Karlsruhe, bitte übernehmen
Über ESM und Fiskalpakt wird nun vom Bundesverfassungsgericht entschieden
Am Freitag um 22.43 Uhr ging das Fax nach Karlsruhe raus – noch bevor der Bundesrat den ESM und Fiskalpakt verabschiedet hatte. Der Inhalt: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, die es dem Bundespräsidenten untersagt, die beiden Gesetze zu unterzeichnen, und zwei Klagen. Absender: Die Linkspartei.
Dass sich die Klagen genau zu diesem Zeitpunkt auf ihren Weg zum Bundesverfassungsgericht machten, hatte laut Hans-Peter Schneider, einem der beiden Prozessbevollmächtigten der LINKEN, rein technische Gründe. Denn verschicken wollte er das Schriftstück schon nach dem Beschluss des Bundestags früher am Abend. Doch erst um 22.43 Uhr sei er durchgekommen. Wahrscheinlich habe Gauweiler die ganze Zeit vorm Fax gestanden, frotzelt Gregor Gysi mit Blick auf den CSU-Politiker, der ebenfalls angekündigt hatte, in Karlsruhe zu klagen. Peter Gauweiler jedenfalls hat das Fax nicht blockiert, seine Verfassungsbeschwerde gab in der Nacht ein Bote an der Pforte des Verfassungsgerichts ab.
Für die Ewigkeit
Gysi, Schneider und Andreas Fisahn, der zweite Prozessbevollmächtigte, stellen gemeinsam ihr Vorgehen gegen ESM und Fiskalpakt vor. Die beiden Juristen teilen sich die Zuständigkeit, Schneider ist für den ESM verantwortlich, Fisahn für den Fiskalpakt. Es ist Samstag und im Bundestag, wo Tags zuvor noch hitzig über die beiden Instrumente zur vermeintlichen Eurorettung gestritten wurde, ist längst Ruhe eingekehrt, es ist parlamentarische Sommerpause – vorerst.
Stress haben nun die Karlsruher Richter. Ihnen liegen bisher mindestens sechs Klagen vor (siehe Kasten unten). Wieder einmal müssen sie entscheiden, ob Gesetze verfassungsgemäß sind. Dass es die am Freitag mit breiter schwarz-gelb-rot-grüner Mehrheit in Bundestag und -rat verabschiedeten Fiskalpakt und ESM nicht sind, davon ist die Linkspartei überzeugt, in vielerlei Hinsicht: Die Bundestagsfraktion geht mit einer sogenannten Organklage vor, weil sie die Rechte des Bundestags verletzt sieht. Und die Abgeordneten der Fraktion haben als Bürger und Bürgerinnen Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Ein Eingriff in deren Wahlrecht sei der ESM, so Schneider, da der Bundestag durch diesen nicht mehr die volle Haushaltshoheit besitze. Auch den »Ewigkeitscharakter« hält man für unzulässig. Als »unbefristet, unkündbar und unwiderruflich« beschreibt es Schneider. Die einzige Möglichkeit den Vertrag wieder loszuwerden, ist ein neuer oder ein Aufhebungsvertrag. Zudem werde mit dem ESM eine »weitgehend unkontrollierte, undemokratische Institution geschaffen«, an der weder der EU-Rechnungshof noch das EU-Parlament beteiligt würden.
Über die Gelder entscheidet der sogenannte ESM-Gouverneursrat. Schneider sieht sogar die »Schwelle zur Bundesstaatlichkeit« überschritten. Auf der Suche nach einem Vergleichbaren Organ sei er mit der »Commonwealth Grants Commission« beim Bundesstaat Australien fündig geworden. Im Rahmen des Grundgesetzes dürfe der ESM deshalb nicht eingerichtet werden. Wenn man ihn wolle, müsse das Grundgesetz durch eine neue Verfassung abgelöst werden, die laut Paragraf 146 durch einen Volksentscheid legitimiert werden muss.
Warum immer Banken?
Auch dem Fiskalpakt bescheinigt Fisahn einen Eingriff in das Haushaltsrecht der Staaten, da sie etwa bei einem Überschreiten der festgelegten Schuldengrenzen ihre Haushalte »zur Gehnemigung« bei der EU-Kommission vorlegen müssten. Eine Folge wäre, dass erzwungene Sozialstaatskürzungen wie in Griechenland auch in der Bundesrepublik möglich wären und der Sozialstaat somit der Gestaltung des Bundestages entzogen wäre.
Gerade durch den derzeitigen Weg des »Demokratie- und Sozialabbaus« werde »Europa den Leuten vermiest«, so Gysi. »Warum müssen immer Banken und Hedgefonds gerettet werden?« Am Beispiel Griechenland macht Gysi deutlich, für welche Alternativen die Linkspartei steht: Steuergerechtigkeit, Kampf gegen Steuerhinterziehung, Einsparungen bei der Rüstung – und vor allem Geld für Investitionen. Beim Thema Schuldenrückzahlung werde immer nur von Ausgabenkürzung geredet, warum nicht von Einnahmeerhöhung? Und gegenüber den Banken müsse »man um das Primat der Politik« kämpfen.
Die muss vermutlich schon bald ihre Sommerpause unterbrechen. Gysi rechnet mit einer Sondersitzung des Bundestages vielleicht schon am 16. Juli. Dann könnte der Bundestag zusammengerufen werden, um über Hilfszahlungen an Spanien zu entscheiden. Bis der ESM in Kraft tritt – was er nicht ohne Zustimmung aller Vertragspartner kann – gilt weiter der Rettungsschirm EFSF. Egal welche Regelung gelte, »das Geld reicht noch für Spanien und Zypern, aber nicht mehr für Italien«, ist sich Gysi sicher.
Auch der ESM muss noch einmal aufgerufen werden, denn das, worüber Bundestag und -rat am Freitag abgestimmt hatten, war mit den neuen Vereinbarungen des EU-Gipfels in Brüssel schon längst nicht mehr gültig. So sollen nun auch eine Direktvergabe von Geldern an Banken und Finanzhilfen ohne besondere Auflagen möglich sein. Der ESM dürfte also nicht nur Karlsruhe die Sommerferien versauen.
neues deutschland, 2. Juli 2012
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