Bau auf, bau ab

Von Gregor Gysi

23.05.2013 / aus: der Freitag, 23.05.2013

SPD 150 Jahre Sozialdemokratie: Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Aber der Mut zur Veränderung ist ihr unterwegs verloren gegangen

Viel ist über die deutsche Sozialdemokratie gesagt und geschrieben worden, Gehässiges und Lobendes, Zutreffendes und Verfehltes. Insgesamt gibt es zu viele Urteile über diese Partei, als dass sie hier einzeln gewürdigt werden könnten – schließlich gibt es die SPD schon 150 Jahre lang. Dabei ist ja die Angabe des Gründungsdatums, auf das sich die SPD offenbar festgelegt hat, nicht ganz zutreffend. Sie meint damit die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins durch Ferdinand Lassalle und Mitstreiter im Mai 1863 in Leipzig. Nur wenige Jahre später gründete sich in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Ebenfalls im Mai, aber im Jahr 1875 und in Gotha, vereinigten sich beide Parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands.

Es gab folglich eher einen Gründungszeitraum als ein präzises Gründungsdatum. In zeitlicher Parallelität verlief, ebenfalls in Etappen, die Reichsgründung, „kleindeutsch“ und unter preußischer Dominanz. Die soziale Basis des Staates war ein reaktionärer Kompromiss zwischen dem Bürgertum, das Spielraum für ungehemmte kapitalistische Modernisierung erhielt, und der großagrarischen Junkerklasse. Ausgeschlossen von der politischen Macht blieb die eigentumslose Klasse, das Industrieproletariat. Die Arbeiter waren aber auch sozial ausgeschlossen.

Das Proletariat ist die eigentümlichste Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft. Einerseits nimmt sie im Produktionsprozess eine zentrale Stellung ein. Andererseits besitzt sie keine Produktionsmittel. Innerhalb einer auf Privateigentum basierenden Produktionsweise stellt sie deren Negation dar. Das war für Karl Marx jedenfalls der entscheidende Grund, ihr eine revolutionäre Rolle zuzuschreiben.

Auf diese Ausgrenzung einer ganzen Klasse kann eine politische Arbeiterpartei auf zweierlei Weise reagieren. Erstens: Sie kämpft für soziale und demokratische Reformen, um innerkapitalistische Integrationserfolge in sozialer und politischer Hinsicht zu erzielen. Zweitens: Sie verbindet den Kampf um demokratische und soziale Integration mit dem Ziel, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu beseitigen, zumindest die wichtigsten Produktionsmittel zu vergesellschaften. Gleichgültig, welche Alternative man bevorzugt: Beide stehen unter dem gemeinsamen Anspruch, dass Freiheit und Gleichheit für alle Mitglieder der Gesellschaft wirksam eingelöst werden müssen und nicht bloße Verfassungslyrik sein dürfen.

Im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts bedeutete „links“: sozialdemokratisch. Das heißt umgekehrt auch, dass damals noch nicht getrennt marschiert wurde, im Unterschied zum 20. Jahrhundert.

Solange der Druck gesellschaftlicher Verhältnisse auf politische Meinungsbildung nicht ein Entweder-Oder erzwingt, können Divergenzen in Kompromissformeln eingekleidet werden. Um einige Divergenzen zu benennen: innerkapitalistische Sozialreform oder Überwindung der Klassengesellschaft, Reform oder Revolution, Nationalismus oder Internationalismus, parlamentarische oder außerparlamentarische Arbeit oder regelmäßig beides. Um die Jahrhundertwende formte sich eine politische Strategie heraus, die von dem Historiker Dieter Groh als „revolutionärer Attentismus“ bezeichnet worden ist. Wenn man es etwas polemisch formulieren möchte: Nichts Riskantes tun und auf den Sozialismus hoffen. Denn der, so glaubte man Marx lesen zu dürfen, sei als historische Notwendigkeit der Geschichte ohnehin unumgänglich.

Die Haltung zum Krieg spaltete die SPD – mit fatalen Folgen

Was statt des Sozialismus kam, war der Erste Weltkrieg. Dieser Krieg war aber etwas anderes als alle vor ihm. Von den riesigen Materialschlachten bis zum Gaskrieg – die Menschen sahen sich plötzlich einer Jahre währenden Dauergewalt ausgesetzt. Nichts anderes verroht und brutalisiert Menschen so sehr.

Aufgrund ihrer Haltung zum Krieg spaltete sich die deutsche Sozialdemokratie. Die Befürworter der „Burgfriedenspolitik“, also Unterordnung der Parteitätigkeit unter die Kriegserfordernisse, mobilisierten allerlei opportunistische bis zweifelhafte Gründe. Sie konnten endlich beweisen, dass die Sozialdemokraten doch nicht die „vaterlandslosen Gesellen“ seien, als die sie immer dargestellt worden waren; andere sahen in der Unterordnung der kapitalistischen Wirtschaft unter ein militärisches Planungsregime bereits Übergänge in den Sozialismus.

Natürlich gab es auch antimilitaristische und internationalistische Strömungen in der SPD. Ihre Vertreter innerhalb der Reichstagsfraktion wurden von Friedrich Ebert aus der Fraktion und Partei ausgeschlossen. Damit wurde der Boden für die Gründung einer zweiten sozialdemokratischen Partei bereitet: der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). In ihren Reihen fanden sich politisch unterschiedlich gelagerte Mitglieder ein – von Rosa Luxemburg über Karl Kautsky bis zu Eduard Bernstein. Diese Namen zeigen, dass die innerparteilichen Kontroversen der Jahrhundertwende angesichts des Weltkrieges keine praktische Bedeutung mehr hatten.

Allerdings überwogen in der USPD revolutionär-sozialistische Haltungen. Ein erneuter Radikalisierungsschub setzte 1917 mit der Oktoberrevolution ein. Die Räterepublik wurde als politisches Ziel innerhalb der USPD ernsthaft diskutiert und fand unter vielen ihrer Mitglieder Akzeptanz. Sicher lag die USPD mit ihrer Einschätzung richtig, dass nur eine Revolution den Krieg beenden konnte. Denn die Rechte in Deutschland verfolgte nach wie vor das Ziel eines „Siegfriedens“, während die Reichstagsmehrheit zwar auf einen „Verständigungsfrieden“ setzte, dabei aber übersah, dass mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und der Wilson-Erklärung dieser Weg bereits abgeschnitten war.

Die Novemberrevolution etablierte eine provisorische Revolutionsregierung („Rat der Volksbeauftragten“), die paritätisch aus SPD- und USPD-Mitgliedern zusammengesetzt war. Dennoch hatte die SPD ein strukturelles Übergewicht, da Friedrich Ebert Regierungschef wurde und die SPD das Verteidigungsressort erhielt. In allen entscheidenden Fragen konnte man sich im Konfliktfall daher nur auf schwächliche Kompromissformeln festlegen, während die SPD an den Schalthebeln saß.

An Konfliktpotenzial herrschte auch kein Mangel. Um wieder nur einige Fragen zu nennen: Parlamentarische Republik oder Räterepublik? Etablierung sozialer Grundrechte im Verfassungsprozess oder Sozialisierung der Produktionsmittel? Einbindung der kaiserlichen Armee in die Sicherheitsarchitektur oder Aufstellung revolutionsloyaler Einheiten? Vertrauen in kaisertreue Bürokratie oder Kontrolle und demokratischer Umbau?

Ebert besaß unglaubliches Geschick und auch die nötige Hemmungslosigkeit, Probleme schnell dadurch zu lösen, dass er vollendete Tatsachen schuf. Unmittelbar nach der Revolution erledigte er die Frage nach der Zukunft der kaiserlichen Armee dadurch, dass er den Ebert-Groener-Pakt abschloss.

Insgesamt zeigte sich eine Neigung innerhalb der rechten Sozialdemokratie, nur so viel Fortschritt durchzusetzen, wie es die Reaktion gerade genehmigte. Die linkeren Revolutionäre fielen aber vor allem durch Unentschlossenheit und Zögern auf. Als Ende 1918 die „Weihnachtskämpfe“ begannen, trat die USPD aus der Regierung aus. Unmittelbar auf die Weihnachtskämpfe folgte der „Spartakusaufstand“, auf den die KPD aber eher aufsprang, als dass sie ihn ausgelöst hätte. Er wurde durch schwer bewaffnete Freikorps niedergeschlagen. Hunderte Tote waren zu beklagen, ermordet wurden Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und viele andere.

So viel soziale Gerechtigkeit, wie der Kapitalismus hergibt

Diese Ereignisse haben Spuren in der damals noch eher bedeutungslosen KPD und der USPD, zumindest in ihrer linken Mehrheit, hinterlassen. Sie bewirkten eine ideologische Weichenstellung, die deutlich von der Demokratie und Freiheit wegführte. Damit aber stand auch die Demokratie auf schwachen Füßen. Die SPD war darauf angewiesen, dass die Weimarer Demokratie von den bürgerlichen Kreisen toleriert wurde. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise witterte die Reaktion aber Morgenluft.

Es lässt sich nur schwer bestimmen, was in dieser Zeit mit „sozialdemokratisch“ identifiziert werden kann. Demokratie und Sozialreformismus, wie es die heutige SPD gern hätte, sicher auch. Aber dazu gehörte auch eine gewaltige Verkennung und Unterschätzung der gegenrevolutionären Kräfte, die bei der Niederschlagung des Spartakusaufstands bewiesen haben, dass sie vor Gräueltaten nicht zurückschrecken.

Allerdings hat die sich in den Parteikommunismus transformierende revolutionär-sozialistische Linke nicht verstanden, dass auch sie die Reaktion begünstigte, indem sie sich von der Demokratie und Freiheit abwendete. Die Nazis verfolgten die Mitglieder von KPD und SPD gnadenlos.

Nach dem Zweiten Weltkrieg misslang zwar die Einigung der Arbeiterbewegung. In der Sowjetischen Besatzungszone und im sowjetischen Sektor Berlins wurde sie erzwungen, in den westlichen Zonen verweigert. Der Einfluss der KPD verschwand in der bundesdeutschen Bevölkerung rasch. Das hat viele Ursachen, wozu sowohl der massive aufrecht erhaltene Antikommunismus der Nazi-Zeit als auch die wirklich nicht attraktiven Beispiele der Sowjetunion und der DDR gehörten. Die Einbindung der westeuropäischen kapitalistischen Staaten in die politische Konstellation des Kalten Krieges bewirkte eine weitere Stärkung des Antikommunismus, gerade weil dieser auf weit mehr gerichtet war als gegen kommunistische Parteien und den Staatssozialismus.

Dieser ideologische Druck führte die SPD in eine Dauerschwäche gegenüber den Konservativen. Ein Schritt, diese zu durchbrechen, war eine gründliche Revision der programmatischen Positionen. Bis zum Godesberger Programm 1959 operierte die SPD programmatisch auf der Grundlage des Heidelberger Programms, das wiederum nur eine aktualisierte Version des Erfurter Programms von 1890 darstellte. Der programmatische Kern der SPD war bis dahin also marxistisch. Diesen Kern schaffte die SPD ab. Ihre Idee von einem demokratischen Sozialismus nahm abstrakte Züge an, da sie auf die Angabe von gesellschaftlichen Bedingungen, gerade auch Eigentumsfragen und ökonomischen Strukturbedingungen des Sozialismus verzichtete.

Sozialdemokratie – das hieß von nun an: so viel soziale Gerechtigkeit, wie der Kapitalismus hergibt. Das Ironische an der Geschichte ist, dass die Konservativen es waren, die in den fünfziger und sechziger Jahren auf kapitalistischer Grundlage einen Sozialstaatskompromiss etablierten, den sich die Sozialdemokratie ideologisch dann aneignete. Eine ähnliche Wende vollzog sich im Rahmen der Vorbereitung der rot-grünen Koalition und verschärfte sich während der rot-grünen Regierungsjahre. Jetzt hieß es nicht mehr: so viel soziale Gerechtigkeit, wie der Kapitalismus hergibt, sondern so viel Abbau sozialer Standards, wie für die neoliberale „Modernisierung“ erforderlich ist. Damit einher ging auch eine Beschädigung des Begriffs sozialer Gerechtigkeit. Ging es der Sozialdemokratie einst darum, eine ausgegrenzte Klasse bei ihrer Emanzipation zu unterstützen, so betrieb sie jetzt den sozialen Abstieg von Teilen der Arbeiterklasse und zog den Staat aus sozialstaatlichen Aufgaben zurück.

Vielleicht kommt die Zeit, da die SPD den Geist sozialer Gerechtigkeit noch einmal entdeckt. Ich würde es begrüßen.

Einen weiteren Artikel zum Thema von Bernd Riexinger finden Sie auf www.tagesspiegel.de