Um-Care - Gesundheit und Pflege neu organisieren
Von Barbara Fried und Hannah Schurian (Hrsg.)
«Mehr von uns ist besser für alle» schreiben die streikenden Pflegekräfte am Berliner Universitätsklinikum Charité auf ihre Transparente. Sie bringen damit eine neue Qualität der aktuellen Proteste im Gesundheitswesen auf den Punkt. In ihrem Arbeitskampf geht es nicht nur um konkrete Forderungen nach mehr Personal, höheren Löhnen oder weniger Stress. Sie streiten für eine gute, öffentliche Gesundheitsversorgung – und sind damit bei Weitem nicht allein: Im ganzen Land legen sich Pflegekräfte in Flashmobs auf die Straße und drücken ihre Wut darüber aus, dass die «Pflege am Boden» ist. Hinzu kommen die unzähligen, oft wenig bekannten Initiativen, in denen sich Menschen, die auf Assistenz oder Pflege angewiesen sind, genauso wie pflegende Angehörige und FreundInnen selbst organisieren. Sie alle wollen raus aus der Vereinzelung, ringen um Teilhabe und Anerkennung. Gegen wachsende Ökonomisierung und Sparpolitik geht es in solchen Auseinandersetzungen, auch um Ansprüche an ein Leben, das mehr ist als das ständige Rennen im Hamsterrad. Es geht um eine Gesellschaft, in der gute Pflege sich nicht am Profit messen muss und alte Menschen so viel Zeit zum Essen haben, wie sie wollen; eine Gesellschaft, in der die Sorge für sich und andere nicht unter permanentem Kosten- und Zeitdruck steht, sondern ins Zentrum des gemeinsamen Handelns rückt. Einige von ihnen versuchen schon hier und jetzt Pflege und Gesundheitsversorgung anders zu organisieren. Von der praktischen Solidarität der «Medibüros», die seit Jahrzehnten die Lücken in der öffentlichen Versorgung geflüchteter Menschen stopfen, bis hin zu Gesundheitskollektiven und Poliklinik-Projekten, die praktische Alternativen in der ambulanten Versorgung schaffen. Gestritten wird an all diesen Orten für einen grundlegenden Perspektivwechsel im Gesundheitssystem, für eine «UmCare».
Die Breite des Protests zeigt auch das Ausmaß der Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie stellt viele Menschen Tag für Tag vor unlösbare Herausforderungen und Widersprüche. Beschäftigte können den Ansprüchen an die Qualität ihrer Arbeit immer weniger gerecht werden. PatientInnen und Menschen mit Assistenzbedarf leiden darunter, dass gesundheitliche und soziale Risiken zunehmend den Einzelnen aufgebürdet werden. Armut, Ausgrenzung und Stress erleben auch pflegende Angehörige und FreundInnen – für ihre Arbeit gibt es weder Anerkennung noch Absicherung, und mit ihrer Sorgeverantwortung bleiben sie häufig allein. Vorhandene Ungleichheiten und soziale Spaltungen werden durch die Art und Weise, wie Sorgearbeit gesellschaftlich organisiert ist, noch verstärkt: Nach wie vor sind es überwiegend Frauen, die diese Arbeit unter prekären Bedingungen verrichten, einen großen Teil davon gänzlich unbezahlt. Im reichen Norden wird Care-Arbeit zunehmend an MigrantInnen delegiert und damit die Ungerechtigkeit globaler Arbeitsteilung vertieft.
Beiträge:
- Andreas Aust, Olaf Klenke, Katrin Mohr und Sabine Zimmermann:
Gute soziale Dienstleistungen und Infrastruktur für eine bessere Gesellschaft - Julia Dück und Barbara Fried:
«Caring for Strategy». Transformation aus Kämpfen um soziale Reproduktion entwickeln - Luigi Wolf:
«Mehr von uns ist besser für alle!». Die Streiks an der Berliner Charité und ihre Bedeutung für die Aufwertung von Care-Arbeit - Sarah Schilliger:
«Wir sind doch keine Sklavinnen!». (Selbst-)Organisierung von polnischen Care-Arbeiterinnen in der Schweiz - Renia Vagkopoulou und Kirsten Schubert:
«Futuring Health Care». Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation
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