Schuldenbremse: Kein Beitrag zur Vertrauensbildung im Euroraum
IMK: Mehr als 70 Varianten zur Defizitberechnung möglich.
Den Euroländern wird eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild als Weg aus der Krise empfohlen. Dies wäre jedoch gefährlich - für die Konjunktur, die Staatsfinanzen und sogar für die Finanzmärkte. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung in einer Detailanalyse der Schuldenbremse. Sie sei "gestaltungsanfällig und prozyklisch", warnen die IMK-Forscher Dr. Achim Truger und Henner Will - und ihr Export nicht geeignet, einen Beitrag zur Lösung der Krise im Euroraum zu leisten.
Die Bundesrepublik hat es sich selbst auferlegt: das Verbot, über einen relativ eng gesteckten Rahmen hinaus neue Schulden aufzunehmen. Sorgen solch strenge Regeln in Sachen Staatsverschuldung für mehr Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten? Könnten sie also ein Vorbild sein für Länder wie Griechenland, Portugal oder Spanien? "Wir halten diese Logik grundsätzlich für falsch und für den Fortbestand des Euro extrem gefährlich", schreiben Truger und Will.
Grundsätzlich falsch sei sie, "weil sie die Ursachen der Eurokrise in unzulässiger Weise auf eine unsolide Finanzpolitik in den gegenwärtigen Krisenstaaten verengt", erläutern die beiden Volkswirte. Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte sowie die Verantwortung der gegenwärtig wirtschaftlich stärkeren Euroländer würden fast vollständig ausgeblendet. Darüber hinaus habe die Schuldenbremse schwere theoretische und methodische Schwächen:
Willkürliche Obergrenze. "Dass eine Obergrenze für die Schuldenstandsquote sinnvoll sein kann, ist unstreitig", so Will und Truger. Allerdings laufe die Zielvorgabe der Schuldenbremse bei einem durchschnittlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von nominal drei Prozent langfristig auf eine gesamtstaatliche Schuldenstandsquote von 11,7 Prozent hinaus. Die neuere empirische Literatur hält aber erst Werte von 80 oder 90 Prozent für problematisch. Denn anders, als viele Laien glauben, hat es gravierende Nebenwirkungen, wenn Staaten radikal auf Kreditfinanzierung verzichten, betonen die Wissenschaftler. Erstens ist der finanzielle Rahmen für Investitionen dann sehr eng. Zweitens bekommen auch die Sparer ein Problem: Ohne die Emission deutscher Staatspapiere sei unklar, in welche Anlageform und in welche Länder die traditionell hohe Ersparnis der Deutschen in Zukunft fließen soll, geben die Autoren zu bedenken. "Die Finanzmärkte dürften langfristig dadurch deutlich instabiler werden."
Sparzwang zur Unzeit. Als möglicherweise größtes Problem sehen die IMK-Forscher, dass die Schuldenbremse "in einer Situation erheblich unterfinanzierter öffentlicher Haushalte eingeführt wurde". Denn Bund, Länder und Gemeinden seien seit vielen Jahren immer wieder durch Steuersenkungen erheblich belastet worden. Einen strukturell nahezu ausgeglichenen Haushalt zu verlangen, bedeute über Jahre hinaus eine strikte Sparpolitik - und gefährde so Wachstum und Beschäftigung. Zudem wirke das Verfahren prozyklisch, sprich: Im Abschwung werden die Staatsausgaben zu rigide begrenzt, im Aufschwung zu wenig. Schlimmstenfalls dürfte die deutsche Finanzpolitik mitten in einer europäischen Konjunkturkrise besonders wenig Schulden machen.
Kompliziertes Verfahren. Hinzu kommt: Die von der Bundesregierung gewählte Methode zur Ermittlung des strukturellen Defizits sei "extrem komplex und allein dadurch schon in höchstem Maße intransparent und gestaltungsanfällig", kritisieren Truger und Will. Auf Grundlage der wissenschaftlichen Literatur ließen sich leicht 70 und mehr Varianten zur Berechnung beschreiben, die alle den maßgeblichen Vorgaben der EU-Kommission genügen. Je nach verwendeter Variante ergaben sich für das strukturelle Defizit Deutschlands im Jahr 2010 Werte zwischen 10 und 40 Milliarden Euro, rechnen die IMK-Ökonomen vor.
"Aus heutiger Sicht würde ich dem Bund dringend von einer solch präzisen Festlegung auf ein so unpräzises Verfahren abraten", zitieren Truger und Will einen der Väter der Schuldenbremse, den ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzminister Ingolf Deubel. Dieser gestand mittlerweile selbst ein, dass er, "obwohl gelernter Finanzwissenschaftler und Ökonometriker - zum Zeitpunkt meiner Zustimmung die (.) Konsequenzen nicht in allen Facetten überschaut habe".
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