Sozialistische Politik in den Niederlanden?
Von Joachim Bischoff / Bernhard Sander, Aus Sozialismus Aktuell
In den Niederlanden tritt der Wahlkampf in seine heiße Phase; die Wahl findet am 12. September statt. Die irritierende Überraschung: Die Sozialistische Partei führt in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Neoliberalen von der VVD und ihrem geschäftsführenden Ministerpräsidenten Marc Rutte in den Umfragen und könnte mit Sozialdemokraten (PvdA), Linksliberalen (D 66) und Grün-Links eine Regierung bilden.
Der SP werden bis zu 37 der 150 Parlamentssitze in Aussicht gestellt, der VVD bis zu 35. Doch keine Konstellation hat in der zersplitterten Parteienlandschaft Aussicht auf eine klare Mehrheit. Der SP-Vorsitzende, Römer, hat daher bereits erklärt, dass seine Partei für Minderheitsregierungen nicht zur Verfügung steht. Geert Wilders von der rechtspopulistischen Partei der Freiheit, die im Frühjahr der Minderheitsregierung von Christdemokraten und Neoliberalen die parlamentarische Unterstützung entzogen und so die Neuwahlen ausgelöst hatte, erklärte sich jedoch dazu bereit – vielleicht auch, weil ihr der Verlust von einem Viertel der Parlamentssitze droht.
Wer wählt links? Die SP als unter den Wahlberechtigten momentan beliebteste Partei ist besonders bei den Frauen sehr angesehen, obwohl die Partei keine Quotenregelung oder dergleichen kennt. Gut anderthalb mal so viele Frauen wie Männer gaben an, den Post-Maoisten ihre Stimme zu geben. Vor allem D66 und GroenLinks, mit etwas Abstand auch die VVD stehen bei den sehr gut ausgebildeten Niederländern hoch im Kurs, deren Arbeitsmarkt- und Einkommensposition relativ sicher sein dürfte. Bei den gering ausgebildeten Wählerinnen und Wählern gibt es hingegen einen großen Drang zu den beiden populistischen Parteien PVV und SP.
Im Zentrum des Wahlkampfes steht zweifelsfrei die Frage, wie die Niederlande durch die Krise kommen, wie mit dem Haushaltsdefizit umzugehen ist und wie man als kleines EU-Land zu den Euro- und Bankenkrisen steht. Nach der großen Krise der Globalökonomie von 2008/09 und einer zaghaften Erholung haben die Niederlande im letzten Jahr einen überraschend kräftigen Rückschlag erlitten: Nach einer Stagnation im zweiten Vierteljahr 2011 sank das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) im dritten und im vierten Quartal gegenüber dem jeweiligen Vorquartal um 0,3% bzw. 0,6%. Zwar erholte sich die Realökonomie 2012 und bewegte sich in den ersten zwei Quartalen im Modus der Stagnation. Doch im Vorjahresvergleich (gegenüber dem zweiten Quartal 2011) schrumpfte das BIP erneut um 0,5%, und auch für das ganze laufende Jahr gehen die meisten bisher verfügbaren Prognosen von einem Minus aus.
Sicher leiden die Niederlande auch an der sich seit Monaten deutlich abzeichnenden rezessiven Entwicklung in Europa und der Globalökonomie. Wesentlich ist aber auch die hausgemachte Immobilienkrise. Seit Jahren wurde das private Hauseigentum durch großzügige Kreditregelungen und Steuernachlässe gefördert. Auf das Platzen der Vermögensblase erfolgt seit 2009 eine deutliche kontraktive Reaktion. Insgesamt sind die Immobilienpreise seit 2008 um 15% gefallen. In der Folge schwächelt der private Konsum und die notleidenden Hypothekenkredite steigen an.
Die niederländische Zentralbank warnt davor, dass der Preisverfall am Immobilienmarkt die niederländischen Banken in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn sie in Folge des anhaltenden Preisverfalls immer mehr faule Kredite abschreiben müssten. Auch der Staat ist betroffen, haftet er doch für Hauskredite von knapp 140 Mrd. Euro. Insgesamt sind die Hypothekenschulden in den Niederlanden mit 640 Mrd. Euro etwas höher als die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes. Keine Frage: Die Krisenkonstellation ist nicht mit Spanien vergleichbar, aber auch in den Niederlanden setzt der Umgang mit dem Schuldenüberhang deutliche Herausforderungen.
Die rechtskonservative Regierung Rutte verfolgte zunächst mit Unterstützung der Rechtspopulisten ein Austeritätsprogramm, was sich angesichts der unerwartet kräftigen zweiten Rezession als unzureichend erwies, um das Staatsdefizit wie von der EU verlangt bis 2013 unter 3% des BIP zu senken. Dies führte zu Verhandlungen über eine Verschärfung der Kürzungen, an denen Premier Rutte scheiterte. Trotz seines Scheiterns konnte er aber noch eine Mehrheit für ein weiteres Konsolidierungspaket organisieren.
Dieses neue Konsolidierungspaket soll bei vollständiger Umsetzung das Defizit von 4,7% des BIP im letzten auf 3,8% in diesem und 2,9% im nächsten Jahr reduzieren. Die Kürzungen sollen den Staatshaushalt 2013 um 12 Mrd. Euro entlasten. Neben Steuererhöhungen enthält das Paket auch Struktur»reformen«. So wird das gesetzliche Rentenalter ab 2013 bis 2024 schrittweise von 65 auf 67 Jahre erhöht und danach an die Entwicklung der Lebenserwartung gebunden. Zweitens werden die erwähnten Steueranreize für Hypothekarschuldner abgebaut.
Die Sozialisten lehnen dieses Austeritätspaket ab und weisen die Auflagen aus Brüssel zurück. Die Senkung des Staatsdefizits auf unter 3% des BIP peile man erst für 2015 an, derzeit brauche es eine staatliche Stimulierung der Wirtschaft, erklärt der SP-Wirtschaftsexperte Arnold Merkies. Die Aussage Roemers, dass er – sollte er in die Regierungsverantwortlichkeit kommen – kein Bußgeld an Brüssel entrichten würde, wenn die niederländische Staatsschuld die Drei-Prozent-Hürde überschreite, relativierte die Finanzexpertin der Partei Gesthuizen. Man will aber die jährlichen Zahlungen an »Brüssel« senken.
Eines der wichtigsten Themen des Wahlkampfes ist in den Umfragen die Gesundheitspolitik. Die WählerInnen machen sich Gedanken über die Qualität, die Zugänglichkeit und die Bezahlbarkeit des Gesundheitswesens. Die PS ist in diesem Sektor traditionell gut verankert und hatte in maoistischen Zeiten eine geachtete Tradition mit kostenlosen Medizinteams in den Stadtteilen. Sie erheben im Wahlkampf die Forderung den Eigenanteil zur Gesundheitskasse nicht auf 350 Euro pro Person anzuhaben.
In einem Interview beziffert Spitzenkandidat Roemer die von der Regierung Rutte durchgeboxten Einsparungen im Gesundheitswesen mit sieben Mrd. Euro und die in der Altersversorgung mit neun Mrd. Euro. Mit dem Versprechen sozialer Sicherheit (vor allem in der Altersversorgung), nachhaltiger Entwicklung und Verantwortung, versucht die Socialistische Partij in ihrem Programm »Neues Vertrauen« – so der Titel – in die Zukunft, in einander und nicht zuletzt in die SP aufzubauen. Sie will vor allem Besserverdiener stärker belasten und macht sich damit für die »kleinen Leute« stark. Dazu zählt beispielsweise ein faires Gesundheitswesens, das auch Menschen mit einem geringeren Einkommen zu jeder Zeit eine gute Versorgung garantiert.
Zu Europa hat die SP einen kritischen Standpunkt: Sie ist zwar nicht gegen Europa, will Brüssel allerdings auch nicht »kritiklos hinterherlaufen«, sondern an einem sozialeren Europa arbeiten. Darüber hinaus will die Partei mit »durchdachten Einsparungen« den Staatshaushalt sanieren und dabei drei Milliarden Euro extra in die Wirtschaft investieren. Dieses Geld soll dazu verwendet werden, Schulen, Bahngleise oder Wohnungen instand zu halten. Auch die bestehende Infrastruktur soll besser genutzt werden. Zudem will die SP mehr Geld in Polizeikräfte investieren, um den Kampf gegen die Kriminalität mit einer erhöhten Polizeipräsenz unterstützen zu können.
Im Europaparlament tut sich die SP mit Blick auf die Wahlen im eigenen Land schwer mit konstruktiver Zusammenarbeit. Eurobonds lehnt sie ebenfalls ab und damit in der Konsequenz die Korrektur eines Konstruktionsfehlers der Maastricht-Union. Das sehen die Rechtspopulisten um Wilders mit Genugtuung, weil sie das Thema EU-Austritt ganz oben stehen haben (»Der Euro ist kein Geld, er kostet Geld«). Die Ablehnung des Fiskalpaktes, den das Europaparlament so nicht wollte, hätte die Forderung nach Stärkung des Parlamentes gegenüber der Kommission glaubhafter machen können. Und gegen die Finanztransaktionssteuer wendet die SP ein, dass ein Teil der Einnahmen dem EU-Haushalt als neue Eigenmittel zufließen soll. Im eigenen Lande profiliert man sich gerade mit Positionen über die zu hohen Diäten der EU-Mandatsträger. Die SP nimmt also in Kauf, dass die Finanzmärkte nicht an den Krisenkosten beteiligt werden, dass auf eine höhere Transparenz der Finanzmärkte verzichtet wird, dass regulierende Wirkungen einer Finanztransaktionssteuer nicht zur Wirkung kommen und dass das ein konkretes Projekt der Einnahmesteigerung zur Krisenfinanzierung scheitert.
Die SP sieht, »dass die europäische Austeritätspolitik nicht funktioniert, denn die Absenkungen von Löhnen und Sozialeinkommen (führt) in fast allen europäischen Ländern zu schrumpfenden Ökonomien… Die nördlichen EU-Staaten sollten ihre Wirtschaft stimulieren, was nicht nur zu höheren Ausgaben zu Hause, sondern auch zu höherem Export aus den südlichen EU-Staaten führen würde. Griechenlands Schulden sollten auf ein früheres Stadium zurückgesetzt werden mit einem höheren Beitrag der Banken« und der hohen und mittleren griechischen Einkommen. Die EZB solle mehr Anleihen der EU-Länder aufkaufen und ihre Fähigkeit zur Senkung der Zinssätze anwenden. (Pressemitteilung der SP vom 2.8.2012) Offenkundig existiert allerdings keine Überzeugung mehr, dass eine linke Alternative in der Euro-Zone durchsetzbar ist.
Gerade im Anbetracht der Janusköpfigkeit von Sozialdemokraten, Grün-Links und Linksliberalen, die immer auch in eine neoliberale Agenda eingebunden werden konnten, steht das Land am 12. September vor der grundsätzlichen Entscheidung, ob es einen sozialen Neuanfang wagt, in dem eine starke Linke die Grundmelodie bestimmt.
Ähnliche Artikel
- 06.08.2012
Demokratie statt diktierter Bankenrettung - Positionen der LINKEN zu Gabriels Bankenplan
- 22.07.2012
Ein Gespräch mit Bernd Riexinger: »Wir werden als Gesprächspartner anerkannt«
- 30.06.2012
Protest, Analyse & Gestaltung. Anforderungen an eine linkssozialistische Partei
- 19.06.2012
- 17.06.2012