Der Zeitgeist ist nach links gerutscht
Von Jana Hensel, FREITAG
Will die Linkspartei künftig eine ostdeutsche Regionalpartei sein oder hat sie den Anspruch, diese Gesellschaft insgesamt zu verändern? Genau das wäre nötig
"Eine Bewegung erweist sich als erfolgreich, wenn sie zerfällt“, titelte die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley jenen Text, der der letzte ihres Lebens sein sollte und daher heute wie ein politisches Testament gelesen werden kann. Sie geht darin von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen der „Kraft der Straße“ und der „politische Klasse“ aus. Regt sich das eine, bekommen die anderen Angst, schrieb sie. Und greift dabei natürlich auf ihre eigenen Erfahrungen vor und nach dem Mauerfall zurück, denn auch „unsere Demokratiebewegung wurde nicht als Ferment im gesellschaftlichen Umbau gesehen, sondern als Störfaktor im vereinigten Deutschland begriffen“.
Noch ist nicht abzusehen, ob eine derartige historische Erfahrung auch der Linkspartei droht. Eine Bewegung ist sie natürlich nicht, aber ein sich als starre Partei begreifender Apparat sollte sie als linke Kraft auch nicht sein. Irgendwo dazwischen müsste sie sich so einrichten, dass es nie behaglich wird, sondern immer recht zugig bleibt. Auch wenn es keinen ungünstigeren Ort gibt, um erkennbar seinen Platz zu behaupten und sich stets neu zu formieren.
Wenn die Linkspartei nun nach ihrem katastrophalen Ergebnis bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen vor einer Zerreißprobe steht, die grundsätzlicher nicht sein könnte und deren Frontlinien nicht zufällig so ziemlich genau zwischen Ost und West verlaufen, dann kann von diesen Auseinandersetzungen dennoch eine positive Kraft ausgehen. Das Scheitern der Linkspartei im Westen könnte auch eine Chance für sie bedeuten.
Dafür jedoch müssten beide Seiten – also all die, die sich um Oskar Lafontaine scharen und jene, die man allgemein als die ostdeutschen Reformer bezeichnet – auf jene politischen Bewegungen zugehen, die sich in den letzten Jahren außerhalb der Linkspartei etabliert haben. Sie muss ihre nach „innen gewendete Kultur“ überwinden, wie es in einem Papier des Netzwerkes marx21 heißt.
Denn es ist ja nicht so, dass die Wirklichkeit sich befriedet hätte. Eine Partei wie die Linke ist nach wie vor notwendig. Die Bandbreite der momentan geführten Kämpfe ist groß, der Zeitgeist nach links gerutscht. Was jedoch Occupy, die Piratenpartei sowie Proteste gegen Mietwucher und Gentrifizierung miteinander verbindet, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber dem parlamentarischen System. Viele meinen, wenn sie von einer digitalen Demokratie sprechen, viel mehr als nur die Politik im Netz. Im Kern geht es dabei um neue Formen von Mitbestimmung und die teilweise Überwindung der erstarrten Parteistrukturen.
Die Linke sollte also ihre derzeitigen Probleme als eine Zäsur begreifen und als Aufforderung verstehen, sich auf die Suche nach all dem zu begeben, was auch viele Wähler derzeit suchen. Sie müsste Begriffe und Definitionen finden, Orte zur Verfügung stellen, sich durchlässig zeigen und mit anderen politischen Akteuren verbinden, anstatt stets die anderen Parteien ritualisiert nur als neoliberal zu kritisieren.
Dafür müssten sich die ostdeutschen Reformer von ihrem bisherigen Politikstil verabschieden. Und Oskar Lafontaine müsste am Ende seiner Karriere noch einmal zu einem werden, der mehr Fragen als Antworten hat. Ob beide Seiten bis zum Parteitag Anfang Juni dazu die Kraft aufbringen, ist ungewiss. Gewiss ist dagegen, dass die Linkspartei vor der Wahl steht: Will sie künftig eine ostdeutsche Regionalpartei sein. Oder hat sie den Anspruch, diese Gesellschaft insgesamt zu verändern – genau das wäre nötig.
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