Protest, Analyse & Gestaltung. Anforderungen an eine linkssozialistische Partei
Mit der Entwicklung in Griechenland und dem eindeutigen Wahlsieg des Sozialisten François Hollande in Frankreich ist die Frage, wie die öffentlichen Finanzen saniert werden können, ohne das Wachstum abzuwürgen, wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt. In der EU zeigen sich Tendenzen einer Abkehr von der reinen Spar- und Kürzungspolitik.
Vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen in Frankreich und dem Zwang, für die Verabschiedung des europäischen Fiskalpaktes in der »Berliner Republik« eine Zweidrittelmehrheit zustande zu bringen, hat es den Abschluss eines »Pakts für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung« zwischen schwarz-gelber Mehrheit und rot-grüner Opposition gegeben. »Das ist ein wichtiger Schritt, um wegzukommen von einer reinen Sparpolitik«, konstatiert die SPD. Allerdings sind die Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, zur Verbesserung der Investitionsmöglichkeiten und der Projektfinanzierung angesichts der rezessiven Abwärtstendenzen viel zu bescheiden. Der so genannte Wachstumspakt bleibt mit ca. 130 Mrd. Euro eher im unteren Bereich des Möglichen. Gleichwohl: Die politische Zangenbewegung – Veränderung in Frankreich und Druck der Opposition in Berlin – haben damit eine Korrektur eingeleitet. Die Auseinandersetzung über die Verteilung der Lasten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und des Fiskalpaktes steht damit aber erst am Anfang.
Auch die innenpolitische Veränderung in Frankreich steht erst am Anfang. Der Parti Socialiste verfügt zusammen mit seinen Allianzpartnern Parti Radical de Gauche und Divers Gauche mit 314 (von 577) Sitzen über eine komfortable absolute Mehrheit in der neuen Assemblée Nationale. Das letztlich schwache Ergebnis der Grünen und der »Front de Gauche« macht diese für die Regierungsbildung nicht mehr erforderlich, womit insbesondere die Option der Letzteren, zu einer inhaltlichen Verschiebung und Ausrichtung der sozialdemokratischen Reformpolitik beizutragen, nicht mehr gegeben ist.
In der Konsequenz wird die massive sozialdemokratische Mehrheit an einer Sanierungspolitik innerhalb des überlieferten Rahmens festhalten und sich nicht mit den kapitalismuskritischen Positionen und Handlungsvorschlägen der Front de Gauche auseinanderzusetzen haben. Solange die sozialdemokratische Regierung nicht durch wirtschaftspolitische Herausforderungen oder sozialpolitische Konflikte gezwungen wird, unkonventionelle Schritte einzuschlagen, wird es beim »Weiter so« bei der Ausgestaltung der Akkumulationslogik bleiben. Es gibt bisher zudem keine Anzeichen dafür, dass die deutsche Sozialdemokratie gegenüber ihrer französischen Partnerpartei auf Gestaltungsalternativen drängen wird.
Die Front de Gauche hat bei den Parlamentswahlen deutlich an Sitzen eingebüßt, die Zahl der Mandate ist von bisher 20 auf 10 Sitze geschrumpft. Damit kann, sofern nicht die neue Mehrheit eine Änderung der Geschäftsordnung beschließt, keine eigene Fraktion gebildet werden. Die politischen Möglichkeiten sind damit auf das Terrain der außerparlamentarischen Konflikte und Kampagnen festgelegt. Aber auch für außerparlamentarische Aktivitäten bedarf es einer möglichst starken Organisation.
Wegen des Bedeutungsverlustes zählt im linken Lager die Front de Gauche zu den großen Verlierern. Ähnlich kritisch sieht es mit dem politischen Einfluss der Linksparteien in anderen europäischen Nachbarländern aus. Positiv ragt aus dem breiten Umfeld der Bedeutungslosigkeit nur das griechische Linksbündnis Syriza heraus, das mit fast 27% bei den letzten Parlamentswahlen die stärkste Oppositionskraft bildet. Insgesamt bleibt das Agieren der linkssozialistischen Kräfte in Europa trotz einer unübersehbaren Krise des Akkumulations- und Wirtschaftsmodells eher bescheiden.
Aufbruch der deutschen LINKEN?
Auch in der Berliner Republik steht es um die politische Existenz einer linkssozialistischen Partei nicht zum Besten. Die sozialdemokratische Partei hat nach einem erheblichen Vertrauensverlust im Zusammenhang mit der Agenda-2010-Politik wieder deutlich an gesellschaftlicher Akzeptanz zurückgewonnen. Die Linkspartei, als kritisches Korrektiv und Alternative zur Mehrheitsströmung im linken Lager angetreten, hat nach einer vielversprechenden Entwicklung im zurückliegenden Jahrzehnt eindeutig an politischem Terrain verloren. 2009 stellt die Partei DIE LINKE eine starke Parlamentsfraktion, hat aber seither kontinuierlich an gesellschaftlich-politischem Rückhalt eingebüßt. DIE LINKE ist nach langem innerparteilichem Streit mit deutlichem Vertrauensverlust konfrontiert und verzeichnet den schlechtesten Wert der Zustimmung seit ihrer Gründung 2007. Gegenwärtig haben sich die Zustimmungswerte, gemessen am Ergebnis der Bundestagswahl 2009, halbiert: In der jüngsten Umfrage erreicht sie nur noch 6%. Auch wenn die Rolle der parlamentarischen Opposition nicht übergewichtet werden darf: Ohne eine starke Parteiorganisation muss der Beitrag der Partei DIE LINKE gegenüber einer Politik der Austerität und sozialen Spaltung bescheiden bleiben.
Die neue Parteiführung hat eine Initiative »Den Aufbruch organisieren!« gestartet, mit der innerhalb der ersten 120 Tage nach dem Göttinger Parteitag eine breite Debatte über den weiteren Kurs geführt werden soll. »Dazu laden wir alle Mitglieder der Partei ein. Wir wollen die Kunst des Zuhörens praktizieren, die Fähigkeit, voneinander zu lernen, mit Leben erfüllen und zum Mitmachen einladen. Dafür ist ein intensiverer Erfahrungsaustausch auf allen Ebenen unserer Partei unerlässlich.« Zur Unterstützung dieses begrüßenswerten Unterfangens sollen die bisher mangelhaft entwickelten und intransparenten Debattenstrukturen durch neue Kommunikationswege und -techniken genutzt werden. Die zentrale Orientierung zielt darauf, »die Landtagswahl in Niedersachsen zu unterstützen sowie sich für die Bundestagswahl aufzustellen«.[1]
Das gesetzte Ziel zu erreichen, ist eine große Herausforderung. Denn seit Jahren hat die Partei DIE LINKE an politischem Einfluss in Gewerkschaften und Sozialverbänden verloren. Die parlamentarische Vertretung in den Altbundesländern ist auf wenige Schwerpunkte begrenzt. Im Osten wurden gesetzte Wahlziele (Bildung von rot-roten Landesregierungen) nicht erreicht, weder in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt noch in Thüringen. In Berlin wurde DIE LINKE aus der Regierungsverantwortung herausgewählt. Dagegen steht das Ergebnis der thüringischen Landratswahlen, bei der es der LINKEN gelang, viele Mandate zu erringen.
Es geht aber nicht nur um die Vertretung in den parlamentarischen Institutionen, sondern auch um den nach den Bundestagswahlen 2009 einsetzenden Mitgliederverlust von ca. 8.000 Mitgliedern unter die Marke von 70.000 – Tendenz weiter fallend. Die teilweise selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen vor dem Göttinger Parteitag haben die Situation weiter verschlechtert: Der Anteil der WählerInnen, die DIE LINKE wiederwählen würden, ist stark gefallen. Die damit verbundenen Konsequenzen beziehen sich zum Teil auf die Regionalorganisationen und deren Finanzen, und damit auf die Handlungsfähigkeit, als auch weiter auf die Verankerung in gesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften, Sozialverbänden, Sportorganisationen.
Die beiden neuen Vorsitzenden wollen den Aufbruch mit drei inhaltlichen Schwerpunkten beginnen:
Erstens: »Politisch werden wir deutlich machen, dass die LINKE der Schutzfaktor gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Stress am Arbeitsplatz ist. In der Bundesrepublik arbeiten mittlerweile knapp 23% aller Beschäftigten zu Niedriglöhnen – in Teilzeit, Leiharbeit, Minijobs oder als Aufstockerin und Aufstocker.«
Zweitens: »In den kommenden Monaten werden wir eine weitere Zuspitzung der Situation erleben, wenn der Fiskalpakt in Kraft tritt. Der Fiskalpakt wird mittelfristig dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur, ökologische Umgestaltung und Bildung verhindern… Wir wissen aber auch, dass die Gefahren des Fiskalpaktes in weiten Teilen der Bevölkerung noch nicht bewusst sind. Die Erzählung, dass wir uns in einer Staatsschuldenkrise statt in einer Finanzmarktkrise befinden, verfängt. Die Logik, wer Schulden hat, müsse sparen, scheint plausibel. Hieran sind SPD und Grüne mitschuldig.«
Drittens: »Eine Offensive für das Öffentliche. Durch die Veränderungen der Arbeitswelt verändert sich auch der Blick auf die soziale Frage. Zunehmend wird die soziale Frage mit einem individuellen Recht des Menschen auf Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben verbunden ... Sozialistische Politik heißt eben auch, Wirtschaftsdemokratie voranzutreiben sowie Formen solidarischer Ökonomie, wie Genossenschaften oder Kooperativen, und Rekommunalisierungen zu befördern.«
Sicherlich gehört zu einem Aufbruch das Angebot von politischen Schwerpunkten, mit denen man das gesetzte Ziel des Wiedererstarkens der LINKEN erreichen will. Zur neuen Offenheit sollte aber auch der Versuch der Verständigung über die politischen Rahmenbedingungen gehören, in denen sich die heutigen Auseinandersetzungen abspielen. Hier bleibt die neue Führung leider vage: »Trotz dieser unsozialen Verwerfungen äußert sich die gegenwärtige Wirtschaftskrise in Deutschland anders als in Griechenland oder Spanien. Und sie wird von den BürgerInnen anders erlebt. Die Krise besteht in einer zunehmenden Prekarisierung der Lebens- und Arbeitswelt, in zunehmendem Druck, Stress und steigender Angst. Diese Prekarisierung hat verschiedene Gesichter: Stress im Job, das Gefühl, in immer kürzerer Zeit immer mehr schaffen zu müssen, Angst vorm Verlust des Jobs, und sei er noch so schlecht bezahlt, oder das Gefühl, aus Angst vor Hartz-IV-Sanktionen oder dem Gefühl, als Erwerbslose auf dem Amt nicht als Bürgerin zu gelten und anderen demütigenden Erfahrungen.«
Die beschriebenen Beispiele sind nicht zu bestreiten, aber unserer Auffassung nach sollte nicht der Eindruck erweckt werden, als würde dies die Schwäche der LINKEN in Deutschland im Gegensatz zum Erstarken der linken Opposition in Griechenland (Syriza) und der vorübergehenden Stärke der Front de Gauche in Frankreich erklären. Auch wenn die neue Parteiführung durchaus neue Akzente setzt – so sieht Bernd Riexinger für den kommenden Bundestagswahlkampf die »europäische Krise an erster Stelle«, weshalb es im Wahlkampf um die Frage gehen müsse, »ob die einfachen Leute die Krisenlasten durch niedrigere Löhne, Renten und Sozialleistungen aufbringen müssen, oder ob wir riesige Vermögen und Einkommen drastisch besteuern. Die Alternative lautet Fiskalpakt oder Reichensteuern.«[2] – soll auf die Anforderungen, wie mit der Schuldenkrise und dem Fiskalpakt umzugehen ist, etwas näher eingegangen werden.
»Schuldenkrise« und »Unbehagen am Kapitalismus«
Nach der Wahl in Griechenland zeigt sich, dass mit der Regierungsbildung durch jene Parteien, die dem harten Sparkurs der Troika und der EU zustimmen, die Lage im Lande nicht zum Besseren verändert wird. Trotz Milliarden an Hilfsgeldern, trotz Schuldenerlass, trotz der Ausgabenkürzungen befindet sich Griechenland immer mehr im wirtschaftlichen Niedergang. Im fünften Rezessionsjahr sind die sozialen Auswirkungen des Sparprogramms verheerend: Die Griechen verdienen nahezu ein Viertel weniger als noch vor einem Jahr, der Nettoverdienst liegt derzeit bei jährlich 13.167 Euro. Die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit, ist dramatisch gestiegen und es gibt in überschaubaren Zeithorizonten keine Aussicht auf Besserung.
Eine entsprechende Entwicklung wiederholt sich in Spanien: Seit dem Hoch vor vier Jahren sind die Preise für Immobilien im Schnitt um 15-20% gesunken. Viele Hausbesitzer können ihre Kredite nicht mehr bedienen. Bei 1,9 Bio. Euro Krediten könnten die Gesamtausfälle damit bis zu ein Viertel des spanischen Bruttoinlandsprodukts betragen. Auf diese desaströse Entwicklung reagierte die spanische Regierung mit einem massiven Spar-und Kürzungsprogramm. Die rabiaten Kürzungen in allen Bereichen der öffentlichen Leistungen und der sozialstaatlichen Transfers beschädigten die Binnenökonomie zusätzlich. Spanien, immerhin die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Euro-Zone, befindet sich in einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale mit sich verschärfender Tendenz und wird letztlich nicht ohne internationale Finanzhilfe auskommen.
Die gesamte Europäische Wirtschafts- und Währungsunion steckt tief in der Krise. Mit der Krisenentwicklung ist eine schleichende Entdemokratisierung verbunden. Sowohl die Endloskrise in der Euro-Zone als auch die Entdemokratisierung wirkt sich auf das Alltagsbewusstsein der BürgerInnen in der Berliner Republik aus. Auf die Frage nach der künftigen Entwicklung äußerten aktuell 78% die Einschätzung, der schlimmste Teil der Krise stehe noch bevor. 70% zeigten sich jedoch zugleich davon überzeugt, dass der Euro auch in einigen Jahren noch existieren werde. 55% sagten, »die Bundesrepublik hätte besser die D-Mark behalten sollen als den Euro einzuführen«. Mit Blick auf Griechenland äußerten 83% die Überzeugung, wenn das Land »die Beschlüsse zur Euro-Rettung nicht akzeptiert, muss es die Euro-Zone verlassen«.
Diese kurzen Schlaglichter auf das aktuelle Krisenszenario deuten auf eine massive Verbreitung eines allgemeinen Unbehagens am Kapitalismus hin. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach konstatiert im langjährigen Rückblick erstmals seit Monaten eine kapitalismuskritische Dimension im Alltagsbewusstsein.[3]
Sofern die VertreterInnen der Partei DIE LINKE diese bemerkenswerte Einschätzung und die dahinter liegende Entwicklung überhaupt zur Kenntnis nehmen, muss hier allerdings genauer hingeschaut werden. Für die große Mehrheit der Bevölkerung sind Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht das Gleiche. Entsprechend fällt die Reaktion auf pauschale Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftssystems sehr unterschiedlich aus, je nach dem ob der Begriff Kapitalismus oder Marktwirtschaft eingesetzt wird. Während 48% zustimmen, der Kapitalismus sei in seiner heutigen Form nicht mehr zeitgemäß, fällen dieses Urteil über die Marktwirtschaft »nur« 24%. Bemerkenswert ist zudem die große Unsicherheit in der Beantwortung nach dem Unterschied zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft: Lediglich 39% widersprechen dezidiert, 37% sind unschlüssig. Und obwohl die große Mehrheit Unterschiede sieht, steht für 66% außer Frage, dass das deutsche Wirtschaftssystem ein kapitalistisches System ist. Kritik daran heißt aber nicht Verabschiedung von markt- und geldwirtschaftlichen Strukturen insgesamt. Die überdeutliche Mehrheit der BürgerInnen will auf die Effizienz des modernen Kapitalismus nicht verzichten und schätzt durchaus das damit verbundene entwickelte zivilisatorische Niveau.
Das macht sie allerdings nicht blind gegenüber Strukturen der Benachteiligung und Diskriminierung. Die Bürger sehen durchaus Anlass zu Kritik, auch Selbstkritik.
- Sie beanstanden vor allem die Einkommensunterschiede, die nach Meinung von 70% zu groß sind, aber auch die Risiken, sozial abzusteigen, den Leistungsdruck und die Unsicherheit der Arbeitsplätze. Dabei wird nur begrenzt zwischen Unsicherheit und unzureichenden Garantien getrennt: 62% halten die Unsicherheit der Arbeitsplätze für zu groß, 49% kritisieren, dass es keine Arbeitsplatzgarantie wie in sozialistischen Systemen gibt. Die Mehrheit moniert auch die Veränderungen von Perspektiven und Mentalität in einem marktwirtschaftlichen System: So haben 58% der Befragten den Eindruck, der Mensch werde lediglich als Produktionsfaktor Arbeit betrachtet, aber nicht als Person. 50% werfen der Marktwirtschaft vor, sie fördere Egoismus und Ellbogenmentalität. Fast jeder Zweite sieht in ihr ein System, das die Starken begünstigt und in dem die Schwachen auf der Strecke bleiben.
- Das eigene Wissen über die Euro-Rettung stuft die Mehrheit der Deutschen als ausbaufähig ein. 62% der Bevölkerung bezeichnen ihr Know-how höchstens als mittelmäßig – 15% sogar als schlecht oder sehr schlecht. Zwar ist bei einigen das Interesse an den Nachrichten zur Schuldenkrise mittlerweile abgeebbt. Die Mehrheit der Deutschen interessiert sich aber immer noch für die Berichterstattung. Knapp 73% der Bundesbürger verfolgen nach wie vor die jüngsten Meldungen zur Lage an den Finanzmärkten in der Euro-Zone.
- Obgleich eine absolute Mehrheit der Deutschen die EU-Mitgliedschaft befürwortet, ruft der derzeitige Zustand der europäischen Integration insgesamt wenig Begeisterung hervor. Dies zeigt sich in den Antworten auf die im Mai 2011 gestellte Frage, welches Bild die Befragten von der EU haben. Hier geben lediglich 38% an, die EU rufe bei ihnen ein positives Bild hervor. Dabei verdüstert es sich offensichtlich selbst bei denen, die ein grundsätzlich positives Bild haben, wenn sie gebeten werden, die Entwicklungstendenzen der EU einzuschätzen. Hier geben 42% der Befragten an, dass sich die Dinge in der Europäischen Union in die falsche Richtung entwickeln, nur 26% sehen eine generell positive Entwicklung der europäischen Politik.
Die BürgerInnen hegen außerdem mehrheitlich und weltweit ein großes Misstrauen in wirtschaftliche Entscheidungsträger. Nach einer internationalen Gewerkschaftsumfrage[4] sind 58% der Befragten der Meinung, dass sich ihr Land in die falsche Richtung bewege. 66% glauben demnach, dass es künftige Generationen schlechter haben werden. 67% gaben an, dass internationale Banken und Finanzinstitutionen zu viel Einfluss auf die Entscheidungen der Regierungen hätten. Hingegen glaubten 67%, dass die Wähler nicht genug Einfluss auf die wirtschaftlichen Entscheidungen hätten.
Die Finanz- und Eurokrise avanciert im Laufe des Jahres 2011 aus Sicht der Deutschen zum alles dominierenden Problemfeld. In der Rangliste der Politbarometer-Frage[5] zu den zehn wichtigsten Themen taucht die Finanz- und Eurokrise bereits vor 2011 auf. Das Thema gelangte im Juli 2011 auf den ersten Rangplatz und verbleibt seitdem dort. Dabei sind die absoluten Werte an sich sehr hoch und bewegen sich ab Juli im Bereich zwischen 33 und 63%. Zum Vergleich: Das ansonsten am stärksten genannte Thema, die Arbeitslosigkeit, liegt in der Regel um die 20%.
Entsprechend ist auch die Wahrnehmung der Krise als Bedrohung: Etwa drei Viertel aller Befragten geben im Herbst 2011 an, dass durch die Krise der Wohlstand in Deutschland bedroht sei. 55% hat die Sorge, dass die internationale Finanzkrise bei ihnen zu spürbaren finanziellen Verlusten führen wird, 41% haben solche Befürchtungen nicht.
Das Thema Euro und Finanzkrise ist im Moment mit Abstand das wichtigste Problem für die Menschen, 51% gaben das an. Auf Platz zwei folgt das Thema Arbeitslosigkeit mit 22%. Die Krise bedroht nach Meinung einer Mehrheit auch den Wohlstand in Deutschland, wie aus einer weiteren Forsa-Umfrage im Auftrag der Universität Stuttgart-Hohenheim und der Direktbank ING-Diba hervorgeht, die bereits im September 2011 durchgeführt wurde.[6] 55,4% der Befragten befürchten, dass das materiell Erreichte auf dem Spiel steht, 52,9% sehen den sozialen Zusammenhalt gefährdet.
Sehr deutlich zeigen aktuelle Umfragen, über die die dpa berichtet, auch den Vertrauensverlust in die politischen und wirtschaftlichen Akteure. Drei von vier Bürgern trauen Banken und Versicherungen nicht mehr, fast 70% misstrauen der Bundesregierung und der Opposition gleichermaßen. Nur knapp die Hälfte aller Bundesbürger vertraut noch der Europäischen Zentralbank (EZB). Aber nur 13% der Bevölkerung und auch nur 26% der Anhänger der Linken glauben an eine überlegene Alternative. Daher sieht die große Mehrheit keinen Anlass, wegen der zurückliegenden Wirtschafts- und Finanzmarktkrise oder der aktuellen Probleme in Europa das Wirtschaftssystem grundlegend in Frage zu stellen. Lediglich 16% fordern, das Wirtschaftssystem zur Disposition zu stellen, 61% widersprechen entschieden.
Deutungsfähigkeit unterstellt Analyse und Diskurs
Die in den erwähnten Umfragen zum Ausdruck kommenden Stimmungen und Befindlichkeiten in der Bevölkerung zeigen aus unserer Sicht deutliche Handlungs- und Deutungsansätze für eine linkssozialistische Partei, die auf eine grundlegende Reform der gesellschaftlichen Reproduktion zielt. Was könnte und sollte DIE LINKE aus diesen differenzierten und zum Teil widersprüchlichen Angaben für Schlüsse ziehen? Ein mit der Attitüde von »Linkshaberei« vorgetragener eindimensionaler Lösungsvorschlag aus der Krisenkaskade dürfte mit Sicherheit nicht auf der Höhe der Zeit sei. Stattdessen wäre die Beförderung eines diskursiven Prozesses, die Verständigung über die unterschiedlichen Facetten der Krise und mögliche Alternativen ein positiver Schritt. In ihm müsste ausgelotet werden, inwiefern Krisenerfahrungen in alternative Gestaltungspotenziale und in Mobilisierungschancen zu politischem Handeln transformiert werden können.
Die beiden neuen Vorsitzenden der Partei DIE LINKE stellen heraus: »Wir sind uns daher unserer Verantwortung bewusst, dass wir eine wichtige gesellschaftliche Aufklärungsarbeit zu leisten haben und werden deshalb u.a. in Form eines Bewegungsratschlages das Gespräch mit den Gewerkschaften, den sozialen Bewegungen und mit unseren Partnerparteien in Europa suchen. Wir werden unsere Beteiligung am Bündnis ›Umfairteilen‹ verstärken und den Kampf für eine wirksame Vermögensbesteuerung in den Mittelpunkt unseres Politikangebots für die Bewältigung der Folgen der europäischen Banken- und Wirtschaftskrise stellen. Wir werden mit den anderen europäischen Linksparteien über eine entsprechende europaweite Initiative sprechen.«[7]
So sehr die Initiative eines wieder aufzunehmenden Dialogs mit den verschiedenen Kräften der Zivilgesellschaft Unterstützung verdient, muss jedoch davor gewarnt werden, die Initiative im Vorfeld auf Kampagnen und Projekte zu begrenzen oder gar einzuengen, statt zivilgesellschaftliches Engagement mit neuen Formen beweglicher Bündnispolitik und flexibler Allianzen zu verknüpfen und zu erproben.
Auch für die Partnerparteien in anderen europäischen Metropolen gilt in unterschiedlichem Gewicht, dass jede ihre Schwierigkeiten mit der Neuerfindung und Neuaufstellung weg vom Avantgarde-Denken des 20. Jahrhunderts hin zu einem dialogischen Verständigungsprozess mit den jeweiligen Kräften der Zivilgesellschaft in ihren Ländern hat. Weil das so ist, sollte eine These der früheren Vorsitzenden der bundesdeutschen Linkspartei, Gesine Lötzsch, in Erinnerung gerufen werden, die angesichts der großen Krise festhielt: »Wer behauptet, dass er für dieses Szenario eine Strategie in der Schublade hat, der ist ein Hochstapler. Was wir anbieten können sollten, ist eine Methode für den Umgang mit solchen Problemhaufen. Wir wissen gar nicht, ob die Mechanismen der Wohlstands- und Verteilungsdemokratie der Bundesrepublik geeignet sind, solche komplexen Aufgaben zu lösen und friedlich abzuarbeiten. Ich habe da meine Zweifel. Die Regierung verbreitet schon jetzt nur noch Kompetenzillusionen. Allerdings sehe ich auch die Linken noch nicht wirklich gut gerüstet, wenn es um die Bewältigung von Gesellschaftskrisen geht.«[8]
Gesine Lötzsch mahnte zugleich an, das politische Vermächtnis Rosa Luxemburgs nach »revolutionärer Realpolitik« in Verbindung zu politischen Lernprozessen ernst zu nehmen und selbstkritisch neue Analyse-, Deutungs- und Lösungskompetenz zur Erklärung der gesellschaftlichen Verwerfungen zu entwickeln: »Ich weiß natürlich, dass eine solche radikale Realpolitik die Austragung von Widersprüchen und Konflikten einschließt, uns Veränderung und Selbstveränderung abverlangt. Das ist nicht einfach. Nicht ein Entweder-Oder von grundlegender Gesellschaftsentwicklung einerseits oder konkreten Reformschritten andererseits führt zum Erfolg. Die organische, lebendige Verknüpfung von eigenem Wirken der Bürgerinnen und Bürger, sozialen Bewegungen und Initiativen und dem Wirken linker Parteien in Parlamenten oder Regierungen, von Protest und Gestaltung, macht den Unterschied aus, auf den es ankommt.« Eine solche Methode der politischen Arbeit umzusetzen, hätte nach Göttingen gute Chancen.
Joachim Bischoff, Hasko Hüning und Björn Radke sind Mitglieder der
Partei DIE LINKE.
[1] www.die-linke.de/nc/dielinke/nachrichten/detail/artikel/den-aufbruch-organisieren
[2] www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-chef-riexinger-will-die-gemeinsamkeiten-in-der-partei-betonen-a-839129.html
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.2.2012, S. 5: Das Unbehagen am Kapitalismus.
[4] Internationaler Gewerkschaftsbund, Weltweite Umfrage des IGB 2012, Schlussbericht in 13 Ländern, Juni 2012.
[5] Siehe Heinrich-Böll-Stiftung, Analyse europapolitischer Einstellungen, www.boell.de/downloads/TXT_201112_HBS_Kurzstudie_zu_Europaeinstellungen_RG.pdf
[6] Siehe www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/umfrage-deutsche-sehen-durch-krise-wohlstand-in-gefahr-a-803470.html
[7] www.die-linke.de/nc/dielinke/nachrichten/detail/artikel/den-aufbruch-organisieren
[8] Gesine Lötzsch, Wege zum Kommunismus, in: junge Welt vom 3.1.2011.
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