Nach Clausnitz und Bautzen Konsequenzen ziehen - so geht sächsisch nicht mehr
Rede von Rico Gebhardt in der Sondersitzung des Sächsischen Landtags am 29.02.2016
Es gilt das gesprochene Wort!
Ich werde heute hier kein allgemeines Sachsen-Bashing betreiben. Ich kann mich ja auch kaum hinstellen und sagen: Mit Sachsen habe ich nichts zu tun. Meine regionale Herkunft liegt mir immer auf der Zunge und dazu stehe ich auch in schwierigen Zeiten.
Ja, der Freistaat Sachsen hat ein immenses Imageproblem: Die einen können nicht verstehen, was bei uns abgeht, und die anderen machen sich über uns nur noch lustig, wie am Freitagabend in der „Heute-Show“.
Sie, Herr Ministerpräsident, meinen, es sind nur einige wenige, die uns dieses Problem machen. Viele Sachsen wiederum verstehen überhaupt nicht, warum wir gerade so im Fokus der öffentlichen Kritik stehen, darunter viele CDU-Abgeordnete hier im Parlament, und zeigen mit den Finger auf andere, aber dazu komme ich noch.
Ob wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Innovation – da ist die Bevölkerung unserer Region seit achthundert bis tausend Jahren immer ganz vorne mit dabei auf der Welt.
Das galt allerdings leider teilweise auch für die Schattenseiten der Geschichte – und so hatte Nazi-Deutschland in Sachsen besonders starke Stützen. Wir sollten also heute keine Zeit mit dem Versuch vergeuden, Mythen zu retten, sondern der Wirklichkeit ins Auge sehen und daraus Konsequenzen ziehen.
Denn so wie derzeit geht sächsisch tatsächlich nicht mehr!
Keinen Monat, keine Woche, keinen Tag mehr!
Herr Ministerpräsident, ich habe Sie zwei Mal im Landtag ausdrücklich für Ihre Worte zum Thema rechte Gewalt und Rassismus gelobt und meinen Respekt gezollt.
Sorry, aber ein drittes Mal tue ich es nicht, denn ich glaube Ihnen kein Wort mehr.
Die Arbeitsteilung in der sächsischen CDU hat Sachsen an den Abgrund geführt. Sie, Herr Tillich, als Mann der moralischen Empörung mit den entsprechenden Zitaten für die Medienlandschaft, und die Herren Kupfer, Krauß und Kretschmer als politisches Rauschmittel für den sächsischen - provinziellen Alltags-Rassismus. Die Ergebnisse sind eine Serie von durch nichts zu rechtfertigenden Vorfällen, deren vorerst letzte spektakuläre Tatorte Clausnitz und Bautzen sind.
Es war der CDU-Fraktionsvorsitzende Kupfer, der in der vorletzten Woche in der „Freien Presse“ den Satz gesagt hat: (Zitat)
„Die Bevölkerung braucht ein Zeichen in der Flüchtlingskrise, dass jetzt Schluss ist.“
Einige Bürger haben das kurz darauf in Clausnitz in die Tat umgesetzt und ein Zeichen gesetzt. Ich nenne das politisches Zündeln, und andere zünden dann tatsächlich wie in Bautzen.
Es war nur eine Frage der Zeit, wann erstmals öffentlich ein solches Verbrechen am Tatort beklatscht und die Feuerwehr an der Arbeit gehindert wird. Solange wir eine solche Stimmungslage in der Mitte der Gesellschaft in Sachsen haben, sind Clausnitz und Bautzen potenziell überall.
Es kann sich jederzeit und überall wiederholen.
Hören Sie also auf, weltfremd von Radikalisierung an den Rändern zu sprechen, oder davon, dass einige wenige das Ansehen des Landes besudeln. Das ist eine gemeingefährliche Verharmlosung, Herr Tillich!
Ich bin der Letzte, der einseitig einer Partei die Schuld in die Schuhe schiebt. Auch wir LINKE sind Teil der Gesellschaft. Auch uns ist es nicht gelungen, einen ausreichend großen Beitrag zur Befriedigung in der Bevölkerung zu leisten.
Es gebietet aber der Respekt vor der Realität, dass der Einfluss einer seit 25 Jahren dauerregierenden Partei wie der CDU vielleicht doch ein bisschen größer ist als der Einfluss einer Partei, die seit 25 Jahren in Opposition ist. Und solange Sie mir die alleinige Verantwortung für die 40 Jahre davor anlasten, werde ich die CDU nicht aus ihrer Verantwortung für das entlassen, was wir hier seit 25 Jahren erleben.
Nun stellt der Bautzener CDU-Landtagsabgeordnete Marko Schiemann fest:
Schuld an der existenziellen Verunsicherung der Bevölkerung sei eine Niedriglohnpolitik, die viele außer Landes getrieben habe; und die, die noch da sind, sähen sich nun in Konkurrenz mit Migranten um schlecht bezahlte Jobs.
Herr Schiemann, Sie vertreten den Wahlkreis Bautzen seit einem Vierteljahrhundert in diesem Hohen Haus.
Herr Schiemann, Sie haben sicher acht Mal einen CDU-Ministerpräsidenten mit gewählt, der – egal wie er hieß – Niedriglohnpolitik betrieben hat.
Wer hat bis zuletzt - sogar bundesweit- gegen den Mindestlohn gekämpft: die sächsische CDU und der sächsische Ministerpräsident!
Herr Schiemann, ich will Ihnen noch ein wenig weiter auf dem Weg der Erkenntnis helfen: Es war Ihre CDU, die mit ihrer feudalistischen Leuchtturmpolitik die sozioökonomischen Fundamente der Regionen ignoriert hat.
Es war Ihre CDU, die so die Axt angelegt hat an die Verwurzelung so vieler Menschen. Sie, die selbsternannte Partei der sächsischen Heimat, haben Hunderttausende aus der Heimat vertrieben. Und das, obwohl Sachsen nach 1989 als uraltes Industrieland viel bessere Startbedingungen hatte als beispielsweise Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern.
Die Menschen sind aus Sachsen geflohen, auch und gerade vor Ihrer Niedriglohnpolitik. Und viele pendeln bis heute zur besser bezahlten Arbeit in Bayern und anderswo, was auch Sie, Herr Schiemann, jeden Sonntagabend auf der Autobahn sehen könnten.
Vor der aktuellen demografischen Wende durch die Geflüchteten der letzten Jahre haben seit 1990 fast eine halbe Million mehr Menschen Sachsen verlassen, als hierhergekommen sind.
Das Allheilmittel der staatlichen Wirtschaftsförderung war jahrzehntelang der Niedriglohn – da hat Herr Schiemann Recht, auch wenn er nichts dagegen unternommen hat.
Unsere Kritik seit 1990 an einer CDU-Politik, die den Rahmen für ausbeuterische Lohnverhältnisse gesetzt hat, wurde am liebsten mit der Behauptung gekontert, wir wollten den alten Sozialismus wieder haben.
Herr Tillich, Sie sagten am Freitag im Bundesrat und haben es heute ja auch wiederholt: (Zitat) „Sachsen hat ein Problem mit Rechtsextremismus, und es ist größer, als der eine oder andere bisher wahrhaben wollte.“
Okay, damit ist nun nach gut 15 Jahren die Legende des CDU-Ministerpräsidenten Biedenkopf, Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus, vom CDU-Ministerpräsidenten Tillich widerrufen worden.
Ich erlaube mir den Kommentar: Die extreme Langsamkeit gesellschaftlicher Lernprozesse in der sächsischen CDU ist nur noch peinlich!
Wer aber bitte ist „der eine oder andere“, der die Realität der extremen Rechten nicht wahrhaben wollte?
Ich sag es Ihnen: Sie, Herr Ministerpräsident und Ihre Sachsen CDU, und ich will Ihnen das an einigen wenigen Beispielen deutlich machen:
Wer tat denn so, als hätten die Mörder vom sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) gar nichts mit Sachsen zu tun, obwohl der Freistaat das Basislager für ihren Terror war?
Stanislaw Tillich und die CDU.
Sie, Herr Tillich, ließen sich seinerzeit nicht in Zwickau blicken, als der NSU dort aufgeflogen war. Das von der CDU verursachte peinliche Gezerre um den NSU-Untersuchungsausschuss hier im Landtag ist noch in frischer Erinnerung.
Wer wollte nicht wahrhaben, dass die großen Anti-Asyl-Proteste in Schneeberg vor zwei Jahren mehr als nur ein lokales Problem sind? Stanislaw Tillich und die CDU. Kommunikativ lief seitens der Staatsregierung alles schief, was schief laufen konnte.
Freital. Der CDU-Innenminister nimmt an einer Podiumsdiskussion teil, und die einzige Frau, die sich für Geflüchtete ausspricht, wird niedergebrüllt und vom Mikrofon gedrängt. Herr Ulbig bleibt sitzen und guckt zu.
Heidenau. Die Antwort der CDU-Verantwortungsträger verschiedener Ebenen auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände durch einen marodierenden Mob war ein totales Versammlungsverbot über mehrere Tage, dem auch ein Willkommensfest für Geflüchtete zum Opfer fallen sollte. Irrer geht’s nicht, Einhalt gebot erst das Verwaltungsgericht, nach der Klage eines Studenten!
Dresden. Der Innenminister Ulbig trifft sich mit den PEGIDA-Spitzenleuten und verweigert Antworten dazu gegenüber dem Parlament. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof in Leipzig urteilte dazu: Verfassungswidrig.
Ich frage Sie – nunmehr nach Clausnitz und Bautzen -, ich frage Sie, Herr Tillich, Herr Ulbig, wer wollte hier nicht wahrhaben, dass die größte Gefahr für die öffentliche Sicherheit genau aus dieser Ecke kommt, in die Sie hineingekrochen sind?
Wer hat auf einem Bürgerdialog überwiegend mit Pegidisten und anschließend in einem großen Interview ins Land hineingerufen:
Der Islam gehört nicht zu Sachsen!
Wer wollte nicht wahrhaben, was er mit diesem Satz der Ausgrenzung anrichtet? Stanislaw Tillich.
Sie wollten damit offenbar wieder mal vorsätzlich demonstrativ die besonders eigenständige Rolle von Sachsen betonen. Das Ergebnis: schlicht verheerend.
Nun rufen Sie, Herr Tillich, plötzlich nach der (Zitat) „ganzen Gesellschaft“, die Ihren Scherbenhaufen zusammenkehren soll. Wie aber sind Sie all die vergangenen Jahre mit dieser Gesellschaft umgegangen?
Aktivistinnen und Aktivisten, die sich gegen Rassismus und Neonazis engagieren, werden in Sachsen gegängelt. Antifaschisten und regierungskritisch Denkende werden als Ruhestörung, Einmischung, ja gar als Bedrohung wahrgenommen.
Jahrelang ermittelte das Landeskriminalamt gegen eine vermeintliche „Antifa-Sportgruppe“, die in Sachsen Jagd auf Neonazis gemacht haben soll. Die Polizei durchsuchte Wohnungen, stürmte das Dresdner Haus der LINKEN, spionierte Telefone aus und sammelte eine Million Handydaten. Ergebnisse: Keine.
Thema Sachsensumpf: Da wird überdeutlich sichtbar, wie Justiz instrumentalisiert worden ist. So wurden mehrere Dutzende Gegenverfahren eingeleitet. Es wurden und werden bis heute einige Dutzend Menschen verfolgt, die sich um Aufklärung bemüht hatten. Herr Mackenroth wird sich sicherlich noch gut an seine Zeit als Justizminister erinnern.
Aber zurück zur unmittelbaren Gegenwart: Die mittelsächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann fabuliert in den Tagen von Clausnitz und Bautzen über (Zitat) „übermäßige Toleranz“ gegenüber Ausländern, die schlimme Folgen habe.
Herr Tillich, die geistigen Brandstifter sitzen mit Rang und Namen in Ihrer sächsischen Union.
Ja, wir sind für mehr Polizei, weil Sie, die CDU, die sächsische Polizei jahrelang personell haben ausbluten lassen. Aber das Problem der geistigen Brandstiftung aus der regierenden sächsischen Union heraus werden wir nicht mit Hilfe der Polizei lösen können!
Herr Ministerpräsident, es sind nicht nur die Ereignisse selbst, die Sachsen in so einem schlechten Licht erscheinen lassen.
Es sind nicht nur die verurteilungswürdigen Vorfälle, sondern es ist der von Ihnen, Herr Ministerpräsident, und Ihrer CDU in Sachsen gepflegten Umgang damit:
Nur reagieren, wenn es gar nicht mehr geht,
dann relativieren und mit dem Finger auf andere zeigen
und anschließend wieder zur Tagesordnung übergehen.
Das ist die Strategie der sächsischen Staatspartei CDU seit vielen Jahren.
Die sächsische Union hat in Sachsen einen Kulturkampf im Namen scheinbarer konservativer Werte geführt, in dem der Freistaat nun selbst zu Bruch zu gehen droht.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU, haben aus Gründen parteipolitischer PR einen Sachsen-Chauvinismus hoch gezüchtet, der uns zum Nabel und Maß der Welt machen sollte.
Die sächsischen Christdemokraten hegen einen undemokratischen politischen Alleinvertretungsanspruch.
Zu dem Zweck betreiben sie unter anderem auch eine Geschichtspolitik, die so tut, als sei die CDU der alleinige Motor der friedlichen Revolution gewesen. Auf das revolutionäre Erbe erheben sie den alleinigen Anspruch.
Gleichzeitig treibt die sächsische CDU in ihrer Sehnsucht nach einem ungetrübt heldenhaften Sachsen eine „Normalisierung“ der Geschichte voran, in der die Erinnerung an die NS-Verbrechen nur stört.
So erklärt Sachsens Ministerpräsident, auf einer Veranstaltung Anfang 2015 in der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain zum 70. Jahrestag der Befreiung von Krieg und Nationalsozialismus: (Zitat)
„Für den Westen Deutschlands war das Kriegsende 1945 eine Befreiung. Für den Osten war es der Beginn neuen Unrechts.“
Damit wird die Befreiung von einem Regime, das einen Weltkrieg mit 60 Millionen Toten angezettelt und industriellen Massenmord als Herrschaftsmethode eingesetzt hat, in den Schatten der friedlichen Revolution von 1989 gestellt.
Die wiederum hat die sächsische CDU für sich gepachtet, wie die Einladungs-Unkultur anlässlich der Feierlichkeiten zu 25 Jahren Landtag und Freistaat erneut unter Beweis gestellt hat.
Dabei hindert die Verurteilung der DDR die sächsische CDU nicht daran, sich machttechnisch aus dem realsozialistischen Erbe reich zu bedienen.
Als erstes mit der Wiedererrichtung einer Staatspartei. Die findet nicht nur grundsätzlich jede Idee der Opposition Mist, weil es ja die Opposition ist. Sie lässt auch die Bevölkerung nur aus demokratiefolkloristischen Gründen ab und an ein bisschen mitdiskutieren, ohne natürlich Ideen aus der Bevölkerung zu berücksichtigen.
Es ist allgemein bekannt, dass die direkte Demokratie in Sachsen im Koma liegt, weil die Hürden zu hoch sind.
Wer aber blockiert jede Mitsprache der Bevölkerung?
Sachsens CDU und Marko Schiemann.
Wer hat sich verweigert, als wir darauf drängten, bei der Verfassungsänderung nicht nur über die Schuldenbremse, sondern auch über die Volksgesetzgebung zu sprechen?
Der CDU-Rechtspolitiker Marko Schiemann und die CDU-Landtagsfraktion.
Die Verunsicherung der Bevölkerung in Sachsen war schon da, bevor die Geflüchteten bei uns angekommen sind.
Sie ist das Ergebnis der sozialen und regionalen Spaltung der Bevölkerung durch eine CDU-Politik, für die Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich Fremdwörter sind.
In den neunziger Jahren ist in Sachsen etwas abhanden gekommen, was dem Selbstbewusstsein der Bevölkerung ungeachtet aller Sachsenstolz-Beschwörungen der dauerregierenden CDU das Rückgrat gebrochen hat: das sozioökonomische Fundament der Regionen.
Heute ist außer Leipzig und Dresden (und vielleicht noch Chemnitz/Zwickau) fast überall gefühlte Provinz, man spricht von „ländlichen Räumen“, die es bisher im fast überall dicht besiedelten Industrieland Sachsen kaum gegeben hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der CDU,
Sie möchten ja jetzt Vorschläge aufgreifen, die dem Unmut abhelfen, der auch Menschen auf die Straße treibt.
Ich sage Ihnen, welche Vorschläge das sind, ich sage Ihnen, was man sofort im Land tun kann und wofür man sich als Sachsen sofort über den Bundesrat stark machen kann:
1. Eine Beendigung der Sanktionen gegen Russland!
2. Eine Beendigung der Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen!
3. Eine Entwicklungshilfe, die nicht auf eine Alimentierung der Menschen setzt, sondern auf Hilfe zur Selbsthilfe. (Damit nicht wie beim Aufbau des Ostens das Geld für den Osten auf Umwegen wieder zurück in den Westen fließt.)
4. Eine Bürger_innenversicherung für alle.
5. Eine solidarische Mindestrente für alle!
6. Eine sanktionsfreie Mindestsicherung für alle!
Und in Sachsen können Sie sofort eine Schule für alle bis mindestens zur Klasse 8 einführen.
Für all das hätten Sie nicht nur unsere Unterstützung, sondern auch die Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung, und Sie würden vielen Menschen ihre – in diesem Fall – berechtigten sozialen Ängste nehmen.
Es tut mir Leid, Herr Tillich, aber wenn in dem Landkreis, in dem Sie Ihren Wahlkreis haben, bei den 18- bis 35-Jährigen auf 100 Männer nur noch 80 Frauen kommen, ist dies auch das Ergebnis der Politik der sächsischen Union. Sie haben viele junge, gut gebildete Frauen mit Ihrer – in jeder Hinsicht! - rückwärtsgewandten Politik vertrieben.
Wenn Sachsen wieder Frieden mit sich selbst finden soll, dann braucht die Landespolitik neue soziale Leitplanken, die den Weg zu diesem Ziel bestimmen:
Es muss überall gleich viele gute Gründe geben zu bleiben, nur andere.
Jeder Ort in Sachsen muss attraktiv genug sein als Wohn- und Lebensort für Beschäftigte der gewerblichen Wirtschaft.
Es darf im öffentlichen Personennahverkehr keine weißen Flecken geben.
Flüchtlinge sollten als neue dauerhafte Bewohner_innen zur Verjüngung und Belebung bisher abgehängter Regionen gewonnen werden.
Das schaffen wir in Sachsen, wenn wir das „Prinzip Tillich“ außer Kraft setzen.
Das Prinzip Tillich verkauft sich als Regieren mit ruhiger Hand, ist aber in der Realität Wegducken und Ruhighalten, wenn es brenzlig zu werden droht.
Herr Tillich, Sie haben nach Clausnitz vier Tage gebraucht, bis Sie erstmals öffentlich Rede und Antwort gestanden haben. Das war schrecklich für Sachsen, aber typisch für Ihre Form der Wahrnehmung von Richtlinienkompetenz. Frei nach dem Motto: Ich bin dann mal weg.
Nun fällt Ihnen als Ruf aus der Krise als erstes der Ruf nach dem „starken Staat“ ein. Den letzten vermeintlich starken Staat erlebte ich als FDJ-Funktionär und Sie als stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises. Wir sollten seither gemeinsam gelernt haben, dass wir etwas anderes brauchen:
Nämlich eine starke Zivilgesellschaft, die vom Staat geschützt wird!
Bisher aber wurden Initiativen dieser Zivilgesellschaft von der sächsischen Union mal unter Extremismusverdacht gestellt, mal beschimpft, mal an den Rand gedrückt. Holocaust-Überlebende sollten Gesinnungs-Unbedenklichkeitserklärungen unterschreiben, bevor sie auf staatlich geförderten Veranstaltungen auftreten durften. Wir erinnern uns, dass Ihre Extremismusklausel sogar den sächsischen Demokratiepreis gesprengt hatte.
Die sächsische Union verpflichtete sich 2005 per Parteitagsbeschluss, in der Bevölkerung (Zitat:) „positive nationale Wallungen“ zu wecken.
Mit den „nationalen Wallungen“ klappt das ja in Sachsen seit ein paar Jahren immer besser, aber nun kommen auch die ersten vernünftigen Leute in der CDU zum Schluss, dass das so positiv für Sachsen nicht ist.
Es geht heute natürlich vorrangig um die Zukunft, das heißt wie in der Überschrift unseres gemeinsamen Antrages mit den Grünen:
Zivilgesellschaft unterstützen, demokratischen Rechtsstaat stärken!
Das heißt aber auch, wir müssen von jetzt an aufarbeiten – und dazu lade ich alle demokratischen Fraktionen ein -, was dazu geführt hat, dass der staatliche Rahmen in Sachsen nicht funktioniert.
Nach den Zahlen von 2013 sind noch 80 Prozent der Abteilungsleiter-Positionen in sächsischen Ministerien von Menschen mit westdeutschem Migrationshintergrund besetzt. Ich habe nichts gegen Sachsen in Bayern, also auch nichts gegen Schwaben im Erzgebirge. Das ist nicht das Thema. Es sind gute Leute gegangen und gute Leute gekommen. Aber offenbar nicht so viele gute, dass es gerechtfertigt wäre, ihnen auch ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution das Gros der Verantwortung im Staatsapparat zu überlassen.
Zur Vergangenheitsbewältigung gehört auch die Antwort auf die Frage, ob beispielsweise viele zweit- und drittrangige Juristen aus den alten Bundesländern, die sich unter Regie des hochpatriotischen CDU-Justizministers Heitmann bei uns im Justizapparat eingenistet haben, ein Segen für die Entstehung einer intakten Rechtskultur gewesen sind.
Für Sachsen kommt dann noch ein gesellschaftlicher Umbruch-Effekt dazu, dass die Leute 1989 dachten, es gäbe jetzt Demokratie für sie - im Sinne von Mitgestaltung – eben nicht nur eine repräsentative Demokratie. Jetzt fühlen sie sich erneut von oben herab behandelt und unverstanden, das zweite Mal – ich formuliere das jetzt mal drastisch: „verarscht“ und sind besonders motiviert, gegen das „System“ vorzugehen.
Kurzum: Dass Sachsen im Jahr 2016 spürbar außer Kontrolle ist, hat etwas damit zu tun, wie sich die CDU seit 1990 Sachsen unter Kontrolle gebracht hat.
Ich will Ihnen am Ende meiner Ausführungen einige Antworten aus Sicht der LINKEN auf die Herausforderungen geben, die den Sächsischen Landtag auf dieser Sondersitzung besonders bewegen sollten.
1. Im Kampf für ein menschenwürdiges Leben aller Einwohnerinnen und Einwohner Sachsens setzt sich der Landtag Sachsens konsequent gegen menschenverachtende Denkmuster wie Antisemitismus, Nationalismus und andere diskriminierende Einstellungen ein. Wir müssen leider feststellen, dass menschenfeindliches Denken und Handeln in allen Altersgruppen und allen gesellschaftlichen Bereichen vorhanden ist.
2. Dagegen anzugehen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sich durch verschiedene Politikfelder zieht. Der Landtag erachtet die umfassende Ächtung der extremen Rechten als eine vordringliche Aufgabe, die nicht allein mit der Bekämpfung der NPD erledigt ist. Daher richten wir uns gegen jede Form von Diskriminierung gegen anders Lebende, Aussehende oder Liebende und streiten für deren Akzeptanz und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens für Einheimische wie Zugezogene.
3. Eine rasche Aufklärung und konsequente strafrechtliche Verfolgung von rechten Straftaten und Hassverbrechen muss gewährleistet sein. Dafür braucht man keinen Verfassungsschutz, benötigt wird ausreichend fachkundiges Personal bei Polizei und Justiz.
4. Notwendig ist die Entkriminalisierung des vielfältigen Protestes gegen rechte Aufmärsche. Mit Opfern rechter Gewalt zeigen wir uns solidarisch.
5. Rassistische Einstellungen und Handlungen müssen als Problem benannt werden. Es ist analytisch falsch, verallgemeinernd von „Extremismus“ zu sprechen. Zu lange hat die Politik, haben Behörden unter Anwendung dieses Begriffs die Bedrohungslage der extremen Rechten verkannt.
6. Der Sächsische Landtag wird dafür Sorge tragen, dass Fort- und Weiterbildungsangebote zur präventiven Arbeit gegen die extreme Rechte in den Bereichen Jugend- und Sozialarbeit, für Lehrerinnen und Lehrer, für die Verwaltung in den Kommunen sowie für Polizei und Justiz verstärkt werden. Gerade bei der Polizei, den Gerichten und im Justizvollzug mangelt es oft an der nötigen Sensibilität für das Thema.
7. Der Sächsische Landtag plädiert für offene Formen der Diskussion, gemeinsam mit Wissenschaft, Zivilgesellschaft und örtlich Engagierten. Als geeignetes Mittel erweist sich dabei ein regelmäßiger „Sachsenmonitor“, um die Verankerung von Ideologien der Ungleichwertigkeit sowie antidemokratischen, menschenfeindlichen und NS-verherrlichenden Einstellungen in der sächsischen Bevölkerung zu erkennen.
8. Der Sächsische Landtag setzt sich für die Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes für ein tolerantes Sachsen als Querschnittsverantwortung der Staatsregierung in Zusammenarbeit mit den Kommunen, Landkreisen und zivilgesellschaftlichen Initiativen ein.
9. Der Landtag unterstützt antifaschistische und antirassistische Projekte, Initiativen und Bündnisse sowie das Programm „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“. Dieses Programm soll dauerhaft fortgeführt werden, die Mittel sind umgehend aufzustocken, und der Beirat ist wieder einzuführen.
10. und letztens: Der Landtag sieht dringenden Bedarf an einer stärkeren Institutionalisierung der Beratungsnetzwerke wie Opferberatung, Aussteigerprojekte sowie der mobilen Beratung. Des Weiteren benötigt Sachsen eine breite und öffentliche Unterstützung für Kommunen bei politischer Bildungsarbeit. Hier sollten durch die Landeszentrale für politische Bildung Multiplikator_innen für Schulungsmaßnahmen vor Ort befähigt werden.
Einen Neuanfang kann es in Sachsen geben, wenn die Regierungspolitik nicht weiter an der Legende der „Flüchtlingskrise“ strickt, sondern dem Ideal der Aufklärung folgend auf wirkliche Ursachen und Wirkungen schaut.
Einen Neuanfang kann es in Sachsen geben, wenn sich die obrigkeitsstaatliche CDU einer kritischen Aufarbeitung ihrer Regierungsarbeit stellt.
Einen Neuanfang kann es in Sachsen geben, wenn die Staatspartei CDU ihre Ignoranz gegenüber konstruktiven Vorschlägen der demokratischen Opposition aufgibt.
Einen Neuanfang kann es in Sachsen geben, wenn eine Mehrheit im Landtag endlich eine sozial verantwortliche Politik für die in Sachsen lebenden Menschen macht.
Herr Ministerpräsident, hören Sie auf mit der Relativierung und packen Sie's mit an!
Vielen Dank!
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"CDU trägt mit ihrer Politik Verantwortung für Frustration und auch für Rassismus"