Sächsische Staatsanwaltschaft verstößt gegen das Bestimmtheits- und Rückwirkungsverbot

Folgerungen aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes beim Deutschen Bundestag

07.10.2011 / Karl Nolle*, MdL Sachsen (SPD) auf www.jenapolis.de

Berlin. Wissenschaftlicher Dienst: Rechtswidrige Strafverfolgung – Staatsanwaltschaft verstößt gegen das Bestimmtheits- und Rückwirkungsverbot

1. Hintergrund
Der Sächsische Landtag hat am 20. Januar 2010 das Gesetz über die landesrechtliche Geltung des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (SächsVersG) erlassen. Bis dahin galt in Sachsen nach Art. 125 a I GG das Versammlungsgesetz des Bundes.

Das SächsVersG sah in § 21 einen Strafrahmen bis zu zwei Jahren vor. Das VersG des Bundes indes sah für dieselbe Tathandlung in § 21 einen Strafrahmen bis zu drei Jahren vor.

Der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat mit Urteil vom 19.04.2011 SächsVersG für „mit Art. 70 Abs. 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen unvereinbar und nichtig“ erklärt. Es hat von einer befristeten Weitergeltungsanordnung (bspw. bis der Gesetzgeber ein neues Gesetz erlässt) abgesehen, weil es davon ausging, dass „mit der Nichtigkeit des Artikelgesetzes das Versammlungsgesetz des Bundes wieder Wirksamkeit entfaltet“.

2. Rechtswidrigkeit der Ermittlungs- bzw. Strafverfahren
Die Staatsanwaltschaft Dresden hat infolge der Ereignisse am 19.02.2011 (Proteste gegen einen Neonazi-Aufmarsch) auf Grundlage des § 21 VersG des Bundes Ermittlungsverfahren gegen zahlreiche AntifaschistInnen eingeleitet. Gegen einige mutmaßliche BlockiererInnen wurde bereits Anklage erhoben.
Diese Verfahren sind rechtswidrig, die Angeklagten sind freizusprechen. Die noch nicht zur Anklage gebrachten Ermittlungsverfahren sind nach § 170 II StPO unverzüglich einzustellen. Zu diesem Ergebnis kam nun auch der Wissenschaftliche Dienst in seiner Ausarbeitung für der Abgeordneten Wolfgang Neskovic (WD 3 – 30000 – 308/11).

Eine Strafbarkeit lässt sich weder mit dem sächsischen noch mit dem Bundesversammlungsgesetz begründen.

Das sächsische Versammlungsgesetz gilt laut WD seit dem Urteil des Verfassungsgerichts „als von Anfang an nicht existent und kann daher nicht mehr Grundlage strafrechtlicher Ermittlungen und Verurteilungen sein“ (S. 14). Dies ergibt sich daraus, dass auch die Staatsanwaltschaft gemäß Art. 20 III GG an Recht und Gesetz gebunden ist, sie darf also ab dem Zeitpunkt der Nichtigerklärung ein nichtiges Gesetz nicht mehr anwenden.

Eine Strafbarkeit lässt sich aber – entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft – auch nicht mit dem Versammlungsgesetz des Bundes begründen. Dem steht nämlich das Bestimmtheits- und Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG entgegen. Für die mutmaßlichen BlockiererInnen war am 19. Februar 2011 ein Strafrahmen von bis zu drei Jahren nicht vorhersehbar (Bestimmtheitsgebot). Eine Anwendung des schärferen § 21 VersG (Bund) verstieße zudem auch gegen das Rückwirkungsgebot. Dieses verbietet nämlich im Hinblick auf den Vertrauensschutz nicht nur eine schärfere Bestrafung aufgrund einer strafschärfenden Gesetzesänderung nach Tatbegehung, sondern auch aufgrund der verfassungsgerichtlichen Nichtigerklärung eines milderen Gesetzes.

Damit ist seit der Nichtigerklärung eine Strafverfolgung jedenfalls für den Zeitraum zwischen Verkündung und Nichtigerklärung, d.h. zwischen dem 20.01.2010 und 19.04.2011, unzulässig.

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* Karl Nolle ist Mitglied im Immunitätsausschuß des Sächsischen Landtages sowie SPD-Obmann im Untersuchungsausschuß "Sachsensumpf"