Deutschland morgen - Was können wir für dich tun?
Von Martin Wimmer
Das also war Deutschland heute, 2016. Nennen wir es Merkel-Deutschland. Im Vergleich geht es uns gut, im Detail gäbe es für jeden von uns natürlich eine Menge zu verbessern.
Aber viele von uns haben gerade richtig Angst. Spätestens seit der Bankenkrise und dem Drama um Griechenland und dem Brexit und seit Trump in den USA Präsident geworden ist. Viele fragen sich: Wie können wir so eine Entwicklung in Deutschland verhindern? Was ist meine Rolle? Und wer kümmert sich eigentlich um mich? Und genau darum geht es hier: Was können wir für DICH tun.
Auch andere Stichworte in den Nachrichten sind alarmierend und oft nicht einzuordnen: der Krieg in Syrien und die Flüchtlingsboote im Mittelmeer, die Ukraine wird besetzt und in der Türkei putscht das Militär, NSA und Big Data. All das ist verunsichernd und hinterlässt uns mit dem diffusen Gefühl, so darf es nicht weitergehen.
Das 21. Jahrhundert funktioniert anders als die Nachkriegszeit, es helfen heute weder Rückblicke auf die Weimarer Republik noch die Rezepte von 1968. Moderne hin, Postmoderne her, es gibt kein Ende der Geschichte, sondern bitte eine hoffnungsvolle, lebenswerte Zukunft. Es geht auch nicht um einen Clash of Civilizations, wir sind nicht mehr im Mittelalter der Kreuzzüge zwischen Islam und Christentum und Heiden, der kalte Krieg ist vorbei und es stehen sich auch nicht mehr Kapitalismus und Kommunismus gegenüber, einen Klassenkampf will auch keiner mehr führen und niemand bewaffnet sich für eine Revolution. All diese Wirgegen-Die-Kampf-Rhetorik nervt. Die Zukunft stellen wir uns alle doch gleich vor: ein friedliches, solidarisches Miteinander, ein Dach über dem Kopf und gesundes Essen, ohne Verzicht auf die Annehmlichkeiten eines modernen, mobilen, digitalen Zeitalters, ein freies, gutes Leben. Darüber sind sich zumindest die allermeisten Menschen einig. Lebensfreude, Liebe, Glück – wer das nicht in seinen Programmen ganz nach vorn stellt, macht seine Politik sicher nicht für uns.
Was wir daher auf jeden Fall alle abwenden wollen ist klar: Die AFD darf nicht noch stärker werden. Es darf im Lande Hitlers kein Rechtspopulist mehr an die Macht kommen. Und das, was man heute postfaktisch nennt, die Entwertung von gesundem Menschenverstand und den Idealen einer aufgeklärten Gesellschaft, von Wahrheit, von Anstand im öffentlichen Umgang miteinander, dürfen wir nicht einreissen lassen.
Alle, die uns in den Krieg schicken wollen, die uns für ihre egoistischen wirtschaftlichen oder politischen Interessen ausnutzen wollen, die einen Spalt durch die Gesellschaft treiben wollen, die Häuser anzünden und Frauen überfallen und Kinder missbrauchen, lehnen wir ab. Das sagen wir den Reichen und Mächtigen einer globalisierten Welt genauso deutlich wie den Nachbarn und Kollegen unter Unsergleichen, die sich nicht mehr an die Regeln des solidarischen Zusammenlebens halten wollen.
Doch das ist nur das absolute Minimum, die roten Linien, unter die wir nicht fallen wollen. Da geht es um unsere Demokratie, um Freiheit und Gleichberechtigung. Irgendwie war die Welt doch schon mal weiter und wir wussten, dass niemand aufgrund seiner Herkunft, seiner sexuellen Identität, seines Glaubens, seiner Hautfarbe, seines Alters, benachteiligt werden darf? Namen wie Trump, Putin, Erdogan, Le Pen, Orban, Wilders, Hofer, vielleicht sogar Seehofer, sicher Sarrazin und Petry, lassen uns daran zweifeln, ob nicht grad alles den Bach runtergeht.
Tut es nicht. Die ganze Geschichte lehrt uns, gerade in Deutschland, dass mitnichten alles alternativlos ist oder gar immer schlimmer wird. Wir fühlen uns zwar gerade ausgeliefert, aber wir sind faktisch nicht machtlos. Deutschland hat den 30jährigen Krieg überstanden, den 1. Weltkrieg, das Dritte Reich, die DDR, Mauer und Stasi. Hey, wir haben sogar Fußballweltmeisterschaften und Eurovision Song Contests verloren. Ach ja, aber das nur nebenbei, Humor ist wirklich wichtig, nicht zynischer Galgenhumor, sondern einfach mal nicht auf die andauernde Panikmache und Katastrophenverkaufe und Weltuntergangsstimmung reinfallen, sondern die Dinge halbwegs entspannter sehen, ganz unkompliziert mit einem netten Lächeln auf der Straße beginnen, ein Smiley entspannt so manche Social Media Eskalation und für die echt Verrückten da draußen tut's doch auch ein guter Witz und ein herzhaftes Auslachen, es müssen ja nicht immer gleich Pflastersteine und brennende Vorstädte sein.
Also: Es liegt schon an uns. Wenn wir nach vorne schauen, was wir konstruktiv aufbauen und zum positiven verändern wollen, gibt es eigentlich so viel zu tun. Eine soziale, demokratische, ökologische Veränderung stünde an. Da, wo du wohnst und arbeitest. In deinem Bundesland. In Deutschland, in Europa und weltweit, denn natürlich lässt sich heute, genauso wenig wie je zuvor in der Geschichte, kein Problem mehr von Grenzbäumen oder Mauern draußen halten, nicht der Klimawandel und nicht die Radioaktivität von Tschernobyl und nicht die Vogelgrippe und nicht die Hasspredigten und nicht die NSA und nicht der Drogenhandel, und nein, natürlich auch nicht die Flüchtlinge.
Unglaublich viele tun schon unfassbar viel. Viele setzen sich gegen den Klimawandel, für Tierschutz ein. Viele kämpfen gegen die Benachteiligung von Frauen oder Homosexuellen. Viele fühlen sich von Politikern und Medien nicht mehr ausreichend repräsentiert. Viele machen sich zurecht große Sorgen um den Datenschutz und die Kontrolle von Freihandelsabkommen in unserer vernetzten Welt. Viele machen sich stark gegen ein Zerfallen Europas, wollen Reisefreiheit und eine gemeinsame Währung erhalten. Ein ausreichendes bedingungsloses Grundeinkommen, höhere Mindestlöhne, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu fordern, in Ost und West, für Mann und Frau, wer versteht das nicht? Viele wehren sich gegen Gentrifizierung, keine bezahlbare Wohnung mehr zu finden.
Dass die Reichen immer reicher werden, aber immer mehr Leute und Landstriche abgehängt werden, die Kinderarmut wächst und ein Arbeitsplatz allein nicht mehr ausreicht, um durchzukommen - das klagen viele zurecht an. Auch die sogenannte Austeritätspolitik, bei der ein ausgeglichener Staatshaushalt wichtigeres Ziel ist, als die Probleme der Menschen zu lösen, zum Beispiel die schulische und universitäre Ausbildung kostenlos anzubieten, die Nebenkosten für Strom und Wasser und Müllentsorgung zu senken, die Renten zu erhöhen, die Museen und Brücken und Dorfplätze zu erneuern, leuchtet vielen nicht mehr ein, wenn die Rettung von Banken doch zeigt, dass genug Geld dafür da wäre. Viele arbeiten konsequent daran, dem Wachstumswahn und der Reizüberflutung durch Medien und Werbung konsumkritisch zu begegnen. Unglaublich viele tun schon unfassbar viel.
Und natürlich sehnen wir uns nach Sicherheit zurück, ganz banal für Leib und Leben. Wenn man in einen Flieger steigt, im Wald joggen geht, wenn man Sylvester feiert, dann erwarten wir, dass wir das ohne jede Sorge tun können. Ohne Schutz von schwerbewaffneten Sicherheitskräften, die uns noch mehr Angst einjagen. Wir wollen keine Waffen an öffentlichen Plätzen mehr sehen. Wir wollen nicht alle paar Meter gefilmt werden. Und der Urlaub soll nicht mehr mit Taschenkontrollen beginnen. So sollen unsere Kinder mal nicht aufwachsen. So sollen unsere Großeltern nicht von uns gehen.
Haben wir dem wirklich nicht mehr entgegenzusetzen als das Verzagen in einer Ich-versteh-das-alles-nicht-mehr-Opferrolle? Wie aus dem Nichts sind all die bärtigen Bösewichter, manchmal tragen sie jetzt auch komische Frisuren oder Glatzen, aus den alten Western und Krimis plötzlich wieder da und wir stehen wie die Lämmer da und warten auf einen Sheriff, der die Ordnung wieder herstellt, peng. Aber halt, hatten wir uns damals nicht mit dem Helden oder der Heldin identifiziert, der/die das alles selber in die Hand nimmt? Und hatten wir uns nicht schon auf gewaltfrei geeinigt? Auch wenn ein anderer mal zuerst hinlangt? Wäre das nicht das happy end?
Vielleicht haben viele von uns doch ein bisschen zu distanziert auf die Leute geschaut, die bis eben noch ausrangiert, deplatziert oder radikal wirkten. Keiner von uns muss sich jetzt gleich zu irgendwas bekennen. Es geht nicht darum, sich ein Etikett auf die Stirn zu kleben. Man muss kein Linker werden, kein Sozi, kein Öko, kein Pirat, keine Emanze, nicht nur noch vegan essen, nicht aufs Fliegen verzichten, und, für Fortgeschrittene, man muss nicht mal wissen, wer genau Occupy oder Diem25 oder Syriza oder Podemos sind. Jeder kann das tolle Individuum bleiben, das er schon ist. Das ist auch ein wichtiger Merksatz. Wer uns einreden will, dass wir uns erst mal verändern sollen, damit wir in seine Schublade passen, der ist schon mal wenig vertrauenswürdig. Wer dich aufgrund eines verabsolutierten Kriteriums ausgrenzt, weil du genau diesen einen seinen Spleen nicht teilst, obwohl ihr doch sonst eigentlich grob auf derselben Seite steht, was soll das?
Jeder setzt seinen persönlichen Schwerpunkt. Ob du bewusster einkaufst und dich bio ernährst, ob du auf eine Demo gehst, ob du dich bei einer NGO engagierst, ob du in eine Gewerkschaft oder Partei eintrittst, ob du aktiv die Werte deiner Religionsgemeinschaft oder Weltanschauung einforderst, ob du auf Facebook klare Kante zeigst, ob du dich mit Büchern und Medien einen Nachmittag lang intensiv einliest, ob dein Artikel, dein Kunstwerk oder deine wissenschaftliche Publikation selbst in die Diskussion einwirken. Alles das ist ein wertvoller Beitrag, dass die Welt wieder besser wird. Nicht nur bleibt wie sie ist oder nicht alles noch schlimmer wird. Nein, besser wird.
Alle, fast alle, wollen wir doch dasselbe, einfach ein gutes Leben. Wir dürfen nur nicht alles passiv hinnehmen und müssen etwas mehr als in den letzten Jahren dafür tun. So wie, naja, da hat jeder sein Vorbild, für die einen sind es Simone de Beauvoir oder Mahatma Gandhi oder Edward Snowden oder Pippi Langstrumpf, für den anderen die Gründerin des Yogastudios um die Ecke, für die einen sind es Michelle Obama oder Navid Kermani oder Jesus oder Anne Frank, für den anderen die Studentin, die das Biolabel entwickelt hat. Ganz egal, ob große Namen oder die kleinen Helden des Alltags, entscheidend ist, dass es absolut keinen Grund gibt, entmutigt zu sein. Und jeder, wirklich jeder einzelne macht einen ganz gewaltigen Unterschied. Auch du bist ein Vorbild. Eine schöne Verantwortung.
Zum Abschluss: Wenn ich hier immer vom "wir" rede, meine ich nicht eine feste Gruppe, keinen Absender, ich meine euch, die ihr das lest. Vielleicht sind es auch nur du und ich. Wenn du so ungefähr teilst, was ich hier schreibe, sind wir schon zwei, sind wir schon "wir". Ich habe dann meinen Job erledigt. Ich bin Schriftsteller und engagiere mich selbst in einer kleinen NGO, dem Institut Solidarische Moderne, und habe mir vorgenommen, die oft recht komplexen Veröffentlichungen des ISM mal so runterzubrechen, wie ich es verstehe. Das ist, was du gerade liest.
2017 ist die nächste Bundestagswahl. Einen großartigen Politikwechsel werden wir dort nicht erleben. Hoffentlich: So schlimm wird es mit der AFD und anderen Populisten bis dahin nicht werden, dass alles komplett nach rechts kippt. Eine Große Koalition macht halt weiter wie bisher. Klar, rot-rot-grün wäre vermutlich die beste Option für eine sozial und ökologisch ausgerichtete Stabilisierung unserer gerade fragilen und massiven Angriffe von innen und außen ausgesetzten Demokratie. Bei allen Einwänden, die es dagegen gibt. Aber das ist meine Meinung, das kannst du auch ganz anders sehen. Und das macht auch gar nichts, die Zeit von übergeordneten Systemen und kollektiven Fraktionszwängen ist vorbei, Hauptsache ist doch, dass wir grob in der Richtung übereinstimmen, und uns von denen unterscheiden, die uns unter die Räder kriegen wollen.
Ohnehin ist die nationale Ebene der falsche Ansatzpunkt. Dass der Nationalismus fatal falsch ist, das war doch auch schon mal sonnenklar? Vielleicht war das alles doch ein bisschen zu oft Schlaaand gesungen, Wir sind Papst gehuldigt und der Export ist ein Weltmeister made in Germany bejubelt? Vielleicht sollten wir erst mal mit uns selbst ins Reine kommen, es in Familie und Freundeskreis, in der Klasse und im Betrieb, im Viertel und der Region sauber hinbekommen, dabei das gemeinsame kulturelle Erbe mit den griechisch-römisch-germanisch-slawischjüdisch-christlich-islamisch-aufgeklärten Mittelmeeranrainern nicht vergessen und auf das Ideal einer Weltregierung, hallo UNO, zurückkommen?
Bundespolitik kann nicht die Welt retten, sie ist nur ein Rad von vielen, die in der nächsten Zeit ineinandergreifen müssen: die Kunst, die Literatur, die Musik, die Zeitungen, das Fernsehen, Facebook, Twitter, die Europapolitiker und die Lokalpolitiker, die Gewerkschaften, die Sozialverbände, die Migrantenvereine, die Sportclubs, die Kirchen, die Unis, die Studenten, die Schülervertretungen, die Elternbeiräte, die Stiftungen, die Nichtregierungsorganisationen, die Bürgerinitiativen, die nachhaltigen Unternehmen, die Intellektuellen, die ganz normalen Leute, die sich ihre Mitmenschlichkeit bewahrt haben, und und und Und du.
PS. Solidarisch, das ist ernst gemeint. Einer für alle, alle für einen. Wenn du das ISM unterstützen willst, werde Mitglied oder spende. www.solidarische-moderne.de Wenn du eine andere unterstützenswerte Organisation suchst, hier ist eine erste Liste - von Kultur bis Naturschutz für jeden Geschmack was dabei. Und bei dir um die Ecke ist auch eine tolle Initiative - wirklich! Überall finden sich gerade unkompliziert Gruppen zusammen, Gesprächskreise, Salons, nach einer Podiumsdiskussion geht man gemeinsam auf ein Bier. Geh raus, du wirst sie finden. Oder lade selber ein. Und was können wir alle für dich tun?
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