Ein Programm für die Tonne
Von Elmar Altvater
Kann ein Wahlprogramm von Fortschritt künden, wenn es den Slogan einer Leiharbeitsfirma zum Titel wählt und damit eine illusionäre Gemeinsamkeit unterstellt: »Das WIR entscheidet«? Doch wer ist der, die, das WIR? Gemeinwohl soll vor den Profit des Einzelnen gestellt werden, heißt es im Programm. Richtig. Wer würde dem widersprechen? Und viele andere Punkte des Programms finden auch Zustimmung: dass die Finanzmärkte Regeln brauchen, Steuerhinterziehung bestraft werden muss, dass »Europa im Interesse der Menschen handelt« und nicht »Spielball der Märkte« seindarf, dass die Menschenrechte geschützt und gefördert werden, dass die Außenpolitik dem Frieden verpflichtet sein soll und dass einMindestlohn her muss.
Süßer die Glocken nie klingen. Aber kann man den Versprechen auf den 116 Seiten des Programms vertrauen? Oskar Lafontaine hält es für ausgemacht, dass sich weder Grüne noch SPD von der Agenda-2010-Politik gelöst haben. Er hat Recht, denn die SPD lobt in ihrem Wahl- und Regierungsprogramm die »vor zehn Jahren begonnene Reformpolitik der Agenda 2010« und will nur den »in diesem Prozess auch entstandenen Missbrauch korrigieren«. Also soll die Agenda-Politik einschließlich Hartz IV im Prinzip fortgesetzt werden: »Nur mit Rot-Grün schaffen wir dieErneuerung unseres Landes, den Richtungswechsel«. Schön wäre ein Richtungs- und rot-grüner Farbwechsel, aber mehr als eine Korrektur des schwarz-gelben Lacks soll er nicht sein.
Teile der Partei waren nach der Wahlniederlage 2009 weiter. Sie orientierten auf intensive Kooperation zwischen SPD, Grünen und der LINKEN, um Schwarz-Gelb mit einem neuen Projekt der Modernisierung des Landes abwählen zu können. Es wurde sogar ein gemeinsames Institut »solidarische Moderne« auf Betreiben von Herrmann Scheer, einem der ganz wenigen strategischen Köpfe der SPD, gegründet. Es sollte das rot-rot-grüne Cross-over voranbringen und für die vielen Baustellen einer neuen Politik Konzepte erarbeiten. Dazu gehören Jahrhundertprojekte wie die Energiewende, die Überwindung der Eurokrise, diezukünftige Gestaltung Europas und die Korrektur der auch von Rot-Grün zu verantwortenden Zunahme der Ungleichheit bei der Einkommens-, Vermögens- und daher auch Machtverteilung in der Gesellschaft. Auch die Erhaltung der Biodiversität und der Schutz des Klimas, die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere für junge Menschen nicht nur in Deutschland, sowie die Erweiterung der demokratischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger auf allen Entscheidungsebenen zählen dazu.
Diese Projekte einer solidarischen Moderne sollten nicht wie Elbphilharmonie, Stuttgart 21 und Berliner Flughafen im Chaos und Finanzdesaster enden. Doch haben nur Teile von SPD und Grünen bei einem solchen Projekt mitgemacht. Viele gingen auf Distanz zur Linkspartei, denn die machte bis vor etwa einem Jahr vor der Wahl des neuen Parteivorstands keine besonders attraktive Figur.
Vielleicht war es der Eindruck einer bei den Wahlen der nächsten Jahre nicht sehr erfolgreichen LINKEN, der die Schreiber des sozialdemokratischen Programms dazu gereizt hat, sich bei den programmatischen Arbeiten der LINKEN zu bedienen. Das Abkupfern von politischen Aussagen und programmatischen Forderungen ist anders als das Plagiat von Doktorarbeiten kein Sakrileg, sondernein begrüßenswertes Politikum. Es bedeutet ja nichts anderes, als dass in der politischen Konkurrenz linke Positionen in der Parteiprogrammatik nicht ignoriert werden können. Im Gegenteil. Es bleibt allerdings zu befürchten, dass Versprechen schon mit der Überlegung gegeben werden, sie im Ernstfall auch fallen lassen zu können.
Darauf deutet eine Merkwürdigkeit des SPD-Programms hin. Es ist Wahlprogramm, soll also Wähler überzeugen, und es wird zugleich als Regierungsprogramm bezeichnet, soll also die politische Praxis der Regierung leiten. Das ist eine Doppelfunktion, die nur erfüllt werden kann, wenn die SPD einMandat zur sozialdemokratischen Alleinregierung erhält. Das ist aber so gut wie ausgeschlossen.
Daher müssen Koalitionen geschmiedet werden, und da sind Kompromisse fällig. Wo hören die Kompromisse auf, welches sind die unverzichtbaren Essentials, dieHaltelinien sozialdemokratischer Regierungspolitik? Dazu ist in dem Programmleider nichts zu finden. Man wird es doch nicht mit Franz Müntefering halten, der es als unfair bezeichnete, Parteien an ihren Wahlversprechen zu messen? So schnoddrig kann man ja mit einem Regierungsprogramm nicht umgehen.
Was nun?, fragt sich der politisch interessierte Mensch. Als Wahlprogramm landendie 116 Seiten in Münteferings Tonne, das Regierungsprogramm kann es aber auch nicht sein, weil dieses erst in Koalitionsverhandlungen post festum nach dem 22. September verhandelt wird.
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