Allianz für Ostdeutschland
Den Artikel 72 des Grundgesetzes endlich ernst nehmen und umsetzen − ein Angebot zur Diskussion
In der kommenden Legislaturperiode begehen wir den 30. Jahrestag der friedlichen Wende in der DDR und des Weges in die deutsche Einheit. Die Menschen gewannen Freiheit und Demokratie. Die Stadtzentren und die Infrastruktur wurden beachtlich entwickelt.
Die Entwicklung seit 1989/90 hat vielen Menschen in den neuen Ländern aber Brüche in ihren Biographien, ihrem Umfeld, ihren Lebensperspektiven zugemutet, die von der Politik im Großen wie im Kleinen bis heute keine ausreichende Würdigung erfahren. Vom Erleben einfach gestrichener DDR-Betriebsrenten und der Schlechterstellung in der DDR geschiedener Frauen über verschleudertes industrielles Potential und fehlende Konzepte gegen Langzeitarbeitslosigkeit bis hin zu Netzentgelten, die den Osten dafür bestrafen, dass dort besonders viel Energie erneuerbar erzeugt wird, ziehen sich mannigfaltige Erfahrungen der Zweitklassigkeit durch die drei Jahrzehnte. Sehr bedauerlich ist auch, dass im Osten funktionierende Strukturen wie das flächendeckende Kindertagesstättennetz, Polikliniken, die Genossenschaften in der Landwirtschaft und anderes nicht übernommen werden. Die Aufmerksamkeit für den Osten hat mit jeder Regierung abgenommen, was in der derzeitigen Regierung Merkel darin kulminierte, dass sie bei der Rentenangleichung sogar den eigenen Koalitionsvertrag brach. Das Gefühl der Geringschätzung, des Abgehängtseins, des Nicht-Ernst-Genommen-Werdens verfestigt sich und lässt viel zu viele Menschen im Osten an ihrem Wert für unsere Gesellschaft und am Wert der demokratischen Gesellschaft für sie selbst zweifeln.
Die grundgesetzliche Pflicht, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilen des Landes zu gewährleisten, wurde von den Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte vor allem in Bezug auf die öffentliche Infrastruktur in Ballungsräumen und an den Hauptverkehrsadern zwischen Ost und West wahrgenommen. Diese großen Investitionen gingen nicht einher mit einer gezielten Industriepolitik und der Unterstützung von Regionen jenseits der Entwicklungskerne. Das begünstigte ein Ausbluten von bedeutenden Landstrichen. Fast drei Jahrzehnte nach der Wende sind die neuen Bundesländer immer noch eine nahezu flächendeckend strukturschwache Region, die das Licht der Leuchttürme aus wenigen Ballungsgebieten nicht ausreichend erhellen kann. Die Ungleichheit im Vergleich zum Westen zeigt sich in geringeren Löhnen bei längerer Arbeitszeit, höherer Arbeitslosigkeit, geringerer Vermögensbildung und größeren Armutsrisiken für die Menschen im Osten. Das jüngste Beispiel dafür ist die Festschreibung eines niedrigeren Mindestlohns für die in der Pflege Beschäftigten bis ins Jahr 2020. Generell ist die Arbeitszeit für Ostdeutsche im Jahr um fast zwei Wochen länger bei 20 Prozent niedrigerem Einkommen.
DIE LINKE hat als bundesweit agierende Partei anders als die anderen Parteien die Probleme des Ostens nie aus dem Auge verloren und steht konsequent dafür, das im Artikel 72 des Grundgesetzes formulierte politische Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, Wirklichkeit werden zu lassen. Bundestag und Bundesregierung haben durch das Grundgesetz für diese Aufgabe eine besondere Verantwortung, aber auch besondere Handlungsvollmachten verliehen bekommen, die von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen nie wirklich konsequent genutzt worden sind, um mit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die Leistungen der Ostdeutschen gleichwertig zu würdigen.
Wir schlagen deshalb eine "Allianz für Ostdeutschland" aller Kräfte aus Gesellschaft und Politik vor, um endlich Gerechtigkeit für die Menschen in den neuen Bundesländern zu schaffen. Wir fordern auch die anderen Bundestagsparteien auf, sich dieser Allianz anzuschließen und künftig keine Regelungen, Gesetze, Verordnungen und Absprachen zu treffen, zu beschließen oder auch nur zu unterstützen, die eine Schlechterstellung der Menschen im Osten bedingen.
Auf dieser Grundlage wollen wir einen verbindlichen Plan zur Angleichung der Lebensverhältnisse, einen "Gerechtigkeitsplan Ost" erarbeiten, für den wir die folgenden Punkte vorschlagen:
1. Eine Gemeinschaftsaufgabe gleichwertige Lebensverhältnisse, mit der ab 2019 auf zehn Jahre angelegt wirtschafts- und strukturschwache Regionen in Deutschland insgesamt durch gezielte Förderung entwickelt werden.
2. Eine Aufwertung der Infrastruktur in ländlichen Räumen, vor allem eine Finanzierung des Breitbandausbaus durch den Bund und Anbindung kleinerer Städte und Gemeinden an einen funktionsfähigen öffentlichen Personenverkehr.
3. Die flächendeckende und bedarfsgerechte Finanzierung von Krankenhäusern sowie die Aufwertung und gesetzliche Personalbemessung in Gesundheit und Pflege. Wir wollen die Grundlagen dafür schaffen, dass in den neuen Bundesländern mindestens 1500 Landärztinnen und Landärzte zusätzlich ihre Arbeit aufnehmen. Ebenso sollen die positiven ostdeutschen Erfahrungen für eine flächendeckend gute Gesundheitsversorgung (Polikliniken) wieder in den Vordergrund rücken.
4. Ein Investitionsprogramm für Barrierefreiheit und altersgerechten Wohnens besonders im ländlichen Raum.
5. Einen "Goldenen Plan Ost" für den Erhalt und Ausbau von Schulen, Begegnungsstätten und Sportanlagen in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands.
6. Eine aktive Industriepolitik zur Unterstützung von Start-Up Unternehmen vor allem im Bereich der Industrie 4.0 verbunden mit der verstärkten Förderung von Forschung und Entwicklung durch revolvierende Fonds mit einer Beteiligung der öffentlichen Hand mit Eigenkapital an jungen Unternehmen. Für die Braunkohleregionen in Ost und West wollen wir ein Konversions- und regionales Strukturentwicklungsprogramm auflegen, um den sozial-ökologischen Umbau mit Zukunftschancen für die Regionen zu verbinden.
7. Wir brauchen die Stärkung der Tarifbindung von Unternehmen durch Erleichterung der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit und vor allem bundesweit einheitliche Flächentarifverträge. In Verbindung damit schlagen wir eine Selbstverpflichtung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vor, nie wieder Verträge abzuschließen, die schlechtere tarifliche Bedingungen für den Osten enthalten.
8. Die Vergabepolitik der öffentlichen Hand soll streng an soziale und ökologische Kriterien gebunden werden, z.B. an die Zahlung auskömmlicher tariflicher Löhne.
9. Die Angleichung der Rentenwerte im Osten an das Westniveau bis spätestens 2020 und die Einführung einer Solidarischen Mindestrente von 1050 Euro generell in Deutschland sind zwingend.
10. Eine deutliche Heraufsetzung des Kindergeldes auf 328 Euro und die spätere Einführung einer Kindergrundsicherung von 573 Euro. Ein flächendeckendes und bedarfssicherndes Netz von Kindertagesstätten gehört zu den positiven Erinnerungen der Menschen in den neuen Bundesländern. Wir wollen dies auch durch Finanzierungen aus dem Bundeshaushalt wieder ermöglichen und streben für Kitas Beitragsfreiheit an.
11. Wir fordern die Einrichtung eines Bundesministeriums für Infrastruktur und die neuen Länder. Aufgabe ist die zügige Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West als zentrale Regierungsaufgabe. Es gibt ein Veto-Recht im Kabinett zu solchen Entscheidungen, die dieser Aufgabe entgegen stehen. Die Bündelung der Zuständigkeiten, die Verkürzung der Entscheidungswege und die Konzentration auf die Umsetzung des Gerechtigkeitsplans Ost sind zu realisieren. Das Ministerium kann in eine Struktur beim Bundeskanzleramt umgewandelt werden, wenn die neuen Bundesländer bei wenigstens 90% der wesentlichen sozial-ökonomischen Durchschnittsdaten der Westländer liegen.
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