Die Chance nutzen! Nach der griechischen Wahl
Aufruf des Vorstands Institut Solidarische Moderne
Die überwältigend eindeutige Wahl der Griech_innen hat in ganz Europa die Chance eines sozialen, demokratischen und ökologischen Umbruchs eröffnet. Abgewählt wurden das Austeritätsdiktat der Troika und der Ausverkauf der Zukunft eines ganzen Landes an die Finanzmärkte. Abgewählt wurden Armut, Hunger und Krankheit. Abgewählt wurden die griechische Oligarchie, die ihr verbundene politische Klasse, die Korruption, die Hoffnungslosigkeit.
Obwohl das griechische Referendum als solches auch zur Kenntnis genommen, verschiedentlich sogar anerkannt wurde, beharren erste Stellungnahmen aus Berlin und Brüssel auf den abgewählten Vereinbarungen. Allenfalls ist von Kompromissen in der Höhe der Zinsen und bei den Rückzahlungsfristen die Rede. Die Forderung nach einem dringend notwendigen Schuldenschnitt wird zurückgewiesen.
Deshalb hängt das Gelingen des jetzt möglichen Umbruchs nicht allein an der Entwicklung in Griechenland. Gerade weil wir den Griech_innen die Chance auf einen Neubeginn zu danken haben, sind jetzt wir alle herausgefordert. Ein Umbruch dieses Ausmaßes kann gar nicht die Sache einer Regierung, er kann nur die Sache eines breiten gesellschaftlichen Prozesses sein: einer europaweiten demokratischen Öffentlichkeit, sozialer Bewegungen und sozialer Auseinandersetzungen in allen Ländern der Europäischen Union.
Dabei kann der Widerstand gegen die Troika nicht vom Widerstand gegen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus getrennt werden. Es gibt hier nichts zu relativieren, nichts gegeneinander auszuspielen. Die Aufnahme der nationalistischen ANEL-Partei in die SYRIZA-Regierung stellt deshalb ein großes Risiko dar. Wie groß und unwägbar dieses Risiko ist, darin sind wir uns uneins. Klar aber ist, dass sich Migrant_innen in Griechenland – wie in allen Ländern Europas – täglich und allerorts in Lebensgefahr befinden. Das ist keine Nebensache. Deshalb stellt eine solche Kooperation für uns kein Modell dar. Mit der Ernennung der Menschenrechtsaktivistin Tasia Christodoulopoulou zur für Migrationsfragen zuständigen Ministerin hat SYRIZA gezeigt, dass ihr das eingegangene Risiko bewusst ist.
Wir haben gesagt, dass der anstehende Umbruch über alles Regierungshandeln hinausführt. Halten wir trotzdem fest, was die griechische Wahl uns lehrt. Ein historischer Umbruch wird notwendig, wenn eine herrschende Ordnung ihre Möglichkeiten erschöpft hat und absehbar nur noch Schmerz und Zerstörung hervorbringen kann. Für den Umbruch selbst aber müssen drei weitere Dinge zusammenkommen: erstens ein starkes subjektives und soziales Verlangen nach dem Umbruch; zweitens eine politische Akteur_in, die ihn bewerkstelligen will; und drittens ein hinzutretendes, auslösendes Moment. Alle drei Dinge sind in Griechenland zusammengekommen. Auslösendes Moment waren das Austeritätsdiktat der Troika und die Korruption der griechischen Eliten. Beidem entsprang das Verlangen nach einem Umbruch. Dessen Akteur_innen sind das SYRIZA-Bündnis, seine Aktivist_innen und Wähler_innen. Sie verbindet die politische Idee, dass der notwendige Umbruch kein griechischer sein kann, sondern ein europäischer Umbruch sein muss.
Wenn wir diese Idee jetzt zu der unseren machen wollen, heißt das nicht, dasselbe zu tun wie das, was die Griech_innen und SYRIZA getan haben. In Spanien streben bereits Abertausende auf anderen Wegen und in anderer Form demselben Ziel zu. Unsere Antwort steht noch aus. Deshalb schlagen wir vor, mit zwei Dingen zu beginnen.
Das erste ist die praktische und theoretische Anerkennung der (wenigstens) europäischen Dimension eines Umbruchs. Damit ist vielerorts schon begonnen worden: in den linken Parteien, in der außerparlamentarischen Linken und in den sozialen Bewegungen. Dafür steht BLOCKUPY Frankfurt als ein Ort, an dem engagierte Menschen aus ganz Europa zusammengekommen sind und am 18. März wieder zusammenkommen werden.
Das zweite ist die Erfindung einer politischen Form, in der auch in Deutschland versucht werden könnte, was in Griechenland und in Spanien schon erprobt wird. Dafür gibt es kein Modell. Eine solche politische Form wird nicht am Schreibtisch erfunden, sie kann nur aus Experimenten hervorgehen. Auch bei uns aber geht es um das Verhältnis parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik, moderaterer und radikalerer Linker, um das Verhältnis von Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften. Es geht um den Ausstieg aus alten Routinen, um ein freies Zusammenspiel und die produktive Austragung von Konflikten.
Griechenland und Spanien zeigen uns aber auch, dass es dabei um gesellschaftliche Mehrheiten gehen muss. Sie zeigen, wie schwer das werden wird, auch, was nicht übertragen oder nicht wiederholt werden kann. Kommen wir endlich zu unserem eigenen Anfang im gemeinsamen europäischen Umbruch.
Der Vorstand des ISM
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