Hamburg: König Olaf und die alte Sozialdemokratie
Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Die Hamburger Wahlergebnisse
Bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg hat die hanseatische SPD einen triumphalen Erfolg eingefahren und mit 48,3% das beste Ergebnis seit fast 30 Jahren erreicht. Sie kann mit knapper absoluter Mehrheit die neue Landesregierung bilden. Die großen Verlierer waren die Christdemokraten. Die CDU wurde deutlich abgestraft, verlor mehr als 20% der Stimmen, die Hälfte der Mandate und landete mit 21,9% beim schlechtesten Resultat ihrer Nachkriegsgeschichte.
Freuen kann sich dagegen die hanseatische FDP, seit Jahren von inneren Querelen und Konzeptionslosigkeit gelähmt, die vom beispiellosen Schwächeanfall der bürgerlichen Schwesterpartei und einer ihr wohlgesonnen Presse profitieren konnte und mit 6,6% WählerInnenzuspruch unverdient in das neue Landesparlament einzieht. Die bürgerlichen Parteien bringen also in der Hansestadt zusammen weniger als ein Drittel der abgegebenen gültigen Stimmen zusammen.
Lange Gesichter gab es dagegen bei den Grünen. Die GAL konnte zwar mit 11,2% gegenüber der Bürgerschaftswahl 2008 leicht zulegen, hatte sich jedoch durch einen Bruch der schwarz-grünen Koalition erhofft, vom christdemokratischen Partner befreit auf der bundesweiten grünen Welle mitsurfen zu können.
Erleichtert war DIE LINKE, dass sie mit 6,4% ihr Resultat von 2008 wiederholen konnten, drohte ihr vor Wochen doch noch das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde. Hätte sie den Wiedereinzug verfehlt, wären damit nicht nur drei Jahre konstruktive Oppositionsarbeit zunichte gemacht, sondern zugleich eine fatales Signal für die anstehenden sechs weiteren Landtagswahlen (vor allem in Baden Württemberg und Rheinland-Pfalz) gesendet worden – mit den entsprechenden Folgen für die innerparteilichen Auseinandersetzungen. Die Berliner Zentrale hatte deshalb viel Geld und Personal nach Hamburg geschickt, um das Minimalziel zu erreichen.
Bei aller Freude über das Erreichen des tief gesetzten Ziels, sollte allerdings auch DIE LINKE nicht übersehen, dass ein weiteres wichtiges Merkmal der Hamburg-Wahl die erneut deutlich gesunkene Wahlbeteiligung war. Nur mehr etwas mehr als 700.000 BürgerInnen bzw. 57,0% der Wahlberechtigten haben von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. 540.000 Menschen (6,6% mehr als 2008) hatten dagegen kein Vertrauen in eine der kandidierenden Parteien. Der Zuspruch von 25% aller Wahlberechtigten reichte deshalb aus, um der SPD und ihrem Spitzenkandidaten zu einer absoluten Mehrheit zu verhelfen.
Erneut zeigt sich, dass in den Quartieren mit einem hohen Anteil von BürgerInnen mit Transfereinkommen die Wahlbeteiligung besonders gering ist. Während DIE LINKE in den Armutsquartieren wie Veddel/Wilhelmsburg bei niedriger Wahlbeteiligung hohe Stimmanteile gewinnt, kann die mit Unterstützung der Medien reanimierte FDP in der HafenCity über 16% Zustimmung einsammeln.
Was waren die Gründe für die dramatische Verschiebung in der politischen Geografie Hamburgs und welche Bedeutung hat das für die Bundesebene? Mit dem Scheitern von Schwarz-Grün ist in Hamburg eine 10-jährige Periode christdemokratisch geführter Senate zu Ende gegangen. Gescheitert ist damit auch der vom ehemaligen ersten Bürgermeister Ole von Beust unternommene Versuch, die CDU durch das Bündnis mit einer konservativ gestrickten grünen Partei das bürgerliche Lager gegenüber den BürgerInnen mit Migrationshintergrund zu öffnen und den stark marginalisierten Bevölkerungsgruppierungen in den benachteiligten Quartieren eine sozial-integrative Perspektive zu eröffnen. Ziel dieser strategischen Operation war die Entwicklung der CDU in Richtung einer modernen Großstadtpartei. Die Koalition mit den Grünen sollte eine Erneuerung der bürgerlichen Politik einleiten, in der Themen wie ökologische Erneuerung, Migration und moderne Lebensformen, aber auch die soziale Spaltung ihren Platz haben sollten.
In der praktischen Umsetzung wurde das Gegenteil getan und erreicht. Auch Hamburg ist längst nicht mehr nur Handelsstadt und eine Metropole, in der alle industrielle Sektoren der Meerestechnologie zu Hause sind. Hamburg war über die Förderung der Schiffsfinanzierungen weltweit mit der Landesbank unterwegs, während die modernen Schiffe, Plattformen und Turbinen für Windkrafträder zum Großteil im Ausland hergestellt wurden. Die Stadt sollte wachsen durch Unternehmens- und Finanzdienstleistungen, kreative Milieus und ökologische Produktionen: »Wachsen mit Weitsicht« hieß das schwarz-grüne Leitbild.
Gleich am Anfang der proklamierten Versöhnung von Ökologie und Ökonomie stand der ökologische Sündenfall des Kohlkraftwerks in Moorburg. Ein riesengroßes Kohlekraftwerk mitten in der Stadt, günstig durch Importkohle über Schiffstransporte zu befeuern. Eines der zentralen schwarz-grünen Projekte, die Schulreform mit etwas mehr Bildungsgerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen, scheiterte letztlich an der inneren Zerrissenheit des bürgerlichen Lagers (und der Sozialdemokratie). Vor dem Hintergrund des Booms vor Beginn der großen Krise und sprudelnder Steuereinnahmen wurden zudem zahlreiche Leuchtturmprojekte auf den Weg gebracht, die nur den Kreativen, den Touristen und den Betuchten nützen, aber viel Steuergeld für alle kosten. Die soziale und öffentliche Infrastruktur wurde demgegenüber sträflich vernachlässigt. Der Wohnungsbau brach regelrecht ein, (auch deswegen) steigende Mietpreise führten in fielen Stadtteilen zur Vertiefung der sozialen Spaltung (Gentrifizierung). Investitionen in die Wirtschaftstruktur der Stadt waren Fehlanzeige.
Mit der Weltwirtschaftskrise wurde dieser Politik der Boden entzogen. Nachdem Schwarz-Grün zu Beginn auf Austeritätsprogramme verzichtet hatte, wurde der Hebel umgelegt: trotz wieder einsetzender wirtschaftlicher Erholung plante man Kürzungen bei Personal und öffentlichen Dienstleistungen im großen Stil – um den Haushalt zu »sanieren«. Gleichzeitig wurden viele Milliarden Euro in die marode HSH Nordbank gepumpt – Geld das abgeschrieben werden muss. Am Ende hatte Schwarz-Grün keine Projekte, aber auch kein Geld mehr. Die Stadt war faktisch pleite und die Mehrheit der BürgerInnen vom schwarz-grünen Regieren bedient.
Das Regierungspersonal wechselte in immer kürzeren Fristen, teils aus politischem Verdruss, teils wegen tiefer Verstrickung in Skandale. Nur 29% der Befragten waren nach einer Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen der Meinung, Schwarz-Grün habe Hamburg vorangebracht, 64% sagten, Ex-Bürgermeister von Beust habe Hamburg durch seinen überraschenden Rücktritt im Juli »im Stich gelassen«. Die Grünen zogen die Notbremse, kündigten die Koalition auf, was Ihnen zunächst höhere Umfragewerte bescherte.
In diese Konstellation und Stimmung hat Olaf Scholz mit seiner Formel vom »ordentlich regieren« erfolgreich interveniert, nachdem er »seine« Sozialdemokratie vorher wieder auf Vordermann gebracht hatte – obwohl der zukünftige Erste Bürgermeister und die mit ihm regierende SPD kein Zukunftsprogramm für die Freie und Hansestadt Hamburg haben. Ihre Stärke ist die Schwäche und die Unfähigkeit des bürgerlichen Lagers. Das erklärt den enormen Schwing zurück zur Sozialdemokratie, die gut 60 000 Stimmen dazugewonnen hat. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung fragt daher zu Recht: »Wie kommt es, dass sich eine Pappschachtel in ein Schatzkästlein verwandelt? Was ist geschehen, wenn ein vermeintlich konturenloser Polit-Manager wie Olaf Scholz nun als Siegertyp dasteht? Wie kann es passieren, dass einer, der als ›Scholzomat‹ beschrieben wurde, als ein blecherner Automat also, auf einmal als großer Sympathieträger gilt?«
Die Umstände, lautet seine Antwort: »Im Licht des eskapistischen Rückzugs Ole von Beusts und im Licht der allgemeinen Verdrießlichkeit der Hamburger über die scheuernde schwarz-grüne Koalition wurde der Blick auf Olaf Scholz und auf seine SPD vollkommen verwandelt. Nach der Flucht des Ole von Beust aus der Verantwortung erschien den Wählern der vorher eher sperrige Olaf Scholz, der sich von vielen Niederlagen und Misserfolgen in Bund und Land nicht hat niederdrücken lassen, auf einmal als die Verkörperung der Seriosität.«
In der Tat: Schwarz-Grün hatte seit längerem nicht mehr seriös regiert, wie es die WählerInnen von einer bürgerlichen Koalition erwarten. Daraus wollte und hat Olaf Scholz politisches Kapital geschlagen: »Ich glaube, wir erhalten hier Zustimmung weit über die klassische SPD-Anhängerschaft hinaus, weil die Hamburger die SPD als Partei verstehen, die sich sehr pragmatisch um die Probleme der Stadt kümmert. Im Wettbewerb mit anderen politischen Gruppen auf dem linksliberalen Wählermarkt hilft es der SPD jedenfalls, sich mit pragmatischen Vorschlägen zu profilieren, die das Leben der Menschen konkret verbessern.« Er konnte seine Botschaft radikal vereinfachen: »Mein Ziel ist, dass Hamburg wieder ordentlich regiert wird.« Mit überzeugenden Zielsetzungen war diese Botschaft nie und ist auch der nun gelungene Regierungswechsel nicht verknüpft.
Der Spitzenmann der SPD strebte von Beginn offensiv eine Liaison mit den von der CDU enttäuschten Teilen des Hamburger Bürgertums an. Mit dem Vorschlag, das Wirtschaftsressort mit dem langjährigen Präses der Handelskammer, Frank Horch, zu besetzen, hat Scholz ohne innerparteiliche Debatte die Partei zur Mitte hin geöffnet. Der neoliberale Wirtschaftsfunktionär und der SPD-Politiker liegen in wesentlichen Punkten der zukünftigen Entwicklung für Hamburg dicht beieinander: mehr Investitionen in den Standort (Hafenausbau, Infrastruktur), Elbvertiefung, Haushaltskonsolidierung, mehr innere Sicherheit und weniger »Kultur des Dagegenseins«. Dazu passt, dass der parteilose Horch den Sozialdemokraten Scholz aufgefordert hat, der innerparteilichen Rücknahme der unter Schröder und seiner Verantwortung praktizierten Agenda-Politik endlich einen Riegel vorzuschieben.
Ganz auf dieser neoliberalen Linie liegt auch das finanzpolitische Konzept, mit dem die Sozialdemokratie in den nächsten Jahren Hamburg regieren will. »Wir müssen den Haushalt in Hamburg konsolidieren, der hat ein strukturelles Defizit von jährlich 500 Millionen Euro. Deshalb müssen wir jetzt sparen, was aber nicht heißen kann, dass keine kluge Politik möglich ist. Wir müssen Prioritäten setzen. Wenn wir keine Studiengebühren und eine bessere und vor allem kostenlose Kita-Betreuung wollen, müssen wir an anderer Stelle sparen. Ich habe dazu Vorschläge gemacht, im Wahlkampf, was nicht immer populär ist, aber zur Wahrheit dazugehört.«
Das SPD-Konzept läuft in der Substanz auf eine Neuauflage und Verschärfung der von Schwarz-Grün bekannten Kürzungs- und Konsolidierungspolitik hinaus. Die vielen dringlichen Aufgaben zur Verbesserung der Lebenslage der Mehrheit der BürgerInnen und zur Bekämpfung der sozialen Spaltung in der Stadt – gebührenfreie Bildungsangebote, Ausweitung eines Programms für bezahlbare Mietwohnungen, Erweiterung des öffentlichen Personennahverkehrs und Verbesserung der Finanzsituation für Museen, Theater, Bücherhallen etc. – wird man auf einer solchen Finanzgrundlage nicht entwickeln können.
Zum enormen Swing in Richtung einer nicht erneuerten Sozialdemokratie gehört die Schwäche der Alternativangebote. Im Verlauf der Wahlkampfes sackte der Bonus »Befreiungsschlag«, auf den GAL gesetzt hatte, zusammen wie ein schlechtes Soufflé. Die Rolle des grünen Korrektivs wurde ihr immer weniger abgenommen – die Ausstattung der SPD mit einer absoluten Mehrheit ist die Konsequenz.
Auch DIE LINKE muss sich einen kleinen Beitrag zum Triumphzug einer Sozialdemokratie, die sich nicht von der neoliberalen Agenda 2010 und dem Hartz VI-System distanzieren will, ans Revers heften. Sicherlich verrät es Stehvermögen, sich einer derartig enormen politischen Welle entgegen zu stemmen. Und in der Tat hat die kleine Parteiorganisation beachtliches geleistet, sich auch durch die Eigensinnigkeiten des Partei- und Politbetriebes der LINKEN in Berlin nicht aus dem Takt bringen lassen. Aber für eine Partei, die sich zumindest partiell darauf beruft, eine Wahlalternative zur neoliberal gewendeten Sozialdemokratie sein zu wollen, ist die absolute Mehrheit der SPD kein Erfolg und drückt eine große Unzulänglichkeit aus.
Schon die Stunde der Großen Krise, eines sich abzeichnenden Systembruchs des Finanzmarktkapitalismus, war nicht die Stunde der LINKEN. Jetzt, wo nur vordergründig alle Krise vorbei ist, findet auch DIE LINKE keine tragfähige Ansprache für die enttäuschten BürgerInnen. Es ist ja kein schlechter Ansatz, gut regiert werden zu wollen. Entscheidend wäre gewesen, deutlich zu machen, dass man nur mit einer deutlich veränderten Sozialdemokratie den Korridor traditioneller Politik hätte verlassen und damit einer weiteren Enttäuschung der WählerInnen vorbeugen können. Ein wenig mehr und tiefer gehende Selbstkritik würde der LINKEN durchaus gut tun.
Der Traum mancher Politstrategen, die politische Landschaft lasse sich alsbald mit Hilfe eines schwarz-grünen Bündnisses neu ordnen, ist ausgeträumt. Im Stadtstaat Hamburg hat sich bereits die Unverträglichkeit erwiesen. In Baden-Württemberg, das trotz einer zutiefst konservativen CDU immer mal wieder als weiteres Experimentierfeld galt, sind sich Christdemokraten und Grüne wegen des Streits über den Superbahnhof Stuttgart 21 inzwischen spinnefeind. Es bleibt dabei, rot-grün ist die Koalition der nächsten Zeit und DIE LINKE muss findiger und strategischer werden, um unter diesen Bedingungen einen grundlegenden Politikwechsel populär zu machen.
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Gabriels Einladung, der Spagat der SPD und ein Lafontaine von 1985