Defensiver Nationalismus als »Perspektivwechsel«?
Von Joachim Bischoff und Björn Radke
In der Bundesrepublik Deutschland verstärken sich die Anzeichen des im nächsten Jahr anstehenden Wahlkampfes um einen Politikwechsel. Anfang Oktober hat jetzt auch der DGB für die Gewerkschaften seine programmatischen Anforderungen an die politischen Parteien veröffentlicht.
Darin heißt es: »Die Krise in der Eurozone ist noch lange nicht überstanden. Aus der Bankenrettungskrise ist längst eine soziale Krise geworden: Das Privatvermögen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung wird immer größer, der Staat dagegen ist ärmer geworden. Arbeitslosigkeit und Armut wachsen in vielen Ländern. Arbeitnehmerrechte werden in vielen europäischen Ländern abgebaut. Die Regierungen der meisten europäischen Staaten und die EU-Kommission haben – vor allem auf Betreiben der deutschen Bundesregierung – bislang lediglich untaugliche Rezepte vorgelegt: Fiskalpakt und Schuldenbremsen, die Deregulierung der Arbeitsmärkte und die Aussetzung sozialer und kollektiver Rechte. Alle Länder der Europäischen Union sind in der Verantwortung zu verhindern, dass sich aus der Wirtschaftskrise Separatismus und Nationalismus sowie eine Krise der europäischen Idee und des demokratischen Rechtsstaats entwickeln.«
Die bundesdeutschen Gewerkschaften erwarten also eine Lösung der ökonomisch-politischen Krise durch eine Weiterentwicklung der europäischen Perspektive, indem die Parteien den europäischen Arbeitsmarkt neu ordnen, die Tarifautonomie respektieren und stärken, die Prekarisierung der Arbeit stoppen, Untergrenzen garantieren, Lohn - und Sozialdumping verhindern, gute Arbeit in Europa sichern und ausbauen.
DIE LINKE hat – wie andere Parteien auch – die Festlegung ihres Wahlprogramms noch vor sich. Bislang hat sich die Partei – in Kooperation mit anderen europäischen Linksparteien – für einen Bruch mit der herrschenden neoliberalen Ausrichtung der deutschen Politik ausgesprochen. Die neoliberale Politik der Deregulierung und Privatisierung ist nicht nur für die seit Jahren anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern auch für deren besondere Erscheinungsform in der Euro-Zone verantwortlich.
Ähnlich wie Syriza in Griechenland fordert DIE LINKE einen radikalen Wechsel in der Europapolitik. Auch Syriza will, dass beispielsweise Griechenland im Euro-Raum verbleibt. Aber sie wollen gleichzeitig das Sparprogramm völlig anders gestalten, weil es nicht funktioniert; und mit einem europabasierten Programm soll eine nachhaltige Erneuerung der Wirtschaft sowohl in der südlichen Peripherie als auch der Eurozone insgesamt durchgesetzt werden. Angesichts der verschärften Krisenprozesse gibt es in der bundesdeutschen Linkspartei Überlegungen, von dieser Zielsetzung abzurücken.
Andreas Wehr zum Beispiel sieht sich durch die Euro-Krise in der Auffassung bestärkt, dass die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit kein Friedensprojekt, sondern ein imperialistisches Staatenbündnis ist, bei dem sich die starken kapitalistischen Länder gegen ihre schwächeren Rivalen durchsetzen. Seine Forderung in dem »Nötiger Perspektivwechsel« betitelten Beitrag in der jungen Welt vom 25.10.2012 lautet daher: »Heute gilt es vor allem, die in der Euro-Krise unter den Druck Kerneuropas geratenen Peripheriestaaten bei der Verteidigung ihrer Souveränitätsrechte zu unterstützen. Ihr Abwehrkampf ist keineswegs ein Rückzug auf den Standpunkt eines bornierten Nationalismus, wie manche meinen. Eine solche Bewertung ignoriert, dass es zwei klar voneinander zu unterscheidende Nationalismen gibt: Einen aggressiven imperialistischen, der auf Unterdrückung anderer Staaten aus ist – dies ist der Nationalismus bzw. der Chauvinismus der kerneuropäischen Staaten –, und einen defensiven Nationalismus der schwachen Länder, die ihn benötigen, um ihre Souveränität verteidigen und für Selbstbestimmung kämpfen zu können. Dabei ist es in diesen Ländern in erster Linie die Arbeiterbewegung, die für den Erhalt der Souveränitätsrechte eintritt.«
Wehr setzt sich für einen defensiven Nationalismus ein und beansprucht, dass dies die vorherrschende Politik in der Linkspartei sein soll: »Die Euro-Krise ist das zentrale Thema des Bundestagswahlkampfes, darin sind sich alle einig. Doch welche Position wird in dieser Auseinandersetzung die Partei DIE LINKE einnehmen? Bislang war alles klar: Ihre Fraktion im Bundestag hatte stets als einzige der Europapolitik der Regierung eine klare Absage erteilt. Sie hatte weder für die Hilfspakete für Griechenland noch für die Rettungsschirme oder den Fiskalpakt gestimmt. Nun ist aber Streit in der Partei über ihren Kurs ausgebrochen.«
In der Tat gibt es eine Debatte über die Frage, wie man den Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 6. September 2012 bewerten soll, mit dem die Möglichkeit geschaffen wurde, kurzfristige Staatsanleihen der Krisenländer in unbegrenzter Höhe aufzukaufen. EZB-Präsident Mario Draghi hat im Sommer eine weitere Option in der Euro-Krise durchgesetzt. Sie trägt die Abkürzung OMT und steht für »outright monetary transactions«.
Ein Großteil der wirtschaftlichen und politischen Elite in Deutschland will diese Option nicht. Diese Kräfte sehen in Draghis OMT eine indirekte Art, die Schulden zu vergemeinschaften, etwas, das die Berliner Regierung auf jeden Fall verhindern will. Sie hat deshalb durchgedrückt, dass Draghi seine OMT-Kanone erst dann einsetzen darf, wenn die dadurch Begünstigten ebenfalls strikte Bedingungen erfüllen. Deutschland fürchtet sich zudem davor, dass die EZB zu mächtig werden könnte und zunehmend Fiskal- anstatt Geldpolitik betreibt.
In der Linkspartei gibt es auch Befürworter einer solchen EZB-Politik. Griechenland, Portugal und Irland sind einem brutalen Restrukturierungsprogramm ausgesetzt – als Gegenleistung für umfangreiche Re-Finanzierungsprogramme. Diese Länder können sich nicht mehr über die Finanzmärkte refinanzieren, weil die Zinsen viel zu hoch wären. Spanien und Italien hingegen tun dies nach wie vor, doch mit immer größer werdenden Schwierigkeiten. In dieser Situation ist auf kurze Sicht allein die EZB handlungs- und Interventionsfähig. Sie ist – wie dies der deutsche Ökonom Peter Bofinger in dem Beitrag »Das infernalische Dreieck« in der Oktober-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik treffend formuliert hat – die »Herz-Lungen-Maschine« des Euro-Raumes geworden und übt ihre Lender-of-Last-Resort-Funktion über die Aufkäufe von Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten aus. »In einer idealen Welt würde man (…) in diesen Ländern nach umfangreichen Konjunkturprogrammen rufen. Da dies aktuell nahezu ausgeschlossen ist, wäre schon viel erreicht, wenn die Regierungen darauf verzichten würden, in diesem und im nächsten Jahr noch weitere einschneidende Sparmaßnahmen umzusetzen. Immerhin würden so die Fehler Heinrich Brünings nicht wiederholt.«
Die Eurokrise nähert sich ihrer Entscheidung. Wer die Einheitswährung retten will, kommt nicht darum herum, die EZB zu einer richtigen Zentralbank auszubauen und einer Bankenunion zuzustimmen. Allerdings existieren auch über die Re-Regulierung des Banken- und Finanzbereiches höchst divergente Vorstellungen.
Vor diesem Hintergrund hatte Axel Troost in dem Beitrag »DIE EURO-Krise, die EZB, die LINKE und das liebe Geld« auf der Internetseite der Fraktion der Linkspartei im Bundestag formuliert: »Aus meiner Sicht verhält sich die EZB inzwischen deutlich pragmatischer und lösungsorientierter als die unter der Dominanz der deutschen Bundesregierung handelnde europäische Regierungsebene. (…) Wir sollten daher aufhören, die Krisenpolitik der EZB anzugreifen, sondern vielmehr genau ihren Pragmatismus und Undogmatismus betonen.«
Diese Option missfällt Wehr: Das Ankaufprogramm ist für ihn nicht der erhoffte Vorbote eines neuen Staatsfinanzierungssystems jenseits des Neoliberalismus, sondern Ausdruck der sich immer tiefer fressenden Krise des Euro-Systems, zu der gehört, dass sich die Banken aus Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und anderen kerneuropäischen Ländern aus den Risikoländern des Südens zurückziehen. Die Forderungen der Linkspartei zur Lösung der aktuellen Krise gehen seiner Meinung nach in eine andere Richtung. In ihnen steht der »Schuldenschnitt für hoch verschuldete Staaten« im Mittelpunkt. Mit dieser Position verortet sich die Partei eindeutig jenseits des parteipolitischen Spektrums von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen, die alle einen solchen Schnitt ablehnen. Doch angesichts des nicht enden wollenden Desasters in der Euro-Zone wird ein solcher Schuldenschnitt immer häufiger selbst von Anhängern neoliberaler Politik als letzter verbleibender Ausweg genannt.
Wir sehen nicht, dass die Partei DIE LINKE eine Strategie eines defensiven Nationalismus verfolgt oder verfolgen sollte. Wir stimmen auch nicht mit der Interpretation überein, dass eine Anerkennung der Interventionsoptionen der EZB ein Beitrag zum Ausbau der Eurozone als imperialistische Weltmacht ist, wie Wehr unterstellt: »Die gegenwärtige Krise soll genutzt werden, um zumindest staatsähnliche Strukturen auf europäischer Ebene zu schaffen. Dafür werden die Souveränitätsrechte der Euro-Staaten durch Übertragung von Kompetenzen in der Haushalts- und Wirtschaftspolitik nach Brüssel entscheidend geschwächt werden.«
Und: Die finanzpolitischen Rettungsmaßnahmen sind nicht die Lösung der Krise. Selbst der IWF kam auf seiner letzten Tagung zu dem Schluss, dass die Idee, die Krisenländer der Euro-Zone sollten möglichst schnell ihre Haushaltsdefizite und ihren Schuldenstand zurückfahren, falsch ist. Wenn ein Land in der Rezession steckt und das Bruttoinlandsprodukt jeden Tag schrumpft, dann treibt eine Sparpolitik es noch tiefer in die Rezession und bewirkt nie, die Verschuldung abzubauen. Schließlich geraten die Banken in Mitleidenschaft und müssen gerettet werden, was die öffentliche Verschuldung noch erhöht.
Die Re-Regulierung des Finanzbereiches muss durch eine gemeinsame Fiskal- sowie eine kohärente Wirtschaft- und Sozialpolitik ergänzt werden. Das Ziel dieser Erweiterungen ist die Förderung von Vollbeschäftigung mit Guter Arbeit. Die aktuelle Politik, die die finanzielle Unterstützung für Griechenland und andere Mitgliedsstaaten von der Durchführung von drakonischen Sparmaßnahmen abhängig macht, ist sozial ungerecht. Außerdem treibt sie die Länder in noch schwerere Rezessionen, was es ihren Regierungen zusätzlich erschwert, ihre Schulden zu reduzieren.
Die in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU vorgegebenen und von den Programmen der EU und des IWF geforderten Sparpolitiken sind wirtschaftlich kontraproduktiv, wenn es um die Förderung des Wachstums geht. In sozialer Hinsicht sind sie gefährlich, da sie die europäischen Gesellschaften in die Armut treiben und zu einer stärkeren Polarisierung führen. Aufgrund der durch die Krise noch verschärften sozialen Spannungen, bereiten die Sparmaßnahmen den Nährboden für politische Spannungen, wenn nicht sogar für politische Instabilität, zumal der Rechtspopulismus wachsenden Zulauf hat.
In der linken Debatte muss die Betonung stärker darauf gelegt werden, angesichts der rezessiven Entwicklung die EU-Konjunktur durch neue Wachstumsimpulse zu beleben. Diese Impulse müssten zudem so ausgerichtet sein, dass für die Krisenländer ein Übergang auf neue Wirtschaftsstrukturen eingeleitet wird. Die Gemeinschaftswährung kann dauerhaft funktionieren, aber nur über eine abgestimmte wirtschaftliche Entwicklung. Und die Sanierung der öffentlichen Finanzen muss mit Veränderungen der Realökonomie Hand in Hand gehen. Dadurch könnte sich auch der öffentliche Dialog um eine europäische Perspektive bis hin zu den Gewerkschaften wieder öffnen, was der Auseinandersetzung gut tun würde. In diese Richtung wäre ein »notwendiger Perspektivwechsel« sinnvoll.
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