Fast eine Liebeserklärung
Der Schriftsteller Raul Zelik* findet DIE LINKE großartig. Und ist deshalb in die Partei eingetreten
Ich bin in dieser Woche der LINKEN beigetreten. Um diese Entscheidung zu begründen, muss ich zunächst mal erklären, warum mich Parteien in 30 Jahren politischen Aktivismus‘ bislang wenig interessiert haben.
Als politisch denkender Mensch lernt man schnell, dass die Zusammensetzung von Regierungen und Parlamenten für politische Entscheidungsprozesse in einer Gesellschaft oft völlig bedeutungslos ist. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat wurde von Konservativen in Frankreich ganz ähnlich »gestaltet« wie von deutschen Sozialdemokraten. Die Sozialisten Spaniens und Portugals sorgten nach dem Sturz der Diktatur Mitte der Siebziger nicht etwa für einen Linksruck in ihren Gesellschaften, sondern für eine Modernisierung ihrer Länder im Sinne der Eliten. Auch Großbritanniens New Labor stand in den Neunzigern eher für neoliberale Kontinuität denn für den politischen Wechsel. Und in Deutschland schließlich war es eine Mitte-Links-Regierung, die die wichtigsten rechten Reformen - Demontage des Sozialstaats und Kriegseinsätze - durchsetzte. Der CDU wäre das schwerer gefallen; sie hätte größere soziale Widerstände zu überwinden gehabt.
Offensichtlich beeinflussen Parlamentsmehrheiten und Regierungen herrschende Politik also weniger, als gemeinhin angenommen wird. Das bedeutet im Umkehrschluss: Parlamentarische Politik kann nicht Kern eines emanzipatorischen Projekts sein. Das hat sinngemäß im Übrigen auch Dietmar Bartsch bei seiner Bewerbungsrede auf dem Bundesparteitag gesagt: Veränderung muss gesellschaftlich durchgesetzt werden.
Das ist aber nicht das einzige Problem in diesem Zusammenhang. Berufspolitik und Parlamentarismus sind außerdem von institutionellen Assimilationskräften geprägt, die gesellschaftlicher Emanzipation diametral entgegenwirken. Hauptberufliche Repräsentation schafft bei Funktionsträgern, zumindest tendenziell, ein ökonomisches Interesse an der Aufrechterhaltung bestehender Politikformen. Der Soziologe Robert Michels hat das Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Studie über die Vorkriegs-SPD postuliert: Führungsgruppen, die aus einer einfachen Arbeitsteilung entstehen, entwickeln eigene Macht- und Klientelkalküle. Die »Entfernung der Politik von den WählerInnen«, über die heute so laut lamentiert wird, ist dem bürgerlich-parlamentarischen System deshalb logisch eingeschrieben. Am Ende transformieren nicht die Reformer das System, sondern das System die Veränderer. Die Geschichte der Grünen sollte in dieser Hinsicht stets mahnendes Beispiel sein.
Die LINKE als feine Stimme der Vernunft
Warum dann aber doch einer Partei, konkret der LINKEN, beitreten? Man könnte mit einer Punk-Attitüde argumentieren: Eine Organisation, auf die der Mainstream so inbrünstig eindrischt, kann nicht ganz daneben liegen. Aber als Begründung reicht das natürlich nicht.
Linker Politik geht es um emanzipatorische Veränderung. Auch wenn in diesem Zusammenhang viele Fragen offen sind, so liegt doch auf der Hand, dass diese Veränderung nur möglich ist, wenn gesellschaftliche Gegenhegemonien entstehen - also die kollektive Vorstellung unterbrochen wird, die Verhältnisse seien optimal oder doch zumindest alternativlos.
In dieser Auseinandersetzung sind wir, als GesellschaftskritikerInnen, zwangsläufig im Nachteil. Wir haben nicht die finanziellen Ressourcen, um PR-Büros zu beschäftigen oder Führungspersonal heranzuziehen. Und dennoch wirkt die »Praxis von unten«: Die Diskussionen, die am Arbeitsplatz oder in Schulen über die Verteidigung öffentlicher Güter geführt werden, die antirassistischen oder queeren Perspektiven, die über Musik, Filme und Bücher in die gesellschaftlichen Narrationen einsickern, die Straßenproteste, die deutlich machen, dass die Krisenpolitik der europäischen Eliten kein Naturereignis sind - all das geht mit ein in die Alltagsvorstellungen.
Das für mich Erstaunliche ist nun - und damit komme ich zur LINKEN zurück -, dass die Linkspartei in dieser Auseinandersetzung in den vergangenen Jahren eine gute Rolle gespielt hat. Das war für mich auch deshalb überraschend, weil mir die in der LINKEN aufgegangen Gruppen alle recht fremd waren. Mit den Biografien des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, der KPF-Sprecherin Sahra Wagenkecht, der hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre, K-Grüpp᠆lerInnen und teilweise aus dem DDR-Apparat stammenden PDSlerInnen verbindet mich wenig. Und doch hat diese gescholtene, durcheinandergewürfelte, oft auch bizarre Partei wesentliche Fragen überhaupt erst wieder thematisiert. Ja, wir leben im Kapitalismus; ja, man muss, wenn man Demokratisierung will, auch das Gemeineigentum stärken; ja, es gibt in Deutschland Parteien, die Klasseninteressen vertreten und es wäre ganz schön, wenn auch die subalternen Klassen über eine solche Organisation verfügten.
Wenn ich die Debatten der letzten Jahre Revue passieren lasse, fühle ich mich fast zu einer Liebeserklärung hingerissen. Aus welchen Reihen stammen die Krisenanalysen, die ein bisschen Tiefgang entwickeln? Wo wird erwähnt, dass der Grüne Kapitalismus - bei aller Sympathie für die Energiewende - keine Lösung sein kann, weil Akkumulation immer auch Wachstum impliziert und Wachstum auf Dauer nicht ökologisch nachhaltig sein kann? Wer hat in den vergangenen Jahren - natürlich »zur Verteidigung der Menschenrechte« - den Einsatz der NATO in erdölreichen Ländern gefordert und wer hat darauf hingewiesen, die NATO sei eben keine Widerstandsarmee, sondern der militärische Zusammenschluss der wichtigsten imperialen Staaten?
Sicher, auch viel Dummes war zu hören. Manches können Linke / LINKE (klein- und großgeschrieben) einfach noch nicht so gut ausdrücken: Es klingt hölzern, harmoniesüchtig oder im Schwarz-Weiß-Denken verhaftet. Aber im Großen und Ganzen habe ich die Linkspartei - ganz unerwartet - im sinnentleerten Konzert des Politikbetriebs doch als feine, dissonante Stimme der Vernunft zu schätzen gelernt.
Mehr als die Summe ihrer Teile
Als Freund Marxscher und Deleuzescher Theorie habe ich eine These, woran das liegen könnte: Eine Verbindung ist stets mehr als die Summe ihrer Teile. Das ist das Schöne an gesellschaftlichen Prozessen: Es entsteht ein Wissen, das über das versammelte Einzelwissen und seine TrägerInnen hinausgeht; es kommt zu Verschiebungen der Perspektive und neuen produktiven Verbindungen. Die SPD der 1970er Jahre, auf die sich Oskar Lafontaine manchmal positiv beruft, habe ich als Speerspitze der Terrorismushysterie und als »Dachlatten«-Partei in Erinnerung. Aber wer wollte leugnen, dass es auch in dieser herrschaftstechnisch eingebundenen Sozialdemokratie emanzipatorische Praxis gab, die in einem neuen Kontext produktiv werden kann? Über die Widersprüche, die meinen politischen Werdegang charakterisieren, werden andere hoffentlich Ähnliches sagen.
Es stimmt, dass sich verschiedene Erfahrungen auch gegenseitig blockieren können - nämlich dann, wenn sich alle in ihren identitären Gewissheiten vergraben. Doch genau deshalb ist die These der »fragenden, lernenden Partei« nicht nur sympathisch, sondern vor allem auch richtig. Im 20. Jahrhundert sind ganz unterschiedliche Emanzipationsstrategien gescheitert oder an ihre Grenzen gestoßen - das gilt für reformistische und revolutionäre Ansätze ganz ähnlich wie für die Transformationspraktiken der sozialen Bewegungen oder die Künstlerkritik. Wir brauchen aber ein neues Projekt der Befreiung, das einen demokratisch-solidarisch-internationalen Ausweg aus den kapitalistischen Verhältnissen weisen kann. Also auch Orte, an denen sich unterschiedliche Erfahrungen in einem veränderten Kontext neu formulieren können.
Ich habe natürlich keine Ahnung, ob die LINKE wirklich einer dieser Orte sein wird. Aber immerhin lässt sich beobachten, dass im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die es ohne die Partei nicht gäbe, manches von dem zusammengefunden hat, was mir wichtig erscheint. Und ich glaube, es ist auch mehr als ein machtpolitisch bedingter Unfall, dass Katja Kipping und Bernd Riexinger Vorsitzende der LINKEN geworden sind.
Über Kipping ist schon viel Lobendes gesagt worden, deshalb zu Riexinger: Wer in den 1990er Jahren in sozialen Bewegungen aktiv war und einen Ansprechpartner in den Gewerkschaften suchte, ist immer auch auf den Kollegen Riexinger gestoßen. Der Mann ist eben kein Gewerkschaftsfunktionär, wie viele Journalisten kolportiert haben. Innerhalb der deutschen Gewerkschaften war er stets eine Ausnahmeerscheinung. Ein Gewerkschaftsaktivist, der verstanden hat, dass es nicht allein um die Verteidigung männlicher, deutscher Kernbelegschaften geht, und dass Gewerkschaften nicht Versicherungsorganisationen, sondern Orte der aktiven sozialen Praxis sein sollten.
Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass die kapitalistische Krise in den nächsten Monaten eine neue, sehr bedrohliche Situation in Europa herstellen wird. Umso mehr brauchen wir Orte, an denen Widerstand - von ArbeitnehmerInnen und Prekarisierten, von sozialer Linker und Künstlerkritik, von antirassistischen Gruppen, Feministinnen, RentnerInnen und Arbeitslosen - miteinander ins Gespräch kommen kann. Wir brauchen eine gesellschaftliche Linke, die soziale Auseinandersetzungen führt, und in ihr die plurale LINKE, an der man medial nicht vorbei kann. Mich beschäftigt dabei weniger die Frage, wann die Linke bei Wahlen wieder gewinnt, als dass sie als Ort der gemeinsamen Praxis funktioniert, in der sich Erfahrungen neu zusammensetzen und gesellschaftlich etwas bewegen können.
*Raul Zelik, geboren 1968 in München, ist Schriftsteller und Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens. 1997 erschien sein erster Roman »Friss und stirb trotzdem«. Ihm folgten »La Negra« (2000), »bastard - die geschichte der journalistin lee« (2004), »Berliner Verhältnisse« (2005), »Der bewaffnete Freund« (2007), zahlreiche Erzählungen und Sachbücher vor allem zu lateinamerikanischen und gesellschaftspolitischen Themen, zuletzt »Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken« (2011). Im Oktober erscheint sein neuer Roman »Der Eindringling« in der Edition Suhrkamp.
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