Europa: Es wird Zeit zu handeln

06.06.2017 / Axel Troost

Nach dem G-7-Gipfel setzt sich die deutsche Bundeskanzlerin für mehr Eigenständigkeit der europäischen Länder ein: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.“ Die USA seien kein verlässlicher Partner mehr. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt.“ Bundeskanzlerin Merkel bezog sich mit ihrer Einschätzung auf die neue amerikanische Regierung von Donald Trump und den anstehenden Brexit Großbritanniens. Es müsse natürlich bei der Freundschaft zu den USA und Großbritannien bleiben. „Aber wir müssen wissen, wir müssen selber für unser Schicksal kämpfen.“

Dabei gab sie einem guten Verhältnis zu Frankreich unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron eine besondere Bedeutung. Damit ist aber auch zugleich die Grundschwierigkeit eines solchen Kurses benannt: Deutschland müsste von seiner Politik der harten Austeritäts- und Stabilitätspolitik abrücken. Der deutsch-französische Motor könnte nur dann Fahrt aufnehmen, wenn in der Euro-Zone mit einer Ausweitung der öffentlichen wie privaten Investitionen ein neues Kapitel der Kooperation aufgeschlagen würde.

Auch die Brüsseler Kommission räumt ein, dass die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) erhebliche Defizite aufweist. Eines der Kernprobleme der Währungsunion sei das soziale und wirtschaftliche Auseinanderdriften der derzeit 19 Euro-Staaten, das mit der Krise eingesetzt hat. Die Finanzkrise und ihre Folgen haben die EU vor eine Zerreißprobe gestellt. Das starke Anschwellen der Migrationsströme hat die Spannungen verstärkt. Nicht nur die Flüchtlingskrise sondern auch die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit haben Befürchtungen vor einer Überlastung der Sozialsysteme, steigender Arbeitslosigkeit und Überfremdung wachsen lassen.

Die Krise der Eurozone und der europäischen Ökonomien ist bei weitem nicht überwunden. Jeden Tag, mit dem weiter Zeit gekauft wird, erhöhen die Fehlentwicklungen die Gefahr eines unkontrollierten Auseinanderbrechens. Jeder Austritt eines Landes oder ein politisch oder ökonomisch bedingter Zerstörungsprozess der Währungsunion würde zu erheblichen Turbulenzen an den Finanzmärkten und einer weltweiten Rezession führen. Gleichwohl wird als Alternative zum neoliberalen Weiterwursteln auch die Rückkehr zu nationalen Währungen oder mindestens ein Umbau des Währungssystems mit dem Euro gefordert.

Die Euro-Zukunft hängt maßgeblich von einem überzeugenden Konzept zur Überwindung der ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte durch wirtschaftliche und finanzpolitische Koordination ab. Die aktuellen Reparaturmaßnahmen sind völlig unzureichend. Die Eurozone findet nur aus der Krise durch eine Politik, die vor allem den südeuropäischen Ländern die Chance eröffnet, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Dazu ist eine gesamteuropäische Anstrengung nötig, die diesen Ländern hilft wie der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg den Europäern geholfen hat. Die zentrale realwirtschaftliche Ursache der Eurokrise liegt in der ungleichen Entwicklung der Handels- und Kapitalströme. Seit Einführung des Euro werden die wirtschaftlich starken Volkwirtschaften stärker und die wirtschaftlich schwachen Volkswirtschaften schwächer. Deutschland, Holland, Österreich und Finnland haben durch eine interne Abwertung an preislicher Wettbewerbsfähigkeit hinzugewonnen, der europäische Süden musste real aufwerten. Ohne einen Abbau dieser Ungleichgewichte wird der Euro nicht überleben. Durch ein umfassendes Reformprogramm lässt sich eine qualitative Wachstums- und Beschäftigungsstrategie realisieren.

Nicht nur die EU-Kommission sieht, dass nur durch eine Umkehr der Divergenz der gefährliche rechte Populismus abgeblockt und überwunden werden kann. Um die Euro-Staaten wieder auf Konvergenz-Kurs zu bringen, ist zunächst eine Stärkung der öffentlichen Infrastruktur, eine deutliche Absenkung der Arbeitslosigkeit und eine Bildungsoffensive der schwächeren Staaten zur Stärkung ihrer Produktivität nötig. Die Kommission regt die Verknüpfung von finanzieller Unterstützung aus dem EU-Haushalt – etwa aus der Kohäsionspolitik – mit nationalen Reformen an. Zudem stellt sie Optionen für eine „makroökonomische Stabilisierungsfunktion“ zur Debatte. Völlig vage bleiben die Ausführungen des Kommissions-Papiers über ein mögliches Finanzinstrument zur gemeinsamen Emission von Schuldtiteln, das laut Kommission die Integration und die Finanzstabilität stärken könnte.

Vorschläge, wie denn eine realistische Alternative für eine Korrektur der Fehlentwicklungen in der EU aussehen könnte, liegen vor.[1] In der Streitschrift „Europa geht auch solidarisch“ habe ich mit anderen für konkrete Alternativen geworben. Die wichtigsten und zum großen Teil auch ohne Vertragsänderungen realisierbare Vorschläge sind:

Erstens: die Beendigung der kontraproduktiven neoliberalen Strukturpolitik und der Übergang zu einer europäische Investitionsoffensive. Die von Macron in die Diskussion eingebrachte Überlegung eines Budget der Euro-Zone, finanziert über gepoolte Anleihen der Euro-Staaten, könnte ein Einstieg sein.

Zweitens: eine europäische Ausgleichsunion, die nicht nur mehr Wettbewerbsfähigkeit von wirtschaftlich schwächeren Ländern fordert, sondern diesen Ländern auch dabei hilft, dies zu erreichen. Dazu muss Deutschland endlich seine Leistungsbilanzüberschüsse abbauen.

Drittens: Das Europäische Parlament muss deutlich mehr Eigenmittel bekommen und mit demokratisch legitimierten europäischen Institutionen, sei es ein Finanzminister, sei es eine Wirtschaftsregierung, mindestens in der Euro-Zone ein Mindestmaß an Abstimmung in eine expansive Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bringen. Über den EU-Haushalt erhalten insbesondere die wirtschaftlich weniger starken Regionen in Süd- und Osteuropa beträchtliche Finanzhilfen für Investitionen und den Ausbau wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen. Auch Ostdeutschland hat davon profitiert. Dieser Pfad kann verstärkt werden. Denn die Wirtschaftshilfen nutzen nicht nur den Empfängerländern sondern allen EU-Staaten. Sie stärken den Zusammenhalt, helfen beim Aufbau und bei der Sicherung von Demokratien und sozialen Marktwirtschaften und eröffnen neue Absatz- und Investitionschancen. Die Finanzierungssalden der einzelnen Staaten gegenüber dem EU-Haus-halt zeigen, dass die Transfers für einige Empfänger von großer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung sind.

Viertens: Wir brauchen einen wirksamen Einstieg in eine europäische Sozialunion etwa im Bereich der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen EU-Mitgliedsländern nach wie vor erschreckend hoch ist. Angesichts der öffentlichen Debatte um Zuwanderung kann man die positiven Wirkungen für den Arbeitsmarkt nicht deutlich genug hervorheben: Die Arbeitskräftemobilität in der EU hilft auch den ökonomisch stärkeren Ländern Es gibt in Deutschland in technischen Berufen, in der Alten- und Krankenpflege, im Aus- und Trockenbau und bei Ärzten Fachkräfteengpässe, die ohne qualifizierte Zuwanderung aus der EU weit stärker ausfallen würden. EU-Ausländer stellen mittlerweile 5% aller Erwerbspersonen in Deutschland. Die Arbeitskräftewanderungen helfen aber auch den Herkunftsländern. Spanien und Griechenland haben derzeit Arbeitslosenquoten von rund 20%, von den 15–24jährigen sind über 40% arbeitslos (Jugendarbeitslosigkeit). Abwanderungen Arbeitsuchender entlasten dort die Sozialsysteme, verringern die Entwertung von Qualifikationen und geben jungen Menschen Perspektiven und Einkommen. Oft transferieren sie einen Teil davon in ihre Heimatländer und helfen so ihren Familien.

Mit dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron bietet sich die Chance, für eine neue Strategie zur Rückgewinnung ökonomischer Handlungsfähigkeit in Europa. Sie muss darauf setzen, die Probleme der Euro-Zone nicht mehr im nationalen Alleingang, sondern gemeinschaftlich zu lösen. Zusammen mit Gesine Schwan, Peter Bofinger, Gustav Horn, Harald Wolf, Lisa Paus und anderen schlage ich in der „Strategie für mehr Investitionen, mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa“[2] u.a. ein europäisches Investitionsprogramm vor. Es soll über einen Zeitraum von 5 Jahren zu zusätzlichen Investitionen von 500 Mrd. Euro führen, was jährlichen zusätzlichen Investitionen in Höhe von 1% des Bruttoinlandsprodukts des Euroraums entspricht. Um die EU wirtschaftlich voran zu bringen, kommt es heute vorrangig darauf an, für mehr Arbeitsplätze und höhere Einkommen zu sorgen, um überall in Europa die Finanzkrise hinter sich zu lassen.

Zur Umsetzung des Investitionsprogramms wäre an ein Volumen für das eigenständige Budget des Euroraums in Höhe von rund 30 Mrd. Euro pro Jahr zu denken. Für Deutschland würde dies einen Beitrag von rund 9 Mrd. Euro jährlich bedeuten, was 0,3 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts ausmachen würde. Das Budget sollte zwischen 5 und 10 Mrd. Euro pro Jahr für Qualifikationsmaßnahmen vorsehen, mit einem Schwerpunkt auf Jugendarbeitslosigkeit und die Beschäftigung von Jugendlichen in kommunalen Investitionsvorhaben sowie zwischen 20 und 25 Mrd. Euro pro Jahr für kommunale Investitionsvorhaben (insbesondere Schul- und Wohnungsbau, Nahverkehr, Krankenhäuser), die Stärkung des öffentlichen Dienstes, den Ausbau der Infrastruktur bei Wasser und Energie sowie für die Gestaltung des öffentlichen Raumes.

Emmanuel Macron ist ein engagierter Europäer. Er setzt sich dafür ein, dass Frankreich wieder eine führende Rolle in Europa übernimmt. Zudem unterstützt er eine Vertiefung der europäischen Währungsunion und setzt sich für eine Investitionsoffensive in Frankreich mit europäischer Unterstützung ein. Er will daher umfangreiche Programme für öffentliche Investitionen auf nationaler wie auch auf EU-Ebene umsetzen, wobei er das Juncker-Programm für notwendig, jedoch unzureichend hält. Für Frankreich will Macron ein 50 Mrd. Euro umfassendes öffentliches Investitionsprogramm einsetzen, unter anderem zugunsten der Ausbildungsförderung (15 Mrd. €), der Energiewende (15 Mrd. €), des Gesundheitswesens (5 Mrd. €) und der Landwirtschaft (5 Mrd. €).

All das klingt vordergründig so, als seien dies eher visionär Projekte. Das muss nicht so sein. Es ist an der Zeit, zu pragmatischen Lösungen zu kommen und wirkliche Fortschritte einzuleiten um die wachsende Divergenz der Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Eurozone zu bekämpfen. Es bietet sich die Chance für eine neue Strategie zur Rückgewinnung von Vollbeschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Sie muss darauf setzen, die Probleme der Euro-Zone nicht mehr im nationalen Alleingang, sondern gemeinschaftlich zu lösen. In den jüngsten Wahlergebnissen einiger Mitgliederländer öffne sich gerade ein Fenster der politischen Möglichkeiten – so der EU-Kommissar Moscovici in Anspielung auf die Wahlen in den Niederlanden und Frankreich. Wenn wir die Chance der neuen Ansätze und Möglichkeiten nicht ergreifen – das betrifft insbesondere die größte Fraktion der europäischen Linkskräfte –, dann steigt die Gefahr, dass der Politikertypus Le Pen nicht nur in Frankreich Wahlen gewinnt und dass sich die Frage der Europäischen Union irgendwann ganz anders oder gar nicht mehr stellt. Wir müssen handeln.

[1] www.axel-troost.de

[2] restart-europe-now.eu

_______________

Die aktuelle Kolumne von Axel Troost finden Sie nachfolgend auch als PDF zum download. Weiter Kolumnen finden Sie auf www.die-linke.de: "Die Kolumne von Axel Troost"