzeit sein „grünes Wunder“, die Umfragewerte der einstigen Antiparteienpartei wachsen seit Monaten förmlich durch die Decke. Dagegen gibt es offenbar für ihre Konkurrenten nur ein Mittel: mit den Grünen zu koalieren. Nur die Regierungsbeteiligung, so die Ironie der Geschichte, könnte die Partei wieder dezimieren. Die SPD hat diese allgemeingültige Lektion in ihrer eigenen elfjährigen Regierungszeit schmerzlich lernen müssen, und für die FDP scheinen schon wenige Monate an der Regierung zu reichen, um erneut zur Fünfprozentpartei zu schrumpfen.
An einer Regierungsbeteiligung der Grünen zwecks deren Schwächung haben somit sowohl Sozialdemokraten als auch Union ein Interesse. Die entscheidende Frage der nächsten Jahre, durchaus bereits mit Blick auf die Bundestagswahl 2013, lautet daher: Wer koaliert künftig mit den Grünen?
Das Ende der Merkelschen Demobilisierungsstrategie
Hier aber liegt die eigentliche Ironie der Analyse von Markovits und Goski. Denn bei der sozialdemokratischen Verlustgeschichte nach 1945 handelt es sich bloß um die eine Seite der Medaille. Weit wichtiger ist hingegen die andere Seite, die eine überraschende Chance für die Linke bedeutet: Das Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen hat nämlich das linke Spektrum insgesamt verbreitert. Infolge des postmateriellen Wertewandels ist Rot-Grün nicht nur aus der deutschen Politik nicht mehr wegzudenken, sondern Rot-Grün ist laut Markovits/Goski zum strukturell überlegenen Koalitions- und Regierungsmodell geworden, während die Ära der Konservativen unweigerlich ihrem Ende entgegengeht.
Der aktuelle Höhenflug der Grünen gibt dieser Prognose Recht. Er entpuppt sich als ein Höhenflug zugunsten des Mitte-Links-Lagers insgesamt und zu Lasten von Union und FDP. Tatsächlich liegt hier der Kern der aktuellen Auseinandersetzung.
Lange Zeit hatte Angela Merkel aus der faktischen Linksverschiebung der Bevölkerungsmentalität die Konsequenz gezogen, selbst nach links zu wandern – allerdings keineswegs mit prozentualem Erfolg, wie die seit 2002 kontinuierlich sinkenden Unions-Ergebnisse verdeutlichen (von 38,5 Prozent für Edmund Stoiber (!) 2002 über 35,2 Prozent für Angela Merkel 2005 bis zu 33,8 Prozent 2009). Allein der enorme Zugewinn der FDP brachte bei der letzten Bundestagswahl den Wahlsieg. Doch dieses Hoch ist offenbar unwiederbringlich vorbei, auch daher rührt der erstaunliche Strategiewechsel der Kanzlerin. Angela Merkel hat erkannt, dass sie ihre Politik der „asymmetrischen Demobilisierung“[1] überreizt hat – nämlich bis zur massiven Demobilisierung der eigenen Anhänger. Klare Kante lautet daher seit diesem „Herbst der Entscheidungen“ die Maxime. So wie Gerhard Schröder ein Jahr nach seiner Wiederwahl tritt die Kanzlerin die Flucht nach vorne an – mit erheblichen Folgekosten. Obwohl sie die Grünen aufgrund des Ausfalls der FDP stärker denn je als künftigen Koalitionspartner benötigt, geht sie auf klaren Konfrontationskurs. Heute bezeichnet Merkel die einst von ihr selbst betriebene Öffnung für schwarz-grüne Koalitionen als „Hirngespinst“, um mit der Koalitionsaufkündigung durch die Grünen in Hamburg für diese neue Lagerstrategie prompt die Quittung zu erhalten.
Die Bundeskanzlerin geht mit dieser Wette gegen Schwarz-Grün und auf alleinigen Sieg der „bürgerlichen Wunschkoalition“ ein enormes Risiko ein. Ihre konservative Wende des Jahres 2010, die von der Verlängerung der AKW-Laufzeiten ihren Ausgang nahm, könnte zur Agenda 2010 der Angela Merkel werden. Denn eines hat sich seit dem Buch von Markovits und Goski entscheidend geändert: Anders als noch 1997 stehen die Grünen heute nicht mehr links von der SPD, sondern in der Mitte des Parteienspektrums. Unter dem neuen Leitbegriff des Green New Deal definieren sie sich als die eigentliche Partei der ökologischen wie ökonomischen Vernunft, die auch Union und FDP erfolgreich Stimmen abjagt.
Zweierlei Bürgerlichkeit
Damit geht es in den kommenden Jahren auch um die Frage, welches Modell von Bürgerlichkeit die Deutungshoheit gewinnt: ein reines Klientelbürgertum, wie es primär von der FDP verkörpert wird, oder ein aufgeklärtes, durchaus links-liberales Bürgertum mit dem Anspruch auf eine sozial-ökologische Umgestaltung der Gesellschaft. Schwarz-Gelb ist noch einmal, soweit die Bilanz des ersten Jahres, der Sieg des materialistischen bourgeois. Die Regierungspolitik entpuppte sich als reiner Klientelismus, ob für Hoteliers oder AKW-Betreiber. Man operiert dezidiert mit Ressentiments gegenüber sozial Schwächeren, denen man „spätrömische Dekadenz“ (Guido Westerwelle) vorwirft, während man ihnen bei Hartz IV das existenzielle Minimum vorenthält, trotz eindeutiger Rüge durch das Bundesverfassungsgericht.
Die Grünen dagegen bedienen, wie ihnen gerne vorgehalten wird, ebenfalls eine Klientel, nämlich gerade die Klientel jener, die keine (oder zumindest nicht primär) Klientelpolitik wünschen, sondern eine am Gemeinwohl orientierte Politik. Damit zielen sie auf den citoyen als den politisch engagierten Zeitgenossen und werden zum Profiteur jener neuen Politisierung, deren Vorschein man soeben in Stuttgart und Gorleben erleben konnte. Dort gingen auch zutiefst bürgerliche Menschen (teilweise erstmalig) auf die Straße und auf die Schienen. Dieser neue Wettstreit zwischen Schwarz und Grün um das bürgerliche Lager hat erhebliche Konsequenzen für die Linke insgesamt, birgt aber auch ganz neue strategische Optionen. Damit endet die Ära der selbstverständlichen Vorherrschaft der SPD im links-bürgerlichen Lager. Das, was die SPD schon seit geraumer Zeit immer weniger leistet, die Ansprache und Integration der aufgeklärten Mittelschichten, übernehmen die Grünen. Heute kommt zum Abschluss, was in den 80er Jahren begann: die Absetzung der aufgeklärten bürgerlichen Schichten von der rein fortschrittsfixierten Helmut-Schmidt-SPD, die sich zum Leidwesen Erhard Epplers und Willy Brandts gegenüber den neuen ökologischen Fragen als völlig unsensibel erwies. Damals bereits verlor die SPD jene Zwischengeneration der links-bürgerlichen Nach-68er, der „Zaungäste“ von Wackersdorf und Startbahn West, die ihr heute so sehr fehlen.
Die SPD als linke Zweitpartei
Auf Seiten der Union hat man den fundamentalen Angriff dieser neuen, anderen Bürgerlichen auf die kulturelle Hegemonie bereits begriffen. Daher auch die konzertierten Attacken von CDU, CSU und FDP gegen die Grünen. Die SPD ist dagegen offenbar noch nicht so weit, diese Situation als eine Chance zu ihren Gunsten zu begreifen.
Insgesamt fährt die SPD unter Sigmar Gabriel eine merkwürdige Doppelstrategie: Einerseits lobt der Parteivorsitzende die Grünen als neue und einzige originär liberale Partei (nach dem Abdriften der FDP), andererseits stimmt er in den großen Chor derer ein, die die Grünen als bloße Wohlfühlpartei kritisieren. Einerseits versucht der omnipräsente Parteivorsitzende wieder Terrain auf der Linken gutzumachen, vornehmlich durch Korrekturen an Hartz IV und mit hartem Protest gegen die schwarz-gelbe Atompolitik, andererseits zielt er mit seinen populistischen Attacken auf Migranten („Wer seine Kinder nicht regelmäßig und pünktlich in die Schule schickt, dem schicken wir die Polizei vorbei“) genau auf die von einer liberalen Merkel-Union enttäuschten autoritären Konservativen. Mit diesem prekären Manöver will er offenbar jene Prozente zurückgewinnen, die die SPD 2009 in der Mitte verloren hat, und zudem jene empörten Parteimitglieder besänftigen, die ihm seine entschlossene Haltung gegenüber Thilo Sarrazin übel nehmen.
Ungeachtet der programmatischen Defizite der SPD spricht angesichts des rasanten Verblassens nicht nur der schwarz-gelben, sondern auch der schwarz-grünen Blütenträume dennoch einiges dafür, dass das linke Lager schon bald wieder – zumindest prozentual – hegemoniefähig sein könnte. Das aber setzt voraus, dass es ihm gelingt, sein ganzes Wählerspektrum auszuschöpfen. Dies verlangt vor allem zweierlei: einen fairen Umgang aller drei Parteien miteinander und die Bereitschaft, im Zweifelsfall mit- statt gegeneinander zu koalieren. Immer getreu der alten, bisher aber primär von CDU/CSU und FDP befolgten Devise: „Getrennt marschieren, vereint schlagen“.
Dafür aber müssten alle drei Parteien die neue Lage akzeptieren. Denn ein Weiteres konnten selbst Markovits und Goski 1997 nicht voraussehen: Rot-Grün und die folgende große Koalition haben die parteipolitische Lage im Lande radikal verändert. Durch die Gründung der Linkspartei ist die SPD im Osten, abgesehen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, zur linken Zweitpartei geworden. Nun aber droht ihr dasselbe auch im Westen. Während die SPD seit dem Absturz auf 23 Prozent bei der Bundestagswahl um ihren Status als Volkspartei bangen muss, liebäugeln die Grünen mit ebenjenem.
Insofern verlangt die neue Lage der SPD eindeutig am meisten ab, nämlich die grundsätzliche Akzeptanz einer neuen Gleichberechtigung, bei welcher, von Fall zu Fall, die jeweils stärkste Partei die Führung übernimmt. In Baden-Württemberg kommen die Grünen nach neuesten Umfragen auf 27 und die Sozialdemokraten auf 19 Prozent; noch haben sie – ungeachtet der Geißlerschen Befriedung der Lage zugunsten der Union – durchaus Chancen, Ministerpräsident Stefan Mappus am 27. März abzulösen und erstmalig in der Geschichte die CDU zu bezwingen. Immerhin hat die SPD bereits erklärt, dass sie in diesem Fall den grünen Spitzenkandidaten mitwählen würde. Hier könnte sich zeigen, wie lernfähig die geschrumpfte SPD zukünftig ist – und damit auch wie macht- und koalitionsfähig. Vielleicht wird es ihr ja durch den wahrscheinlichen Erfolg von Olaf Scholz bei der Neuwahl in Hamburg am 20. Februar erleichtert, an anderer Stelle die veränderte Lage zu akzeptieren – möglicherweise auch bei der kommenden Hauptstadtwahl.
Auch wenn die Linkspartei dort durch den Wettstreit zwischen Wowereit-SPD und Künast-Grünen zerrieben zu werden droht: Sie könnte der eigentliche Nutzießer des Kampfes von Grünen und SPD um die Vorreiterrolle in der linken Mitte werden. Denn damit machen beide den dezidiert linken, kapitalismuskritischen Platz im Parteienspektrum frei. Bereits jetzt wird den Grünen, teilweise durchaus zu Unrecht, eine neue Beliebigkeit vorgeworfen. Doch tatsächlich datiert die letzte radikal-ökologische Entscheidung – die legendäre (und ökologisch immer noch gebotene) Forderung nach einem Benzinpreis von fünf DM – noch aus dem Wahljahr 1998. Offenbar wirkt der Schock des immensen medialen Gegenwindes bis heute nach. Man darf daher bereits gespannt sein, wie sich die einst dezidiert linke Renate Künast im Hauptstadt-Wahlkampf als moderierende Bürgermeisterin aller Berliner präsentieren wird, ohne ihre alternative Kernklientel dabei allzu sehr zu verprellen. In jüngster Vergangenheit hat die Fraktionsvorsitzende ihre Grünen jedenfalls bereits vorsorglich und ganz neu-mittig als „Partei des Bürgertums“ definiert. In der entstehenden linken Leerstelle läge die Chance für eine moderne Linkspartei auf der Höhe der Zeit und ihrer radikal-ökologischen wie sozialen Reformerfordernisse. Dafür aber müsste „Die Linke“ ihren Wandel von der bloßen Anti-SPD-Partei zur echten diskursiven Programmpartei massiv vorantreiben. Leider kann davon derzeit nicht die Rede sein. Im Gegenteil: In der öffentlichen Debatte findet ihre Programmdiskussion faktisch nicht statt.
Am Ende könnte es aber, wieder einmal, gerade auf Die Linke ankommen. Wie schon 2005 könnten es die Prozente der Linkspartei sein, die in den Umfragen erstaunlich konstant bei rund zehn Prozent rangiert, welche zu einer Koalition der linken Mitte erforderlich sind. Sollte es erneut nicht dazu kommen, liegt die Alternative auf der Hand: Wird es wieder nichts mit Rot-Rot-Grün, könnten die Grünen doch noch ins konservative Lager wechseln.
Das kommende Superwahljahr 2011 mit seinen inzwischen sieben Landtagswahlen wird für die Positionierung mit Blick auf 2013 von vorentscheidender Bedeutung sein. Doch noch sind es drei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl. Bis dahin werden wir noch so manche Wiederannäherung und -entfernung von Grünen und Union erleben. Bereits jetzt unternehmen jedenfalls die Anhänger speziell des frisch gewählten stellvertretenden Parteivorsitzenden Norbert Röttgen alle Anstalten, die Merkelsche Absage an das schwarz-grüne „Hirngespinst“ als bloße Missinterpretation zu interpretieren, um auf diese Weise der CDU keine Koalitionsoptionen zu verbauen.[2]
Fest steht jedenfalls eins: Sollte es 2013 keine linke Regierungsalternative geben und die FDP unter zehn Prozent landen, womit sie als Koalitionspartner der Union ausfiele, dann dürften die Angebote der Union letztlich so verlockend sein, dass die Grünen – „aus Verantwortung für das Land“ – nicht widerstehen werden. So bürgerlich-machtbewusst ist die Partei inzwischen allemal – allen schwarz-grünen Konflikten zum Trotz.
[1] Vgl. Albrecht von Lucke, Zehn Jahre Merkel und das Dilemma der CDU, in: „Blätter“, 4/2010, S. 5-9.
[2] Vgl. Matthias Geis, Tausendmal berührt. Und Schwarz-Grün kommt doch, in: „Die Zeit“, 2.12.2010; Günter Bannas, Die Ansage als Absage an die Absage, in: „FAZ“, 26.11.2010.
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