Macht aus alledem was draus!
Rede von Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste,
heute spreche ich letztmalig als Vorsitzender unserer Bundestagsfraktion auf einem unserer Parteitage.
Die Legislaturperiode des Fraktionsvorstandes endet im Herbst 2015, ich werde nicht erneut kandidieren, da die Zeit gekommen ist, den Vorsitz unserer Fraktion in jüngere Hände zu legen.
Der Vorstand unserer Fraktion beschloss, am 13. Oktober 2015 Wahlen der neuen Vorsitzenden abzuhalten, die Wahlen für den übrigen Fraktionsvorstand finden am 3. November 2015 statt.
Die Entscheidung für den 13. Oktober ist schon deshalb wichtig, weil die Zahl 13, wie ich finde, eine Glückszahl ist.
Unsere beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, so haben wir es in der Geschäftsordnung der Fraktion geregelt, besitzen ein Vorschlagsrecht für meine Nachfolgerin und meinen Nachfolger. Sie haben damit eine große Verantwortung, die wir ihnen nicht durch ausufernde Personaldebatten erschweren sollten. Sie werden nach Beratungen, für die selbstverständlich auch ich zur Verfügung stehe, von ihrem Recht Gebrauch machen und eine Kandidatin und einen Kandidaten vorschlagen. Außerdem darf selbstverständlich jedes Mitglied der Fraktion auch von sich aus kandidieren.
Ich möchte einige wenige Bemerkungen zu meiner Entscheidung machen.
Im Mai 2013 saß ich mit verantwortlichen Genossinnen und Genossen des Parteivorstandes und der Fraktion vor der Bundestagswahl zusammen und habe ihnen erklärt, dass ich wüsste, dass die Hauptlast des Wahlkampfes auf mir als einem der Spitzenkandidaten liegen werde. Ich sagte, dass ich dies auch in Ordnung fände, aber niemals Wählerinnen und Wähler betröge und deshalb erneut anschließend für das Amt des Fraktionsvorsitzenden kandidierte. Ferner erklärte ich Ihnen, dass ich nach einer Legislaturperiode des Fraktionsvorstandes, also im Herbst 2015, nicht wieder kandidieren werde. Diese Entscheidung hatte ich damals bekannt gegeben, so dass ich versichern kann, dass spätere Erklärungen oder Empfehlungen von Personen oder Gremien der Partei nichts, aber auch gar nichts damit zu tun haben.
Da ich in Berlin Treptow-Köpenick direkt für vier Jahre in den Bundestag gewählt worden bin, ist auch klar, dass ich nach dem Ausscheiden aus dem Fraktionsvorstand Mitglied des Bundestages bleibe. Ich hoffe sogar, dann etwas mehr Zeit für meinen Wahlkreis zu finden. Die Frage, ob ich 2017 versuche, erneut für den Bundestag zu kandidieren, kann ich heute noch nicht beantworten. Ich werde diese Entscheidung im Jahr 2016 treffen. Selbstverständlich ist, dass ich meine Verantwortung als Fraktionsvorsitzender bis zum 13. Oktober 2015 vollständig wahrnehmen werde. Und ebenso selbstverständlich ist für mich, dass ich dann die Verantwortung wirklich abgebe, das heißt nicht heimlich versuchen werde, die Fraktion auf indirekte Art weiter zu leiten.
In letzter Zeit haben viele angefangen, meine Entscheidung vom Mai 2013 ernst zu nehmen, zumindest noch ernster zu nehmen. Sie haben mit mir gesprochen, um mich zu einer anderen Entscheidung zu bewegen. Noch nie war die Zustimmung zu mir in der Fraktion so groß wie jetzt.
Übrigens hat ein Abgeordneter - das hat mir auch gefallen - zu mir gesagt, dass ich für ihn das kleinere Übel sei und deshalb unbedingt bleiben solle. Ich bin ihm dankbar, denn jetzt weiß ich endlich, was das kleinere Übel ist, nämlich ich.
Und ich weiß auch, dass die Partei und ich in der Gesellschaft einen nicht ganz unbeachtlichen Akzeptanzschub genommen haben. All das freut mich wirklich sehr. Und ich möchte mich bei allen, die mit mir darüber diesbezüglich gesprochen haben, herzlich bedanken, aber ich glaube, dass man gerade in einer solchen Phase und mit 67 Jahren eine solche Verantwortung abgeben sollte und nicht erst, wenn ihr seit geraumer Zeit denkt, wann ich endlich aufhöre.
In den ersten Jahren meiner politischen Tätigkeit begegneten mir fast nur Extreme. Entweder wurde ich geliebt, fast angebetet, oder gehasst. Beides ist sehr anstrengend. Hass deshalb, weil man mit sich selbst nicht klarkommt, ich verstand die Ablehnung nicht. Ich wusste nicht, was ich den Leuten getan hatte. Aber die tiefe Zuneigung war noch schlimmer, weil ich wusste, dass ich die Wünsche der Menschen nicht erfüllen konnte, und es tat mir so weh, sie enttäuschen zu müssen.
Ihr werdet euch wundern, aber damals war es für mich im Westen leichter, obwohl wir dort ziemlich chancenlos waren, vielleicht auch, weil wir dort chancenlos waren.
Trotzdem vergisst man nicht, wer anfangs, damals noch von einem anderen Land, mit einem sprach und wer nicht. Im Januar 1990 besuchten mich Antje Volmer von den Grünen, der inzwischen leider verstorbene Harry Ristock und Egon Bahr, beide Sozialdemokraten. Wir sprachen intensiv miteinander und ich möchte mich heute bei Antje Volmer und Egon Bahr dafür bedanken. Harry Ristock lud mich übrigens 1990 zu seiner Laubenpieper-Party ein, die er jährlich im Frühjahr durchführte. Er teilte mir dann mit, dass die Hälfte seiner Gäste wegen der Einladung an mich abgesagt hätte. Ich sagte ihm, dass mir das Leid tue und ich ja nicht zu kommen brauche. Er sagte, ich müsse auf jeden Fall kommen, weil die Hälfte, die abgesagt hatte, ihn nicht mehr interessiere. Das hat mir schon imponiert.
Ich habe dann Hass und Ablehnung auch im Bundestag gespürt, ich weiß, welche Journalisten gegen mich ermittelt haben und in jeder Weise gegen mich vorgegangen sind und vorgehen. Ich weiß, wie viele Prozesse ich führen, wie sehr ich um meinen Ruf kämpfen musste. Ich werde die Anhörung im Immunitätsausschuss des Bundestages nie vergessen.
Übrigens hat die FDP trotz gravierender politischer Meinungsunterschiede bei mir für immer einen kleinen Stein im Brett, weil sie neben meiner Fraktion die einzige war, die bei meiner Verurteilung nicht mitmachte.
Den Rechtsstaat habe ich zu schätzen gelernt, denn die Gerichte gaben mir recht und nicht den anderen. Die Staatsanwaltschaften stellten die Ermittlungen gegen mich ein, wollen es zumindest, weil sie sich nicht missbrauchen ließen und lassen. Gerade weil ich auch in einer Diktatur gelebt habe, kann ich Euch nur raten, die Rechtsstaatlichkeit hoch zu schätzen und sie immer zu schützen, auch wenn einem die Gerichtsurteile logischer Weise nicht immer gefallen.
In dieser Phase gab es viel Solidarität aus meiner Partei, für die ich mich bedanken möchte. Ebenso möchte ich mich bei denen bedanken, die mich einluden, obwohl sie sich Ärger einhandelten. Und ich möchte mich auch bei den Journalistinnen und Journalisten bedanken, die mich gerade damals in Talkshows holten und das bei ihren Redaktionsleitungen durchsetzten oder die faire Interviews in Zeitungen mit mir führten, so dass ich Chancen bekam, das Bild über unsere Partei und mich zu korrigieren.
Ich werde nicht anfangen, einzelne Leute auf meinem politischen Weg zu würdigen, weil ich wichtige vergäße, was sie mir übel nähmen und ich mir selbst noch viel übler nähme.
Aber ich möchte Hans Modrow würdigen, der als vorletzter Ministerpräsident der DDR eine höchst komplizierte und sehr verantwortliche Tätigkeit leistete, die viel zu wenig, viel zu selten auch von uns gewürdigt wird. Ich weiß, Hans, dass wir nie eng befreundet waren, aber du sollst wissen, dass ich dich immer geschätzt habe und auch heute schätze.
Außerdem muss ich euch von dem Küchenkabinett erzählen, dessen Ruf so war, dass man es nicht in Ordnung fand, dass es dieses überhaupt gab, und sich gleichzeitig freute, dass es existierte. Dazu gehörten Lothar Bisky, dessen Tod mir sehr zu schaffen gemacht hat; Michael Schumann, dessen Tod eben so furchtbar für mich war; Dietmar Bartsch, André Brie, Heinz Vietze und ich. Natürlich wurden gelegentlich auch weitere Personen hinzugezogen, aber eine Truppe war das schon. Und wenn wir uns auf meinem damaligen Grundstück in Buckow trafen, haben wir alles Wichtige besprochen, oft auch geklärt. Allerdings haben wir auch sehr gut gegessen und nicht schlecht getrunken, um es ehrlich zu sagen.
Diesem Kabinett fehlte zweifellos die demokratische Legitimation, aber in der damaligen Zeit ging es nicht anders, dazu waren die Angriffe auf die Partei viel zu schwerwiegend. Und ich weiß, es gab ein Problem bei diesem Kabinett, die Quotierung. Aber ich versichere Euch, unter den Sechs war zumindest ein in jeder Hinsicht ausgewiesener Feminist. Ich sage Euch aber nicht, wer es war. Bedanken will ich mich aber heute und ausdrücklich bei Dietmar Bartsch, André Brie und Heinz Vietze.
Beachtlich war, dass es mir bei der Bundestagswahl 1994 gelang, drei höchst unterschiedliche, hervorragende, ältere Persönlichkeiten für unsere Fraktion zu gewinnen.
Heinrich Graf Einsiedel, Wehrmachtsoffizier, dann Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland. Er verließ die DDR, galt dann in der BRD vielfach als Verräter. Ein parteiloser, sehr feiner, eleganter, kluger und kritischer Geist.
Stefan Heym, ein Jude, der wegen der Nazis emigrieren musste, dann in den Streitkräften der USA gegen Hitler kämpfte, ein herausragender Schriftsteller, der schonungslos den Staatssozialismus kritisierte. Als er als parteiloser Alterspräsident den Bundestag 1994 eröffnete, brachten die Abgeordneten der CDU/CSU ihre Missachtung ihm gegenüber zum Ausdruck, was nur sie selbst beschädigte.
Beide sind inzwischen verstorben.
Gerhard Zwerenz, der die DDR in den 50er Jahren verließ, ist ein sehr wacher und analytischer Geist. Dieser Schriftsteller bezeichnete sich auf einem unserer Parteitage als Antikommunisten und erklärte uns, dass es davon auch eine demokratische, linke Variante gäbe. Vor kurzem wurde er 90 Jahre alt, und ich will ihm – und ich denke, auch in eurem Namen – noch einmal herzlich gratulieren.
Wenn diese drei Männer im Bundestag erschienen und redeten, konnte man den Abgeordneten der anderen Fraktionen den Neid im Gesicht buchstäblich ablesen, und wir waren zu Recht stolz.
Großes Glück hatte ich mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mir im Parteivorstand und im Bundestag direkt oder indirekt zugeordnet waren. Ich denke an die Fahrer, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mir bei der politischen Arbeit halfen, an die, die für mich organisierten und schrieben. Sie alle waren hundertprozentig loyal, sehr fleißig, solidarisch und schufen mir eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Bei ihnen will ich mich herzlich bedanken.
Aus der SED eine PDS zu transformieren, war eine ungeheuer schwere Aufgabe. Wie konnte ein wirklicher Drang zu Freiheit und Demokratie erreicht werden? Wie konnte man sozialistisch bleiben, ohne als Anhängerin bzw. Anhänger des gescheiterten Staatssozialismus zu gelten? Es gab zunächst massenhaft Austritte, den Wunsch nach Auflösung, aber auch den Wunsch nach Reformen.
Dass es uns gelungen ist, die Partei so umzukrempeln und Schritt für Schritt die Akzeptanz im Osten zu erweitern, das war eine Leistung, auf die wir stolz sein können. Trotzdem, das Projekt PDS wäre ausgelaufen, weil es kulturell nur äußerst geringe Chancen in den alten Bundesländern hatte. Deshalb war die Vereinigung von der Partei des Demokratischen Sozialismus mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit zur Partei DIE LINKE ein so wichtiger Akt, egal wie die Entwicklungen danach im Einzelnen beurteilt werden. Aus den alten Bundesländern haben sich hierbei Oskar Lafontaine, Klaus Ernst und Thomas Händel besondere Verdienste erworben. Machen wir uns nichts vor, ohne Oskar Lafontaine hätte das Ganze nicht geklappt, wäre auch ich übrigens nicht in die Politik zurückgekehrt. Auch wenn sich unsere Anteile an Wählerinnen und Wählern in Ost und West nach wie vor gravierend unterscheiden, wir sind inzwischen eine bedeutende politische Kraft in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind - wer hätte sich das früher vorstellen können - Oppositionsführerin im Deutschen Bundestag.
Inzwischen werden wir auch mit unserer scharfen Kritik am Abhörskandal gegenüber unserer Bevölkerung, an der Wirtschaftsspionage und an der Beschädigung der Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn durch die NSA, der Beihilfe durch den BND und dem Schweigen und Verschweigen durch die Bundesregierung ernst genommen und gehört.
Die Frage ist, was sollte unsere Partei auszeichnen?
Erstens. Wir brauchen ein zutiefst kritisches Verhältnis zum Staatssozialismus, also auch zur DDR. Wir müssen die Einschränkungen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit deutlich herausarbeiten und so glaubhaft wie möglich garantieren, dass wir ein Höchstmaß an Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anstreben. Wir müssen herausarbeiten, weshalb die Wirtschaft nicht funktionierte, den Mangel an Produktivität, Produkten und Dienstleistungen. Wir müssen für die Zukunft garantieren, dass es auch mit uns eine hohe Produktivität, eine funktionierende Wirtschaft und keine Mangelwirtschaft geben wird. Viel zu wenig wird mit uns eine funktionierende Wirtschaft verbunden, das muss sich ändern.
Andererseits dürfen wir aber nicht zulassen, dass das Bild von der DDR, die Leistungen der Menschen dort und ihre Biografien so arrogant, so von außen und ohne Kenntnis gewertet werden. Es gab beachtliche soziale und kulturelle Leistungen. Es gab leider eine politische Ausgrenzung auch in der Bildung, die es nie hätte geben dürfen, aber es gab keine soziale Ausgrenzung, wie wir sie heute massenhaft erleben. Der Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur war für jede und jeden in der DDR im Unterschied zu heute bezahlbar. Wenn wir das richtige Maß an deutlicher Kritik auf der einen Seite und an Respekt auf der anderen Seite finden, dann sind wir glaubwürdig.
Zweitens. Wenn wir sozialistisch bleiben wollen, müssen wir erklären, was uns und warum am Kapitalismus stört, auch was uns nicht stört, sondern im Gegenteil gut ist und wie man das Störende überwinden und das andere erhalten kann. Gegen eine kapitalistische Diktatur ist die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt, um sie zu überwinden, braucht man eine Revolution. Wir aber leben in einer politischen Demokratie. Deshalb kommt für uns nur der gewaltfreie Weg der Transformation in Frage. Wir müssen versuchen, eine Mehrheit der Menschen in unserem Land von unserem Weg zu überzeugen. Wenn uns das nicht gelingt, haben wir nicht das Recht, sie zu unserem Weg zu zwingen.
Aber was funktioniert am Kapitalismus und was nicht?
Der Kapitalismus kann eine höchst effiziente und produktive Wirtschaft hervorbringen, es gibt so gut wie nie einen Mangel an Waren und Dienstleistungen. Allerdings steht der Profit über allem. Ein Medikament für seltene Krankheiten rechnet sich nicht und wird so gut wie nie entwickelt. Die großen Banken und Konzerne haben eine übergroße und demokratiegefährdende Macht. Sie organisieren für sich eine funktionierende Weltwirtschaft, nehmen alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung, und es steht ihnen nicht einmal im Ansatz eine funktionierende Weltpolitik gegenüber. Wenn wir über eine Einschränkung der Macht der großen Banken und Konzerne nicht nur reden, sondern sie tatsächlich erreichen wollen, brauchen wir das Bündnis mit dem Mittelstand. Auch ihn stört die Marktdominanz der großen privaten Banken und Konzerne. Ihn stört auch, dass sie selbst Pleite gehen dürfen, die anderen aber nicht. Ihn stört, dass er ehrlich Steuern bezahlen muss, während sich die Konzerne und großen privaten Banken erfolgreich davor drücken.
Ein solches Bündnis brauchen wir also, aber es darf kein Zweckbündnis sein. Wir müssen es ernst meinen. Sie dürfen nicht den Eindruck haben, dass wir sie über die Steuern kaputt machen wollen. Klar muss für uns und sie sein, dass es unsere Pflicht ist, die Schwächsten in unserer Gesellschaft, dann die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber eben auch die breite Mitte der Gesellschaft, zu vertreten. Das heißt, wir sollten eine Partei sein, die die Interessen der Obdachlosen, der Asylbewerberinnen und Asylbewerber, der Flüchtlinge, der Hartz IV-Empfängerinnen und Hartz IV-Empfänger, der Arbeitslosen, aber ganz entschieden auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Rentnerinnen und Rentner, auch der Bäuerinnen und Bauern, der Beamtinnen und Beamten, nicht zu vergessen, der Kinder und Jugendlichen, der Menschen mit Behinderungen, der Freiberuflerinnen und Freiberufler, der Selbstständigen, der kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer vertreten. Das aber bedeutet, dass wir mit unserem Vorschlag von einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent bei der Einkommensteuer nicht zu früh anfangen dürfen. Wir sollten nicht die Mitte der Gesellschaft treffen. Ich finde, der Spitzensteuersatz sollte für das Einkommen gelten, dass bei einer Ledigen bzw. einem Ledigen über 100.000 Euro brutto pro Jahr liegt. Darüber wird beim nächsten Wahlprogramm zu diskutieren sein.
Übrigens, egal ob in Brandenburg oder in Berlin, wenn wir den Wirtschaftsminister oder den Wirtschaftssenator stellten, funktionierte die Wirtschaft gut. Ich finde, wir sollten aufhören, dies zu verschweigen und im Gegenteil beginnen, mit Stolz darauf zu verweisen.
Wir sollten dafür streiten, dass die öffentliche Daseinsvorsorge ausschließlich in öffentliche Hand gehört, dafür, dass die großen Privatbanken verkleinert und öffentlich-rechtlich wie die Sparkassen gestaltet werden. Alle Unternehmerinnen und Unternehmer sollten wissen, dass wir immer für mehr Demokratie in Unternehmen, das heißt für mehr Mitbestimmung und für angemessene und gerechte Löhne streiten werden. Aber sie sollen bis zum Mittelstand auch wissen, dass wir das Bündnis mit ihnen ehrlich suchen, auch ihre Interessen vertreten.
Ich werde häufig gefragt, ob ich denn wirklich glaubte, dass Mittelständlerinnen und Mittelständler uns wählten. Abgesehen von Ausnahmen wird das nicht der Fall sein. Ihr müsst aber Folgendes beachten: Mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer haben auf den größten Teil ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich mehr Einfluss als wir. Wenn sie ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erklären, dass sie ins Ausland gingen, falls wir an die Regierung kämen, oder kurz vor der Insolvenz stünden, wird es viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die uns nicht wählen.
Wenn wir das angesprochene Bündnis ehrlich eingingen, sagten sie zu ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in etwa: Na ja, die Linken sehe ich mal so, mal so. Das ist schon eine generelle Erlaubnis für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, uns zu wählen. Unterschätzt diese Seite nicht.
Der Kapitalismus kann keinen Frieden sichern. Das hat mindestens zwei Gründe. Es geht um die Eroberung von Märkten, und es wird am Krieg zu viel verdient. Deshalb sind unsere Forderungen nach einem Verbot von Rüstungsexporten und nach der Überwindung von privater Rüstungsproduktion besonders wichtig. Wir sind und müssen eine Friedenspartei sein und bleiben.
Der Kapitalismus bringt andererseits hervorragende Leistungen auf den Gebieten der Forschung, Wissenschaft, Kunst und Kultur hervor. Wir müssen aber einen zunehmenden Kulturabbau ebenso bekämpfen wie wir uns dafür einzusetzen haben, den chancengleichen Zugang aller zu Kunst, Kultur und Bildung zu ermöglichen. Wir müssen die entschiedensten Kämpfer auch dort gegen soziale Ausgrenzung sein. Der letzte Zweck von Politik muss ein Mehr an Kultur sein.
Wir brauchen als Partei wieder viel engere Gesprächskontakte zu Künstlerinnen und Künstlern, zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie sehen Dinge anders als wir, und es ist für uns so wichtig, die Partei und uns selbst auch mal anders gesehen zu bekommen.
Der Kapitalismus ist sozial höchst ungerecht. Es gibt eine zunehmende Tendenz, den Reichtum in wenigen Händen zu konzentrieren und die Armut zu verbreiten. Das ist eine Katastrophe und führt zu Not, Elend und Hunger. Jährlich sterben durchschnittlich 70 Millionen Menschen auf der Erde, die häufigste Ursache ist der Hunger. Obwohl wir eine Landwirtschaft haben, die die Menschheit zweimal ernähren könnte, sterben jährlich 18 Millionen Menschen an Hunger. Es darf nicht sein, dass Menschen wegen der Höhe des Profits verhungern müssen. 80 Personen auf der Welt besitzen genauso viel Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen, also die finanziell untere Hälfte der Menschheit – absurd! Wir sind also die Partei, die am entschiedensten für soziale Gerechtigkeit kämpft.
Der Kapitalismus hat aber auch große Schwierigkeiten, ökologische Nachhaltigkeit durchzusetzen. Wir stehen vor einer Klimakatastrophe. Ökonomische Interessen sprechen zum Teil gegen ökologische. Das ist das Problem des Kapitalismus. Wachstum ist übrigens ein positiver Begriff. Es ist nicht klug zu sagen, dass man gegen Wachstum sei, weil die Menschen das dahingehend missverstehen, dass man ihnen etwas wegnehmen, dass man ihre Lebensqualität einschränken will. In Wirklichkeit bedeutet aber ökologische Nachhaltigkeit ein Wachstum an Lebensqualität. Das muss man herausarbeiten. Die herannahende Klimakatastrophe zeigt, dass wir vor Menschheitsfragen stehen. Menschheitsfragen lassen sich nur beantworten, wenn es eine Struktur für Weltpolitik und ein Primat der Weltpolitik über die Wirtschaft gibt. Menschheitsfragen lassen sich nur beantworten, wenn die gravierendsten sozialen Probleme gelöst sind. Es muss eine Angleichung der Lebensverhältnisse auf allen fünf Kontinenten geben, damit sich die Menschen ihren Menschheitsfragen stellen. Eine Familie, die an Hunger leidet, interessiert sich weder für ökologische Nachhaltigkeit noch für Pressefreiheit. Außerdem zeigt dies, dass die Industriegesellschaften ernsthaft beginnen müssen, die Fluchtursachen zu bekämpfen, nicht die Flüchtlinge. Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist also auch eine wichtige Aufgabe, wenn man ökologische Nachhaltigkeit erreichen will. Und deshalb ist es so richtig und wichtig, wenn wir von sozial-ökologischer Nachhaltigkeit sprechen.
Was also im Kapitalismus funktioniert, muss bleiben und weiterhin funktionieren. Und was nicht funktioniert und ungerecht ist, das müssen wir versuchen, zusammen mit anderen zu überwinden.
Drittens. Ich möchte euch etwas zu einer möglichen Regierungsmitverantwortung im Bund sagen. Ich kann dies jetzt völlig frei tun, weil ich mit Sicherheit einer solchen Verhandlungsdelegation nicht angehören werde und nicht die geringste Absicht habe, Bundesminister zu werden. Ja, wirklich nicht die geringste.
Es gibt bei uns viele, die eine Regierungsverantwortung anstreben und es gibt solche, die sie nicht wollen. Letztere können das aber nicht zugeben und werden nur für sehr viele rote Haltelinien streiten, die man auf gar keinen Fall unterschreiten dürfe, in der Hoffnung, dass SPD und Grüne schon an der zweiten Haltelinie scheitern.
Und ich kann das durchaus verstehen. Mitverantwortung für die Nato, die Bundeswehr, schon die Europäische Union ist ihnen gruselig. Ehrlicher wäre, sie sagten einfach, dass sie dagegen sind. Aber sie wissen, dass sich 90 Prozent unserer Wählerschaft wünscht, das wir in einer Regierung Verantwortung übernehmen. Das hemmt sie in ihren Aussagen.
Ich finde übrigens im Unterschied zu vielen von uns, dass Haltelinien jeglicher Art, die andere Parteien kaum kennen, ein Misstrauen gegenüber der eigenen Verhandlungsdelegation zum Ausdruck bringt, das wir nicht nötig haben. Wir beschließen ein Wahlprogramm, das ist die Richtlinie. Die Vorsitzenden der Partei wären die Verantwortlichen für solche Verhandlungen. Misstrauen gegen sie ist nicht gerechtfertigt. Dabei ist doch eines klar, man muss kompromissfähig sein, aber man darf seine Identität nicht verlieren. Die Schritte können nach unserer Auffassung zu kurz sein, aber sie müssen in die richtige Richtung gehen. Und liebe Genossinnen und Genossen, wir sind eine 10-Prozent-Partei, keine 50-Prozent-Partei. Das müssen wir zunächst zur Kenntnis nehmen. Außerdem müssten bei uns die Mitglieder der Partei über eine Koalition im Bund ohnehin durch Urabstimmung entscheiden.
Die gesellschaftliche Akzeptanz, die wir inzwischen erreicht haben, ist über viele Jahre gewachsen und schwer erarbeitet worden. Dass wir kaum noch aus dem Bundestag wegzudenken sind, dass die Menschen im Land DIE LINKE inzwischen schon weitgehend für selbstverständlich erachten, sollte uns selbstbewusster machen. Es ist uns gelungen, das politische Spektrum der Bundesrepublik deutlich nach links zu erweitern, was vor 1989 völlig undenkbar war. Das ist eine historische Leistung. Wir haben Deutschland, was die Linke betrifft, europäisch normalisiert und müssen nun uns selbst ebenfalls normalisieren. Es wird Zeit, unseren Erfolg anzunehmen und den nächsten Schritt zu gehen, also alle Formen des politischen Agierens in den Ländern und im Bund als selbstverständlich wahrzunehmen, als Normalfall unserer politischen Arbeit zu begreifen.
Wir haben die Mitverantwortung durch Regieren bisher auch als Mittel betrachtet, gesellschaftliche Akzeptanz zu erringen. Dann aber macht man vielleicht das eine oder andere Zugeständnis zu viel, dann ist man vielleicht das eine oder andere mal zu wenig selbstbewusst.
Wir können und sollten auch auf Bundesebene regieren wollen, und zwar selbstbewusst, mit Kompromissen, aber ohne falsche Zugeständnisse. Eigentlich sollte man nie sagen, zu welchen Kompromissen man bereit wäre, weil das spätere Verhandlungen nicht erleichtert, sondern erschwert. Ich begehe aber mal diesen Fehler, um die Bereitschaft in unserer Partei zu erhöhen.
Selbst wenn wir nicht jeden Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland zurückbeordert bekämen, aber es schafften, dass sich Deutschland an Kriegen wie gegen Jugoslawien, gegen Afghanistan, gegen den Irak, gegen Libyen, bei allen Kampfeinsätzen auf keinen Fall während unserer Regierungsmitverantwortung beteiligte – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Wahrscheinlich schafften wir es nicht, dass es keinen Waffenexport mehr gäbe. Aber wenn wir erreichten, dass es keine Waffenexporte mehr in Spannungsgebiete und an Diktaturen gäbe - welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Natürlich schafften wir es nicht, die Europäische Union völlig umzukrempeln, aber wenn statt Sozial- und Demokratieabbau ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und Demokratie entstünde - welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Stellt Euch ein Aufbauprogramm für Griechenland, durch eine solche Regierung vorangetrieben, vor - welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Wenn es uns gelänge, die TTIP-Verhandlungen wenigstens auszusetzen und damit in der Zeit unserer Mitregierungsverantwortung zu stoppen – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies? Eine erfolgreiche Zeit der Aussetzung könnte das Ganze auch nach einer Regierungsverantwortung von uns zum Stoppen bringen.
Wenn uns im Verhältnis zu Russland Deeskalation gelänge, wenn Russland in Europa wieder integriert werden würde, und dadurch auch das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes wiederhergestellt werden könnte - welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Natürlich gäbe es auch bei einer Regierungsmitverantwortung von uns noch Geheimdienste und die NSA. Wenn es uns aber gelänge, selbstbewusst gegenüber der US-Regierung aufzutreten, Verhandlungen über ein No-Spy-Abkommen nicht vorzutäuschen, sondern zu erreichen, die Massenüberwachung und die Wirtschaftsspionage zu überwinden, die Vorratsdatenspeicherung zu verhindern sowie die eigenen Geheimdienste deutlich einzuschränken und wirksam zu kontrollieren – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Stellt euch vor, wir könnten die Zustimmungsrechte der Betriebsräte und der Personalräte erweitern und die prekäre Beschäftigung deutlich zurückdrängen. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter hätten zumindest ab der ersten Stunde Arbeitszeit Anspruch auf 110 Prozent des Lohnes, den jemand aus der Stammbelegschaft für die gleiche Arbeit in dem Unternehmen erhält. Damit würde Leiharbeit zur Ausnahme werden und die Stammbelegschaften nicht mehr über sie unter Druck gesetzt werden können. Der Niedriglohnsektor könnte viel effektiver bekämpft werden. Befristete Arbeitsverhältnisse gäbe es nur noch mit Sachgrund und nicht willkürlich. Der Missbrauch von Werkverträgen könnte ausgeschlossen, zumindest zurückgedrängt werden. Welcher gewaltige Fortschritt wäre es, wenn wir den Druck erhöhten, endlich für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit in Ost und West den gleichen Lohn zu zahlen? Und wenn wir durchsetzten, dass man in Ost und West für die gleiche Lebensleistung die gleiche Rente bezieht?
Welchen gewaltigen Fortschritt bedeutete mehr Steuergerechtigkeit? Es könnte uns gelingen, die Steuerfreibeträge für den ärmeren Teil der Bevölkerung zu erhöhen, die kalte Progression und den Steuerbauch für die Mitte der Gesellschaft zu beseitigen und den Spitzensteuersatz angemessen zu erhöhen. Natürlich müsste auch die Vermögensteuer wieder erhoben werden, ohne die kleinen und mittleren Unternehmen dadurch zu schwächen oder gar kaputtzumachen.
Welchen gewaltigen Fortschritt bedeutete es, endlich eine angemessene und stabile Finanzierung der Kommunen zu erreichen? Was nur über Umverteilung und Steuergerechtigkeit verwirklicht werden kann.
Ich sage euch offen: In den letzten Fragen sehe ich die größten Schwierigkeiten beim Ringen mit SPD und Grünen.
Dasselbe gilt für unsere Vorstellungen, die Rente grundsätzlich zu reformieren. In der nächsten Generation wollen wir, dass alle mit Erwerbseinkommen in die Gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Wir gönnen ihnen berufsständische Versorgungen und private Versicherungen. Aber es ändert nichts an ihrer Pflicht zur Einzahlung in die gesetzliche Rentenversicherung und das ohne Beitragsbemessungsgrenze. Wer ein hohes Einkommen erzielt, muss eben auch einen Beitrag von dem hohen Einkommen bezahlen. Und für Spitzenverdiener muss die Rentenerhöhung abgeflacht werden. Dann hätten wir gute Grundlagen, das Rentenniveau zu erhöhen, so dass die Menschen eine Rente bezögen, mit der sie den Lebensstandard aufrechterhalten könnten, den sie sich im Erwerbsleben erarbeitet haben. Altersarmut könnte also abgebaut und dann überwunden werden.
Durch eine Veränderung des Versicherungssystems könnten wir erreichen, die Zwei-Klassen-Medizin zu überwinden und eine ausreichend finanzierte Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsfürsorge zu gestalten, die sich ausschließlich nach der Art der Erkrankung des Menschen und nicht nach seiner sozialen Stellung richtet. Wir könnten die Pflege so finanziert bekommen, dass sie sich nicht nach Minuten, sondern nach den Bedürfnissen der Betroffenen richtet.
Schwierig wären auch die Verhandlungen zu einer sanktionsfreien Mindestsicherung.
Entschieden müssen wir uns für deutlich bessere Bildungseinrichtungen und Chancengleichheit vor allem für alle Kinder in der Bildung einsetzen und für die Überwindung der schlechten Bezahlung der so genannten Frauenberufe. Wir müssen versuchen, die Gesellschaft dafür zu öffnen, dass nicht nur gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sondern auch gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit erreicht werden muss. Deshalb gilt dem Arbeitskampf der Erzieherinnen und Erzieher, der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unsere volle Solidarität, obwohl wir die gewaltigen Probleme und Sorgen der Eltern, die nicht mehr wussten, wie sie ihre Kinder unterbringen sollten, gut verstehen und nachvollziehen können. Aber den Erzieherinnen und Erziehern, den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern blieb und bleibt kein anderer Weg.
Na, und dass endlich die Homo-Ehe käme, wäre wohl selbstverständlich.
Liebe Genossinnen und Genossen, wenn es jemals zu Verhandlungen kommt, werden sie schwer, aber wir alle haben nicht das Recht, uns vor Schwierigkeiten zu drücken. Und außerdem brauchen wir auch etwas Neues. Immer nur zu sagen, wir sind und bleiben Opposition und gehen auf gar keinen Fall in eine Bundesregierung, ist für die Akteurinnen und Akteure langweilig und für die Wählerinnen und Wähler wenig überzeugend. Aber leicht ist es nicht, in die Regierung zu gehen und trotzdem gesellschaftlich Opposition zu bleiben. Aber ich denke, wir könnten das schaffen. Ich finde, wir sollten diesbezüglich offensiver, fordernder werden und SPD und Grüne stärker unter Druck setzen. Mit Anbiederung hat das nichts zu tun, sondern mit dem Wunsch nach schnellen realen gesellschaftlichen Veränderungen. Veränderungen erreicht man auch in Opposition, aber eben nur deutlich schwieriger und langwieriger. Und wenn Sondierungen oder Koalitionsverhandlungen scheitern, dann darf dies nicht an uns liegen, sondern an SPD und bzw. oder den Grünen.
Denn sie stehen doch vor den eigentlich schwierigen Fragen. Will die SPD zur Alternative für die Union werden oder deren Anhängsel bleiben? Wollen die Grünen zur Union gehen oder das Gegenüber stärken? Aus diesen schwierigen Fragen sollten wir sie, liebe Genossinnen und Genossen, nicht entlassen. Darauf kommt es mir an. Darauf kommt es mir an.
Viertens. Eine wichtige Frage für unser Image besteht auch darin, ob wir eine Partei des Verbietens oder des Erlaubens werden. Jede und jeder von uns weiß, dass es bestimmte Verbote geben muss. Aber ich empfehle entschieden, dass wir eine Partei des Erlaubens werden.
Ich war mal auf einem Landesparteitag in einem Bundesland, in dem wir noch nicht in den Landtag eingezogen waren. Es ist uns übrigens bis heute noch nicht gelungen. Auf jeden Fall wurde über das Wahlprogramm diskutiert. Und dann stand ein Delegierter, der Sportwissenschaftler nannte, auf und erklärte, dass er als Sportwissenschaftler wüsste, dass sämtliche Europa- und Weltmeisterschaften schädlich für die Sportlerinnen und Sportler seien und deshalb vorschlüge, in das Wahlprogramm die Forderung nach einem Verbot von Europa- und Weltmeisterschaften in diesem Bundesland aufzunehmen. Und wenn ein Wissenschaftler so etwas sagt, hat es die Mehrheit auch sofort beschlossen.
Ich habe mich gefragt: Wir sind noch nicht einmal im Landtag, aber die Leute sollen gleich wissen, dass wir ihnen ein Vergnügen streichen. Warum könnte man nicht beschließen, über solche Fragen diskutieren zu wollen? Weshalb muss es gleich ein Verbotsbeschluss sein?
Fünftens. Natürlich müssen wir eine Partei bleiben, die Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und jede Form von Nazitum entschieden bekämpft. Deshalb steht uns auch keine Arroganz gegenüber dem so genannten Kleinbürgertum zu, im Gegenteil. Wir müssen versuchen, es zu gewinnen, dürfen es nicht dem Rechtsextremismus oder Rechtspopulismus einfach überlassen. Übrigens mag ich leidenschaftliche, engagierte, auch radikale Leute, aber keine Extremistinnen und Extremisten, schon weil sie frei von Humor und Toleranz sind.
Dass Rechtsextremisten furchtbar sind, ist klar. Linksextremisten können aber auch mehr als unangenehm sein. Übrigens, Tierschützerinnen und Tierschützer sind wichtig, aber fanatische Tierschützerinnen und Tierschützer sind mir auch unheimlich. Ich glaube, sie mögen Menschen nicht besonders.
Wenn wir diese fünf Punkte stärker beachteten, können wir uns endlich aus dem 10-Prozent-Wert bei den Bundestagswahlen nach oben entwickeln und auch außerparlamentarisch eine bedeutendere Rolle spielen.
Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, kurz für mich Resümee zu ziehen.
Als ich mich 1989 entschied, in die Politik zu gehen, ahnte ich nicht einmal im Ansatz, was auf mich zukommen sollte. Hätte ich es gewusst, hätte ich es wohl nicht getan. Aber vielleicht ist es ein Vorteil, dass man nie genau weiß, worauf man sich einlässt.
Wie ich eingangs sagte, haben sich die Akzeptanz unserer Partei und auch meine Akzeptanz in der Gesellschaft deutlich erhöht. Ich habe ja nicht viele Fähigkeiten, aber eine. Ich kann ziemlich gut mit sehr reichen Leuten, mit mittelreichen Leuten, mit Unternehmerinnen und Unternehmern aller Couleurs, vor allem mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, auch mit Rentnerinnen und Rentnern, mit Bäuerinnen und Bauern, mit Beamtinnen und Beamten, mit Jugendlichen, besonders gerne mit Kindern, mit Menschen mit Behinderungen, mit Arbeitslosen, mit Flüchtlingen, mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, mit Hartz IV-Empfängerinnen und Hartz IV-Empfängern, mit Obdachlosen und vielen anderen reden. Keineswegs immer unstreitig, aber eben reden. Das müssen wir, glaube ich, alle lernen. Und ich habe immer versucht, die politische Sprache zu übersetzen. Unser Ziel muss sein, verstanden zu werden.
Ich will und kann gar nicht einschätzen, was ich in der ersten Reihe der Politik in den letzten 26 Jahren geleistet habe, aber ich glaube schon, dass ich einen Anteil an den Möglichkeiten habe, die wir uns inzwischen erschließen konnten. Ich glaube auch, dass ich einen Anteil am gewachsenen Respekt habe. Und ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass wir inzwischen in der Geschichte der Bundesrepublik den ersten Ministerpräsidenten stellen, der links von der Sozialdemokratie organisiert ist. Ich freue mich, dass ich einen Anteil daran habe, dass man über einen demokratischen Sozialismus im Kapitalismus wieder ernsthaft diskutieren kann und dass herausragende linke Persönlichkeiten der deutschen Geschichte nicht vergessen sind. Das gilt für Karl Marx und Friedrich Engels, für Wilhelm Liebknecht und August Bebel, für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, für Clara Zetkin, für Karl Kautsky und Eduard Bernstein und viele andere.
Auch für linke internationale Persönlichkeiten wie Antonio Gramsci, die ich aber nicht schaffe, auch nur einigermaßen vollständig aufzuzählen, gilt, das wir einen Beitrag geleistet haben und auch künftig leisten müssen, dass sie nicht aus dem Gedächtnis der Gesellschaft gestrichen werden.
Ich habe eine Bitte an Euch: Macht aus alledem was draus!
Das Leben in der ersten Reihe der Politik hat seine Vor- und Nachteile. Die Eitelkeit wird schon durch den hohen Grad der Bekanntheit befriedigt. Es gibt auch kleine Vorteile. Da bekommt man gelegentlich noch Plätze oder Karten, die es eigentlich nicht mehr gibt.
Man hat aber vor allem mehr Einfluss auf Veränderungen des Zeitgeistes, man lernt Persönlichkeiten kennen, an die andere gar nicht herankommen. Ich kann sie nicht alle aufzählen, aber besonders stolz bin ich auf mein Treffen und Gespräch mit Nelson Mandela, eine der herausragendsten Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte. Diese Kraft, diese Toleranz, diese Großmütigkeit nach über 20 Jahren Haft bei ihm, fast unvorstellbar.
All dies war für mich in diesen Jahren eine große Bereicherung.
Aber die Mitgliedschaft in der ersten Reihe der Politik hat bei mir auch spezielle und generell gravierende Nachteile. Man steht unter ständiger öffentlicher Kontrolle. Ich habe viel zu wenig Freundschaften gepflegt, ich hatte viel zu wenig Zeit für meine Angehörigen, und das lag nicht an euch, die ihr mich eingeladen habt, das ist euer Recht, das ist sogar eure Pflicht, auch nicht an den anderen, die mich einluden, sondern es lag an mir, weil ich zu selten Nein sagte, mich einfach zu wichtig nahm.
Das ist eine große Gefahr, wenn man in der ersten Reihe der Öffentlichkeit steht. Ich werde andere nicht davor bewahren können. Aber bei meinen Angehörigen, meinen Freundinnen und Freunden möchte ich mich heute aufrichtig entschuldigen. Es tut mir sehr, sehr leid.
Zum Schluss will ich allen Mitgliedern unserer Partei, will ich allen Sympathisantinnen und Sympathisanten unserer Partei, will ich allen Wählerinnen und Wählern unserer Partei, will ich aber auch denjenigen, die zwar unsere Partei nicht wählten, aber mir ihre Stimme gaben, will ich denen, die das alles nicht waren, aber unsere Partei immer fair begleiteten und auch denjenigen, die dies zwar nicht wollten, aber immerhin mich fair begleiteten, will ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, meinen Freundinnen und Freunden und meinen Angehörigen, die ich heute hier begrüßen darf, vor allem meiner Schwester Gabriele, meiner langjährigen Partnerin Andrea in dieser Zeit, meiner vorherigen Partnerin Monika, meinen Kindern Anna, George und Daniel, euch und ihnen allen ein Wort sagen: Danke!
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