Schäuble zielte darauf ab, an Griechenland ein Exempel zu statuieren

Axel Troost im Interview bei tvxs.gr

16.05.2017 / Evi Fiamegkou

Das Interview ist zuerst am 14.05.  in griechischer Sprache auf www.tvxs.gr erschienen

Ein deutscher Freund, der Wirtschaftswissenschaftler, Abgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE sprach neulich auf einer Veranstaltung der Rosa Luxemburg-Stiftung zum Thema „Deutschland wählt – Ändert sich seine Politik?“ Wenige Tage nach den französischen Wahlen und wenige Monate vor der Bundestagswahl kommentiert Axel Troost in einem Interview an tvxs.gr politische Personen und Ereignisse

Axel Troost bei einer Diskussionsveranstaltung der Rosa-Luxemburg Stiftung Griechenland

Auf der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung sagte deren Vorstandsvorsitzende, Martin Schulz „ist wie ein Überraschungsei, wir wissen nicht, was daraus kommen wird“. Der Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Griechenland Christos Katsioulis kommentierte, „er hat auch seine eigene Partei überrascht, es ist ein Rätsel, wie er es geschafft hat, so viele Anhänger zu gewinnen“. Wer ist Martin Schulz Ihrer Ansicht nach?

Axel Troost: Bevor Martin Schulz zum SPD-Spitzenkandidat nominiert wurde, hat er sich als Präsident des Europäischen Parlaments nicht an bundespolitischen Debatten beteiligt. Aus der Wählersicht wird er daher nicht als Teil der schwarz-roten Bundesregierung wahrgenommen und konnte bei SPD-Symphatisanten daher eine gewisse Aufbruchstimmung verbreiten. Weil die SPD sich in Umfragen verbessert hat, sind jetzt andere Regierungskonstellationen wahrscheinlicher geworden.

Weil Schulz bei bundespolitischen Themen bisher keine Verantwortung übernehmen musste, ist unklar, wofür er genau steht. Wer sich nur ein wenig mit ihm beschäftigt, stellt aber rasch fest, dass er nicht wirklich für einen Politikwechsel steht. So richtig lässt sich das vor allem an seiner Amtszeit im Europäischen Parlament bemessen. Damit meine ich nicht, dass es jetzt Vorwürfe der Vetternwirtschaft gegen ihn gibt. Viel wichtiger sind mir die großen Linien, also die Zukunft der EU und des Euros und die Frage der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Als ehemaliger Präsident des Europaparlaments lagen solche großen Linien wirklich in der Kernkompetenz von Martin Schulz und jetzt wäre er frei, dazu offen eine eigenständige Meinung zu vertreten. Doch dazu gibt es bisher nur Enttäuschungen. Nachdem Sigmar Gabriel, sein Amtsvorgänger im Parteivorsitz, kürzlich in Athen die harte Griechenland-Politik von Wolfgang Schäuble gegeißelt hat, hat sich Schulz schnellstens bemüßigt gesehen, den Kurs der deutschen Regierung zu verteidigen. Das war ein sehr frustrierendes Erlebnis. Das ist aber etwas, das wir nur zu gut kennen: die SPD blinkt links, nur um danach dann umso nachdrücklicher den Status Quo zu verteidigen.

Auch wenn der Schulz-Hype bereits wieder abgeflaut ist, steht die SPD jetzt in Umfragen immer noch deutlich besser da als vor einigen Monaten. Ein linkes Regierungsbündnis nach den Wahlen im September ist damit etwas wahrscheinlicher geworden. Für die Griechenland-Politik würde das sicher einen Unterschied machen, weil die LINKE und auch die Grünen für eine ganz andere Europapolitik stehen. Martin Schulz müsste das mittragen. Eine Initiative für einen Politikwechsel erwarte ich mir von ihm aber nicht. Wenn es, was immer noch das wahrscheinlichste Szenario ist, eine Wiederauflage der Großen Koalition geben sollte, würde ein Vizekanzler Martin Schulz den Kurs der Bundesregierung gegen- über Griechenland leider wohl nicht wesentlich verändern.

Wie ist es möglich, dass derselbe Mensch so viel Antipathie außerhalb von Deutschland anzieht und im eigenen Land so populär ist? Was ist mit Wolfgang Schäuble los? Wer ist dieser Mensch eigentlich? Wofür steht er für die Deutschen? Und warum ist er so besessen mit den Griechen?

AT: Schäuble ist ein Machtmensch mit langer Politikerfahrung, der es gewohnt ist, sich gegen- über anderen durchzusetzen. Seit er Finanzminister ist, hat er sich dem Ziel verschrieben, jedes Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen und keine neuen Schulden zu machen. Damit kommt er in der Bevölkerung gut an. Denn dort ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Schulden per se schlecht sind. Das kennzeichnet auch Schäubles Europapolitik: die besteht im Wesentlichen darin, ein europäisches Verbot der Neuverschuldung durchzusetzen („Fiskalvertrag“) und Staaten eine strikte Sparpolitik aufzuzwingen. Alles andere ist nachrangig.

Das Problem dieser Politik sind nicht nur die sozialen Härten, sondern dass Austeritätspolitik schlicht nicht funktioniert. Aus Sicht der griechischen Bevölkerung ist offensichtlich, wie sehr diese Politik gescheitert ist. Aus Sicht vieler Deutschen hat Schäuble dagegen schon viel zu oft nachgegeben, weil er immer wieder neue Finanzhilfen bewilligt hat. Ein Teil seiner eigenen Fraktion hat bei der Abstimmung zum letzten Finanzhilfeprogramm offen gemeutert, was für deutsche Verhältnisse sehr ungewöhnlich war. Schäuble gibt auch deswegen den Hardliner, um seinen eigenen Laden zusammenzuhalten. Ein anderes Motiv ist aber auch, an Griechenland ein Exempel statuieren: Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt dies drastisch zu spüren. Das dadurch angerichtete Elend wird in Kauf genommen, um andere Regierungen im Geist der neoliberalen Politik zu disziplinieren.

Wie beurteilen Sie die Haltung von Bundeskanzlerin Merkel gegenüber Griechenland?

AT: Ich denke, die große Linie der Griechenland-Politik wird von Schäuble und seinem Beamtenapparat vorgegeben. Das Finanzministerium hat einen riesigen Informationsvorsprung und wer sich dagegen stellt, wird von Schäuble als weltfremder Spinner dargestellt. Gegenüber Merkel könnte sich Schäuble das zwar nicht leisten, aber ein Streit mit Schäuble könnte Merkel intern schwer beschädigen. Für Merkel ist Griechenland zu unbedeutend, um dieses Risiko einzugehen. Sie hat auch immer wieder, wenn Tsipras die Verhandlungen auf Ebene der Regierungschefs heben wollte, den Ball zurück auf die Ebene der Finanzminister gespielt.

Hin und wieder gibt es aber immer wieder Situationen, wo Merkel sich einschalten muss. Zum einen, wenn Schäuble sich offensichtlich verrannt hat. Etwa, als er Tsipras im Juli 2015 einen „Urlaub vom Euro“ nahegelegt hat, der nicht mit dem Koalitionspartner SPD abgestimmt war und auch europäische Partner massiv verärgert hat. Da konnte Merkel nicht anders, als ihn zurückzupfeifen.

Ein anderer Punkt ist die Beteiligung des IWF. Die Bundesregierung hat einerseits versprochen, den IWF am Finanzhilfeprogramm zu beteiligen, sie müsste dann aber dessen Forderungen nach Schuldenerleichterungen nachkommen, was sie nicht will. Aus dieser Zwickmühle kommt Schäuble nicht ohne Merkel herauskommen. Sicher wird Merkel versuchen eine Entscheidung darüber auf die Zeit nach der Bundestagswahl zu schieben, was sicher auch der SPD am liebsten wäre, aber so einfach ist das nicht.

Macht Ihnen der Ausbreitung der extremen Rechten in Europa Angst? Wer kann sie stoppen und wie?

AT: Der Aufstieg rechter Nationalisten ist kein rein europäisches Phänomen, wie die TrumpWahl zeigt. Es steht ein weltweiter, längerwährender Politikprozess dahinter. Ich denke der Zulauf zu rechten Demagogen hat sehr viel mit dem Frust über ein ungerechtes Wirtschaftssystem zu tun, das extremen Reichtum, aber zugleich auch extreme Armut produziert und dabei längst nicht den Tüchtigen, sondern Macht, Reichtum und Durchtriebenheit belohnt. Die neoliberale Deregulierung der letzten Jahrzehnte hat viele Verlierer erzeugt und große Abstiegsängste erweckt. Durch Krisen und Konflikte ist die Verunsicherung weiter gestiegen. Viele Menschen versprechen sich Besserung durch autoritäre, nationalstaatliche Lösungen. Das ist aber ein Irrweg. Ich denke, dass sich die vielen globalen Probleme nur durch mehr Kooperation lösen lassen und dass wir dem wachsenden Konkurrenzdenken durch solidarische Politik entgegentreten müssen. Das kann nicht von heute auf morgen passieren und die Gegenkräfte sind groß, wie sich in Griechenland ja gezeigt hat. Die Linke war bisher viel zu schwach, aber Veränderungen erfolgen oft in Schü- ben. Wir reden jetzt viel über Donald Trump und Marine Le Pen. Aber mit Bernie Sanders und Jean-Luc Mélenchon hat es auch linke Kandidaten gegeben, die unter etwas anderen Umständen durchaus das Rennen hätten machen können und die Erfolg hatten, weil sie authentisch waren und nicht opportunistische Machtspielchen gemacht haben.

Bei einem Ihrer letzten Besuche in Griechenland haben Sie uns daran erinnert, dass es nach den ersten Wahlen in Griechenland in Deutschland eine Bewegung für die Neubegründung Europas gegeben hat. Was ist daraus geworden?

AT: Die Machtübernahme von Syriza hat viele Hoffnungen auf ein anderes Europa erweckt. Es gab viele Linke, die sich mit Griechenland solidarisch zeigen wollten, um darüber letztlich die Verhältnisse in ganz Europa zu verändern. Die Euphorie ist verflogen, als der radikale Aufstand von Syriza eiskalt niedergebügelt wurde. Darunter hat die Breitenwirkung gelitten – Griechenland interessiert die meisten Linken in Deutschland schlicht nicht mehr. Es gibt aber auch einige, die sich danach gesagt haben, „jetzt erst recht“ und die jetzt mehr in die Tiefe als in die Breite arbeiten. Dazu gehöre ich auch. Die Lage ist aber so verworren, dass ich nicht weiß, wie eine Veränderung eingefädelt werden könnte. Die regulären Verfahren geben das angesichts der aufgeheizten Stimmung nicht her. Gleichzeitig ist aber auch der Handlungsdruck enorm groß – wenn die EU und der Euro sich nicht verändern, werden sie dauerhaft nicht bestehen können. Das macht es so notwendig, dass sich die Linke – ob Parteien oder Zivilgesellschaft – mit alternativen Konzepten beschäftigt.

In Bezug auf die kommende Bundestagswahl haben Sie folgende Ansicht vertreten: „Wenn die drei Parteien SPD, LINKE und Grüne es schaffen, gemeinsame Punkte zu finden, können wir Schäuble besiegen.“ Wie erreichbar ist dieses Ziel heute?

AT: Es gibt eine ganze Reihe von drängenden Problemen, die mit einer Merkel-Regierung nicht zu lösen sind, die aber durch eine rot-rot-grüne Regierung angegangen werden könnten. Nehmen wir drei Beispiele: Deutschland hat eine schreiend ungerechte Vermö- gensverteilung. Deswegen muss es wieder eine Vermögensteuer geben. Die alte wurde durch ein Urteil des Verfassungsgerichts vor zwanzig Jahren ausgesetzt und wird seitdem nicht mehr erhoben. Oder aber die Rente: immer mehr künftigen Rentnern droht eine Armutsrente, weil das Niveau der gesetzlichen Rente nach der Jahrtausendwende deutlich gesenkt wurde. Zudem hat sich die ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge als Flop erwiesen. Die gesetzliche Rente muss daher wieder deutlich gestärkt werden. Und ein drittes Reformprojekt wäre natürlich die Abkehr von der europäischen Austeritätspolitik. Ich gehe davon aus, dass Ihnen diese Probleme in Griechenland nicht ganz unbekannt sind. Daher kann ich nur die Notwendigkeit der Zusammenarbeit progressiver Kräfte jenseits nationaler Grenzen wiederholen.

Ein rot-rot-grünes Bündnis ist aber kein Selbstläufer. Die LINKE ist nach der Jahrtausendwende als Reaktion auf die neoliberalen Arbeitsmarktreformen der SPD-GrünenRegierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder entstanden. An eine Zusammenarbeit mit der SPD war deswegen lange Zeit nicht zu denken. Die LINKE wurde dann von allen anderen Parteien lange Zeit systematisch ausgegrenzt, um ihr das Wasser abzugraben, was aber zum Glück nicht funktioniert hat. Stattdessen ist die SPD immer weiter abgerutscht. Deswegen muss sie sich aus der Rolle als kleiner Partner der Union befreien. Insofern ist die SPD auf ein Bündnis mit uns angewiesen, wenn es ihr um Inhalte und nicht bloß um Macht geht. In den sozialdemokratischen Kernthemen sind die Überschneidungen zwischen SPD und Linken um ein vielfaches größer als mit CDU und CSU. Inhaltlich gibt es auch mit den Grünen viele Überschneidungen. Sicher gibt es auch große Differenzen, etwa in der Frage Militäreinsätze und in der Sozialpolitik, aber darüber wird man reden müssen.

Wir werden Schäuble besiegen, haben Sie gesagt, nicht Merkel. Ich gehe davon aus, das war kein Zufall.

AT: Merkel ist bekannt dafür, dass sie bei vielen Themen erstmal moderiert und sich erst spät festlegt. Sie ist geschickt darin unterschiedliche Interessen auszugleichen und auf die Stimmung in der Bevölkerung zu horchen, aber sie steht für geräuschloses Regieren und nicht für politische Visionen. Bei Schäuble ist das anders. Schäuble ist zum Teil dadurch zum wichtigen Strategen geworden, weil die Weichenstellungen für Europa zu einem großen Teil im Kreis der Eurogruppe und damit unter den Finanzministern diskutiert werden. Im Bundeskabinett ist er durch seine lange Erfahrung so etwas wie eine graue Eminenz und er muss weniger als Merkel, die bei Konflikten vermitteln muss, auf die Interessen der Koalitionspartner Rücksicht nehmen.

Im Wahlkampf werden die Unterscheidungen verschwinden. Naturgemäß wird er sich stärker auf die Kanzlerin konzentrieren. Merkel gilt als „Teflon-Kanzlerin“, weil sie sich inhaltlich oft nicht festlegt. Erst mit der Flüchtlingskrise hat sie durch die zeitweise Öffnung der Grenzen erstmalig politisch etwas Großes gewagt. Dafür wird sie immer noch von rechts kritisiert. Merkel ist deswegen angeschlagen, ganz anders als 2013. Für die Linke ist sie natürlich jetzt wieder Angriffspunkt, weil sie zum bisherigen Status Quo der Abschottung zurückgekehrt ist und einen inhumanen Pakt mit dem despotischen Erdogan-Regime geschlossen hat.

Sie haben auch gesagt, DIE LINKE würde sich an einer zukünftigen Regierung mit der SPD und den Grünen beteiligen, aber nicht an einem einfachen Regierungswechsel, sondern nur wenn ein Politikwechsel stattfinden würde. Als Bedingung nannten Sie eine Änderung der Europapolitik, was eine andere Haltung gegenüber Länder wie Griechenland bedeutet.

AT: Zuerst muss natürlich rechnerisch eine Mehrheit für ein rot-rot-grünes Bündnis da sein, bevor über Inhalt verhandelt werden kann. Ich denke nicht, das Griechenland oder die Europapolitik den Ausschlag geben, ob so ein Bündnis zustande kommt oder nicht. Da gibt es andere Knackpunkte, etwa in der Steuer- und Sozialpolitik. Es ist aber klar, dass eine rot-rot-grüne Regierung für ein sozialeres und solidarischeres Europa stehen wird. Aber so weit sind wir längst noch nicht.

Im vergangenen März fand im Europäischen Parlament in Brüssel eine Veranstaltung der Europäischen Linken zum Thema „Fake News in sozialen Medien und wie sie die öffentliche Meinung beeinflussen“ statt. Macht Ihnen im Hinblick auf die Wahlen in Ihrem Land diese dunkle Seite des Journalismus Angst?

AT: Das Ausmaß ist schon erschreckend. Ich finde, dass Politik über Argumente ausgetragen werden muss und eine gewisse Redlichkeit besitzen muss. Das gilt auch für die politische Berichterstattung, sei es in traditionellen Medien oder im Internet. Ich muss aber auch sagen, dass ich als Ökonom seit Jahrzehnten mit Fake News zu tun habe. Da wird eine bestimmte Sichtweise, nämlich die des Neoliberalismus, als alternativlos und logisch zwingend dargestellt. Wer etwas dagegen sagt, wird ignoriert. Wir haben als linke Ökonomen vor deregulierten Finanzmärkten gewarnt, vor den Spaltung der Gesellschaft, vor den Konstruktionsfehlern des Euros. Das wurde alles totgeschwiegen, bis die Wirklichkeit uns recht gegeben hat. Insofern sollte es jetzt statt Empörung über Fake News auch eine gründliche Aufarbeitung geben, in wessen Interessen Politik und Medien in den letzten Jahren immer wieder die öffentliche Meinung manipuliert haben.

Teilen Sie die Vision eines vereinten Europas? Und bedeutet dies mehr oder weniger Europa?

AT: Das europäische Motto „In Vielfalt vereint“ ist ein gutes Motto. Aber dazu muss die EU zeigen, dass es um mehr geht als um den EU-Binnenmarkt. Der Euro hat sich als Spaltpilz entwickelt, genauso wie der Streit in der EU um den Umgang mit Flüchtlingen. Ich glaube aber, dass sich EU und der Euro reformieren lassen und das dies besser ist, als sie zu zerschlagen und sich zu wünschen, aus den Trümmern etwas Besseres aufbauen zu können. Insofern lautet mein Antwort: Mehr, aber vor allem ein anderes Europa.

Welche ist Ihre Meinung über den Brexit?

AT: Ich sehe nicht, dass der Brexit, speziell so wie er von der May-Regierung betrieben wird, eines der Probleme löst, das er lösen soll.

Was denken Sie über den neuen Präsidenten Frankreichs?

AT: Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass Jean Luc Mélenchon die Wahl gewinnt. Er hat die Konflikte klar benannt und viele interessante Alternativen im Angebot. Was die Stichwahl angeht: Macron ist gegenüber Le Pen sicherlich das kleinere Übel. Seine Politik ist in ihren Grundzügen neoliberal und schlecht für Frankreich und die EU. Frankreich wird in einigen Punkten sicherlich eine positive Gegenwehr gegenüber einem Schäuble-Europa formieren können, es wird unter Macron aber nicht zu einem fortschrittlichen Akteur werden.

In Bezug auf die Migrationsfrage haben Sie gesagt, sie werde eine entscheidende Rolle für die Bundestagswahl spielen. Wir haben beim Referendum über die türkische Verfassungsreform erlebt, dass türkische Migranten in Deutschland zu einem schockierend hohen Anteil dafür gestimmt haben. Wie assimiliert sind letztendlich Migranten in der deutschen Gesellschaft?

AT: Es gibt seit Jahrzehnten Zuwanderung nach Deutschland, immer wieder auch in Schüben. In vielen Fällen hat die Integration sehr gut geklappt, das sind dann aber meist nicht die Fälle, über die so viel in der Presse berichtet wird. Gelungene Integration darf man sich nicht als Einbahnstraße vorstellen, wo sich Einwanderer „möglichst deutsch“ zu benehmen haben, sondern es muss ein gegenseitiges Geben und Nehmen sein.

Es gibt aber auch viele Fälle, in denen Integration nicht gelingt. Eine große Rolle hat dabei immer schon die deutsche Lebenslüge gespielt, dass Integration nicht in Angriff genommen werden muss, weil die Zuwanderer nicht dauerhaft bleiben werden. Das hat sich häufig genug als Trugschluss erwiesen. Gerächt hat sich auch, dass die letzten Jahre in der öffentlichen Verwaltung, der Infrastruktur und am Sozialstaat generell viel zu sehr gespart wurde. Die dann auftretenden Probleme haben meist mit fehlenden Perspektiven zu tun, etwa wo Menschen keine dauerhafte Bleibeperspektive haben, sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können und sie in Stadtteile mit billigem Wohnraum, aber auch vielen Problemen ziehen und wo dann keine Stadtplanung betrieben wird, um diejenigen dort zu halten, die erfolgreich sind. Das führt dann zu Fällen wie in Teilen des Ruhrgebiets, wo man nicht miteinander lebt, sondern nebeneinander.

Mit den Flüchtlingsströmen von 2015 ist die Zuwanderungsdebatte zwischenzeitlich zu einem ganz zentralen Thema geworden. Dies hat zum Aufstieg der nationalistischen AfD geführt, die ursprünglich aus Protest gegen die Euro-Rettungspakete gegründet wurde. Die AfD hat dann mit zuwanderungsfeindlichen Parolen in Landtagswahlen aus dem Stand Wahlergebnisse von bis zu 24 Prozent bekommen. Inzwischen verliert sie aber wieder an Boden, teils weil die Bundesregierung inzwischen eine repressive Zuwanderungspolitik betreibt, teils aber auch weil die AfD bürgerliche Wähler mit rechtsradikalen Töne verprellt und weil sie notorisch zerstritten ist.

Was das türkische Verfassungsreferendum betrifft, können wir uns doch seine Ergebnisse in Deutschland etwas genauer anschauen. Von ca. 3 Millionen türkischstämmigen Einwohnern haben nur 47% die türkische Staatsangehörigkeit und von den wahlberechtigten türkischen Bürgern haben nur 50% überhaupt am Referendum teilgenommen, unter denen ältere und konservative Menschen überrepräsentiert sind. Wenn letztlich davon 63% für die Verfassungsreform gestimmt haben, entspricht dies nur noch 14-15% der türkischstämmigen Menschen in Deutschland. Das ist immer noch viel zu viel, rechtfertigt aber keinen Generalverdacht gegen Menschen mit türkischen Wurzeln.

Es mag schockierend sein, dass Menschen mit türkischer bzw. doppelter Staatsbürgerschaft plötzlich für das Verfassungsreferendum von Erdogan stimmen, welches Andersdenkende unterdrückt und Grundfreiheiten beschneidet, die im deutschen Grundgesetz als unveräußerlich vorgeschrieben sind. Es wäre aber falsch, den derzeitigen allgemeinen Aufschwung autoritärer Denkmuster ausschließlich auf die türkischstämmigen Bürger zu projizieren. Denn in dieser Hinsicht verhält sich eine Minderheit unter ihnen, aus welchen Gründen auch immer, genau so, wie ein entsprechender Teil der länger eingesessenen Bevölkerung, der sich von rechtspopulistischen Parolen verleiten lässt.

Gleichzeitig erleben wir immer wieder, dass die Rechten, das geht bis in die CDU und ganz tief in die CSU hinein, solche Zahlen nutzt, um ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Abstammung zu stigmatisieren und dadurch zu grundfalschen Lösungen kommen. Dabei sind es gerade die Rechten, die sonst an anderer Stelle ständig autoritäre Ansätze und Ressentiments befeuern und, der deutschen Geschichte zum Trotz, damit in Teilen der (deutschstämmigen) Bevölkerung punkten können. Ich finde es wichtiger, statt nach der Herkunft nach den sozialen Ursachen zu fragen, und dann Zukunftsperspektiven etwa im Bereich der Bildung und bei der Überwindung prekärer Lebenssituationen zu suchen.

Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass Griechenland und Deutschland in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen eine historische Erfahrung teilen. Griechenland hat es Anfang der 20er Jahre bei einer Bevölkerung von gerade mal 5,5 Millionen Menschen gemeistert, 1,5 Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, während BRD und DDR nach dem 2. Weltkrieg 12 Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben. Vielleicht sollten wir uns von solchen Kraftakten der Vergangenheit inspirieren lassen und die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaften nicht unterschätzen. Mit anderen Worten: Die heutige Anzahl der Flüchtlinge ist sowohl in Deutschland wie im durch die Krise geschlagenen Griechenland zu bewältigen. Gleichzeitig sollte uns bewusst sein, dass Hilfsbereitschaft allein nicht ausreichen wird, um bestehende Probleme zu lösen. Wir müssen an linken, progressiven Ansätzen zur Integration von Flüchtlingen arbeiten und keinesfalls das Terrain den Kräften überlassen, welche die Ängste der Bevölkerung, die ganz andere Ursachen haben, lediglich benutzen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Wirtschaftliche und soziale Bedingungen zu schaffen, unter denen solche Ängste gar nicht erst entstehen, das ist die große Herausforderung.

In einem älteren Interview hatten Sie sich mit beherzten Worten an die Griechen gewandt: „Haltet durch, versucht wirklich das Beste aus dieser Situation zu machen, leistet Widerstand, damit die Institutionen begreifen, dass sie nicht über alles entscheiden können, und übt Druck auf Deutschland aus, damit es endlich seine Politik ändert.“ Was würden Sie uns heute sagen?

AT: Ich kann diese Botschaft nur wiederholen: nicht aufgeben, die vorhandenen Spielräume nutzen und die eigenen Ideale nicht kampflos preisgeben.