Glänzender Neustart?

Redaktion Sozialismus: Die SPD im Peer-Rausch

10.12.2012 / sozialismus.de, vom 10.12.2012

Peer Steinbrück will Bundeskanzler werden. Seine Partei, die SPD hat ihn mit einem herausragenden Wahlergebnis darin bestärkt, einen politischen Wechsel in der Berliner Republik im Herbst 2013 herbeizuführen. Die Parteitagsdelegierten sind dem Kanzlerkandidat gefolgt – trotz Nebeneinkünfte-Debatte und manch anderer Ungeschicklichkeiten der letzten Monate.

Der Partei hat Steinbrück geliefert, was die Partei wollte: In sein Regierungsprogramm nahm er zahlreiche Positionen des linken Parteiflügels auf. Festzuhalten bleibt aber auch: Noch hat der Kanzlerkandidat laut Umfragen die große Mehrheit der BürgerInnen nicht überzeugt. Die Sozialdemokratie hat ihren politischen Tiefstand in der politischen Sympathie von unter 30 Prozent noch nicht verlassen.

Sicher, in Europa und der europäischen Sozialdemokratie sind Wahlergebnisse von über 25% eher die Ausnahme; aber von einem respektablen Wahlergebnis von 30% zur führenden Kraft der Republik ist es noch eine komplizierte Wegstrecke. Auch wenn die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten einen überzeugenden Wahlkampffrieden geschlossen hat, bleibt der Makel in der Erinnerung, dass der Spitzenkandidat es mit Nebeneinkünften zum Millionär gebracht hat.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ist davon überzeugt, dass dieses Hindernis im Wahlkampf verblassen wird: »Wer gut verdient, kann sich trotzdem in diesem Land dafür einsetzen, dass die, die nicht viel haben, gerecht beteiligt werden.« Gleichwohl dürfte im kollektiven Gedächtnis eine starke Skepsis gegenüber solcher Fürsorglichkeit. bleiben

Steinbrücks Kernbotschaft: »Ich will eine rot-grüne Mehrheit für dieses Land. Ich stehe für eine Große Koalition nicht zur Verfügung. Ich will, dass Deutschland wieder ein neues soziales Gleichgewicht findet.« (alle Zitate aus seiner Parteitagsrede) Seine Festlegung, nicht mit der großen Partei des bürgerlichen Lagers eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft anstreben zu wollen, ist nachvollziehbar. Aber war die Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten an der Beschädigung der sozialen Marktwirtschaft gänzlich unbeteiligt?

Die Analyse des gekürten Kandidaten ist eindeutig. Er zitiert den Philosophen Michael Sandel »Wir sind von einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft gerutscht« und kommentiert: »Die Marktwirtschaft ist ein bloßes Instrument. Die Marktgesellschaft ist eine Lebensweise, in der viele gesellschaftliche Bereiche einem ökonomischen Kalkül unterworfen werden sollen. Eine Marktgesellschaft ersetzt Moral und Ethik durch Egoismus und Renditemaximierung. Das aber genau zerstört den Zusammenhalt und die innere Friedfertigkeit einer Gesellschaft. Genau das wollen Sozialdemokraten nicht.«

Nicht aus einer verbreiteten Linkshaberei wollen wir kritisch anmerken, dass die strategische Option komplizierter ist und erinnern daran, dass schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts Tony Blair und Gerhard Schröder erklärten: »In fast allen Ländern der Europäischen Union regieren Sozialdemokraten. Die Sozialdemokratie hat neue Zustimmung gefunden – aber nur, weil sie glaubwürdig begonnen hat, auf der Basis ihrer alten Werte ihre Zukunftsentwürfe zu erneuern und ihre Konzepte zu modernisieren. Sie hat neue Zustimmung auch gewonnen, weil sie nicht nur für soziale Gerechtigkeit, sondern auch für wirtschaftliche Dynamisierung und für die Freisetzung von Kreativität und Innovation steht. Die Steuerungsfunktion von Märkten muss durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden. Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eine Marktgesellschaft!«

Diese »Verbesserung der Marktsteuerung« hat jedoch seit einem Jahrzehnt vor allem die europäischen Gesellschaften immer tiefer in die politische Sackgasse der Marktgesellschaft hineingeführt. Konsequenz: Die Sozialdemokraten sind in Europa zur politischen Minderheit geworden und in einigen Gesellschaften kämpfen sie um ihre politische Existenz.

Dennoch bleibt Steinbrück – wenn auch in zarter Andeutung – bei seiner Abgrenzung gegenüber den »Heulsusen«: Von Beifall getragen erklärt der Kandidat, man werde sich die Rendite der Reformpolitik der Regierung Schröder nicht stehlen lassen, die vielen ausländischen Beobachtern Deutschland wie ein Märchenland vorkommen lässt. »Wir sind es gewesen, die damals gegen Widerstände und trotz Schwierigkeiten dieses Land vorangebracht haben!« Ja, die soziale Balance wurde aufgekündigt und die Marktgesellschaft erhielt ein größeres Gewicht.

Jetzt also der Kurswechsel: Steinbrück und der SPD geht es um das Primat der Politik gegenüber dem Markt. »Uns gemeinsam geht es darum, den Märkten Grenzen zu setzen. Wir wollen nicht wie andere den Markt an die Stelle des Staates setzen und die Menschen damit allein lassen; denn es gibt Lebensbereiche, deren Qualität nur erhalten und gesichert werden kann, wenn sie eben nicht zu reinen Marktbeziehungen werden.« Es geht also um den Ausbau von Regulierung, allerdings von einem sehr tiefen Grad der Selbstzerstörung der bundesdeutschen Marktgesellschaft aus.

Unbeschadet der sozialdemokratischen Selbsttäuschung über die jüngste Geschichte soll in den nächsten Monaten die Deutungshoheit in der politischen Mitte zurückgeholt werden; auch die Mitte in Deutschland soll sozialdemokratisch oder grün wählen. Und wie soll das erreicht werden? »Die Fliehkräfte in dieser Gesellschaft nehmen zu: durch eine wachsende Kluft in der Vermögens- und Einkommensverteilung, durch unterschiedliche Startchancen von Kindern aus materiell besser gestellten Etagen unserer Gesellschaft und Kindern aus bildungsferneren Schichten, durch die Spaltung des Arbeitsmarktes, weil die Zahl der unsicheren und unterbezahlten Jobs zunimmt, und auch durch finanziell marode Kommunen.«

Der Kanzlerkandidat appelliert an die mittleren und oberen Schichten. »Auf Dauer könnte ihr nur so weit in Ruhe leben, wie der Hausfrieden auch in den mittleren Etagen gilt und es vom Untergeschoss einen Fahrstuhl zum Aufstieg gibt. Erst dann ist dieses Gebäude intakt; denn sonst kracht die ganze Bude in sich zusammen.«

Wohin also soll die Reise gehen? »Nicht nur in und mit Europa, sondern auch mit unserer Gesellschaft. Wie sieht der Gesellschaftsvertrag aus in dieser Republik, der diese Gesellschaft zusammenhalten soll, der die Bindekräfte dieser Gesellschaft stärkt?« Steinbrück hämmert seiner Partei ein: Es gibt eine Sehnsucht, »die sich unter dem Eindruck der Exzesse der Finanzmärkte, die angesichts der Entwertung der persönlichen Leistung in der Arbeit, die in der Ablehnung eines rücksichtslosen Egoismus nach mehr Gerechtigkeit, Maß und Mitte orientiert. Deutschland braucht wieder mehr ›wir‹ und weniger ›ich‹!« Es geht um eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. Und es geht darum, die Marktwirtschaft wieder sehr viel stärker auf das Gemeinwohl zu verpflichten.

Die wahlstrategische Leitlinie der SPD lautet also: Rot-Grün will die Auseinandersetzung über die Gesellschaftspolitik mit der CDU/CSU zum Zentrum machen. Konkret heißt das für die SPD: »Statt einer Lohnuntergrenze ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, statt Lohndruck und Flucht aus Tarifverträgen – faire Löhne für gute Arbeit und Stärkung der Tarifbindungen, statt Lebensleistungsrente mit 10 oder 20 ¤ über die Grundsicherung hinaus – eine armutsfeste Solidarrente ... Wir wollen dafür sorgen, dass Arbeit aufgewertet wird und gerechte Löhne gezahlt werden. Und wir wollen dies wiederum mit der Gewerkschaftsbewegung und allen aufgeklärten politischen Kräften in unserer Gesellschaft durchsetzen. Wir waren es, die 1933 die erste deutsche Demokratie verteidigt haben, wo andere sich dem rechten und faschistischen Zeitgeist nicht nur angepasst, sondern sogar hingegeben haben.«

Wenn diese Leitlinie umgesetzt wird, muss es mit den Gewerkschaften, den Sozialverbänden und allen aufgeklärten Kräften eine Diskussion und Verständigung über die nächsten Schritte der Re-Regulierung der Marktkräfte gehen. Dies wäre freilich eine etwas andere politische Option als die fürsorgliche Haltung von Wohlhabenden gegenüber der Benachteiligung und dem Frust der BürgerInnen in den unteren Etagen der Gesellschaft. Ein solcher Ansatz von partizipativen grundlegenden Reformen von Wirtschaft und Demokratie wäre dann in der Tat nicht nur für die progressiven Kräfte, sondern auch für die Linkspartei eine gravierende Herausforderung.