Mal was theoretisches: Revolutionäre Realpolitik
Von Mario Candeias , Aus: Freitag vom 04.04.2012
An der Frage, ob Kapitalismus zu reformieren oder grundlegend zu bekämpfen ist, spalten sich linke Bewegungen, Gruppen und Parteien. Dabei ist die Alternative falsch gestellt: Einen Sprung in das „ganz andere“ kann es nicht geben. Strategien der Transformation beginnen immer in der Reform. Ob sie allerdings den Weg in eine andere Gesellschaft ebnen und wie sich kurzfristige und langfristige Perspektiven zueinander verhalten, muss immer wieder neu bestimmt werden. Reform und Revolution, so Rosa Luxemburg, sind „nicht verschiedene Methoden“, sondern „verschiedene Momente in der Entwicklung“, die sich einander „bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z.B. Süd- und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat“ (GW 1/1, 428).
Für viele Linke ist der Kapitalismus ein System der Ausbeutung, des Krieges, der Verelendung von Mensch und Natur. Dieses System sei nicht reformierbar, nicht wirklich. Zu oft sind Reformen genutzt worden, um Ausbeutungsstrategien vielfältiger und subtiler zu arrangieren oder um Gewaltverhältnisse auf Kosten anderer Teile der Welt(bevölkerung) zu verschieben. Es bleibe nur die revolutionäre Umwälzung – auch wenn die Kräfteverhältnisse dagegen sprechen.
Für andere sind sozialistische Revolutionen in der Geschichte gescheitert bzw. führten in einen nicht weniger unterdrückerischen Staatssozialismus oder schlugen in Gewaltherrschaft um. Manchen fällt es schwer, überhaupt noch eine Alternative zu denken. Zu oft haben sich die linken Gegenmodelle als untauglich erwiesen, zu sehr beeindruckt die innovative kapitalistische Dynamik, Alternativen niederzuwalzen und sich immer wieder selbst zu erneuern. Eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und bürgerlicher Herrschaft erscheint als vergebliche Liebesmüh.
Grenzen des Reformismus
Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus. Unter ungünstigen Verhältnissen dienten Reformen stets der Verbesserung der unmittelbaren Lage der Ausgebeuteten, Erniedrigten und Unterdrückten. Im günstigen Fall konnten sie für die Linke Terraingewinne ermöglichen und Handlungsspielräume erweitern und absichern. Wie jede Reform sind hart erkämpfte Errungenschaften wie Begrenzungen der Arbeitszeit, steigende Löhne, soziale Sicherungssysteme, ökologische Modernisierung und Demokratisierungsschritte fragile Kompromisse mit widersprüchlicher Form. Sie kamen im Zuge sozialer Kämpfe zustande und konnten in die kapitalistische Dynamik integriert werden. Diese Errungenschaften sind bedroht, wenn die Akkumulation stockt oder Kräfteverhältnisse sich verschieben. Weitergehende Maßnahmen scheitern, sofern sie die Profitrate drücken, das Kapital zuviel kosten, seine Macht bedrohen. Der Kampf um Reformen ist unverzichtbar, aber beschränkt auf ein vordefiniertes Terrain, im Rahmen der Vereinbarkeit mit kapitalistischer Verwertungslogik. „Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht“, beschränkt sich „auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst“ (428f).
Kämpfe um Einschränkung der mit dem Kapitalismus verbundenen sozial und ökologisch zerstörerischen Dynamiken sind alternativlos – stoßen jedoch an Grenzen: Der bürgerliche Staat ist mit dem Staatstheoretiker Nicos Poulantzas als die „Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ zu begreifen und daher reformierbar. Er muss aber zwei Funktionen erfüllen: die allgemeine, den sozialen Zusammenhalt in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft sichern, und die besondere, die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Kapitalakkumulation (die zugleich seine steuerliche Existenzgrundlage darstellt) gewährleisten. Diese Funktionen herrschen den Reformeninnerhalb des Kapitalismus Grenzen auf.
Sobald eine der Funktionen nicht mehr erfüllt ist, verliert der Staat seine Legitimation und Funktionsfähigkeit.
Ähnlich verhält es sich mit den Grenzen der Regulierung des Marktes. Der Markt ist zwar immer ein politisch hergestellter, doch kann er nicht nach Belieben reguliert, d.h. in seinen negativen Effekten deutlich eingeschränkt werden, ohne dass er zugleich seine Funktionsfähigkeit einbüßen würde. Auch die Kapitalfunktion basiert nicht nur auf der innovativen und effizienten (Re)Kombination von Arbeitskräften, Produktionsmitteln und Ressourcen, sondern auf Produktion eines wachsenden Mehrwerts, also Ausbeutung, und fortwährender Akkumulation, also Wachstum. Sofern eines von beiden eingeschränkt wird, verliert das Kapital seine Existenzgrundlagen, also auch seine 'innovativen' Momente. Es gibt einen Gegensatz zwischen kapitalistischer Produktion und Ökologie, und es gibt Grenzen der Sozialstaatlichkeit im Kapitalismus. Linke Politik muss ausloten, wie innerhalb dieser Begrenzungen Politik gemacht werden kann, wie die Begrenzungen zu überwinden sind und dabei die 'innovativen' Momente aus der Kapitalform herausgelöst und neu organisiert werden können.
Transformatorische Perspektiven
Insofern greift eine realistische Tagespolitik, „die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit den wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß“ zu kurz. Was vom Standpunkt der Tagespolitik als unrealistisch erscheinen mag, erscheint vom „Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz“ eines krisenhaften Kapitalismus, der alle sozialen Errungenschaften stets wieder in Frage stellt, als notwendig, so Luxemburg in ihrem Artikel über Karl Marx (GW 1/2, 373). Doch ein System-Hopping gibt es nicht. Es braucht also transformatorischer Schritte, die sofort umsetzbar sind, unmittelbar die Bedingungen der Einzelnen verbessern können. Zugleich müssen diese Sofortmaßnahmen eine Perspektive weisen und die nächsten Schritte andeuten, hin zu einer weitgehenden Transformation der gesamten Gesellschaft.
„Revolutionäre Realpolitik“ im Sinne Luxemburgs hebt den falschen Gegensatz zwischen Reform und Revolution auf. Revolutionär bezieht sich auf den umwälzenden, transformatorischen und an die Wurzel gehenden Charakter einer Politik, weniger auf den gewaltsamen Umschlagspunkt revolutionärer Machtergreifung. Einen solchen herbei zu wünschen oder herbeizureden ist unmöglich. Sich auf den Bruch zu konzentrieren hieße, sich politisch handlungsunfähig zu machen und zum 'revolutionären Warten' zu verdammen. Was radikal wirkt, taugt dann nicht mehr zur Intervention.
Luxemburgs Verweis auf Realismus macht das stark: in Kenntnis der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse agieren, aber in der Perspektive ihrer Verschiebung; anknüpfen an den realen Bedingungen und Widersprüchen, in denen sich jede/r bewegen muss, den Sorgen und alltäglichen Interessen der Einzelnen; ansetzen an den Eigeninteressen und Leidenschaften, sie aber so reformulieren – „ethisch-politisch“, wie es bei Antonio es Gramsci heißt – dass die unmittelbaren Interessen der verschiedenen (noch voneinander isolierten) Gruppen überschritten und zu den Interessen anderer Gruppen und Klassenfraktionen verallgemeinert werden können. Eine Perspektive der Überwindung so zu entwickeln, dass sie „in allen ihren Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet,“ hinausgeht – so beschreibt Rosa Luxemburg die Dialektik revolutionärer Realpolitik (ebd.).
Es geht ums Ganze, um die Frage der gemeinsamen Verfügung über die unmittelbaren Lebensbedingungen, um die Gestaltung von Zukünften. Das ist mehr als ein hübsches Fernziel. Vielmehr vermeidet eine solche politische Richtschnur den Rückfall auf korporatistische, also enge Gruppeninteressen. Kämpfe oder Einzelreformen müssen in den Zusammenhang einer grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung gestellt werden, sonst droht den Kämpfenden eine letztlich noch verschärfte Unterordnung: ihre vereinzelten Interessen werden kompromissförmig in den herrschenden Block integriert. Der Gesamtzusammenhang mannigfaltiger emanzipatorischer Forderungen kann 'von oben' immer wieder parzelliert werden, um gesellschaftliche Probleme zu entnennen und soziale Gruppen zu vereinzeln.
Eine Reihe anti-systemischer Forderungen mag vor Vereinnahmung schützen, allerdings auf Kosten einer isolierten, nicht anschlussfähigen Randposition. Es bedarf eines positiven, transformatorischen und integrierenden Projekts, das von Reformen im Kapitalismus ausgeht, aber diesen eine bestimmte Richtung verleiht – und Brüche mit dem Bestehenden zu denken und herbeizuführen vermag. Protagonist eines solchen Prozesses kann nur eine partizipativ orientierte Mosaiklinke sein, die die Einzelnen befähigt, ans Steuer der eigenen Geschichte zu kommen.
Literatur
Luxemburg, Rosa, Sozialreform oder Revolution (1899), in: Gesammelte Werke, Bd. 1/1, Dietz Verlag, Berlin 1982, 367-466
dies., Karl Marx (1903), in: GW, Bd. 1/2, Dietz Verlag, Berlin 1982, 369-77
weiterführende Literatur
Haug, Frigga, Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Argument Verlag, Berlin-Hamburg 2007
Candeias, Mario, Passive Revolutionen vs. sozialistische Transformation, Berlin 2010,www.rosalux.de/publication/35998/passive-revolutionen-vs-sozialistische-transformation.html
eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erscheint in:Ulrich Brand, Bettina Lösch, Benjamin Opratko, Stefan Thimmel (Hg.): ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac der Rosa Luxemburg Stiftung und der taz.die_tageszeitung, 352 Seiten, VSA Verlag, Hamburg April 2012, 15.00 ¤, www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/abc-der-alternativen-20/
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