"Keine soziale Gerechtigkeit ohne Verteilungsgerechtigkeit!" - Der Berliner Parteitag der LINKEN
Von Hasko Hüning und Gerd Siebecke
In der Berichterstattung über den LINKEN-Parteitag vom vergangenen Wochenende werden die Debatte über den Ukraine-Konflikt und die sichtbar gewordenen Differenzen über die strategische Ausrichtung der Partei in den Vordergrund gestellt. Der Kommentator der »tagesschau« zieht beide Punkte in der Bemerkung »Ein bisschen Frieden« zusammen. Die beiden Vorsitzenden hätten es geschafft, die Partei nach Göttingen zu stabilisieren und seien deshalb mit großer Mehrheit wiedergewählt worden. »Aber es ist eben nur ein bisschen Frieden. Der Parteitag hat gezeigt: Die Strömungen bestimmen nach wie vor die Partei. Auch wenn man sich nicht mehr auf offener Bühne zerfleischt.« Das ist richtig und zugleich auch nicht.
Richtig ist, dass einige beim Debattenpunkt Ukraine »überdreht« haben und manche den Hinweis auf faschistische Elemente in der ukrainischen Regierung schon für eine Erklärung des Konflikts halten. Richtig ist aber auch – und das hat die »Süddeutsche Zeitung« zu Recht herausgestellt –, dass der Parteitag »recht diszipliniert über Krieg und Frieden« diskutierte und mit großer Mehrheit einen Beschluss fasste, in dem auch festgehalten wird: »Die Aufnahme der Krim in die russische Föderation ist ebenfalls völkerrechtswidrig.«
Der verabschiedete Antrag listet zehn Zwischenschritte auf, mit denen der Frieden in der Ukraine und in Europa insgesamt erreicht werden könnte. Deren Quintessenz lautet: »Territoriale Integrität, Souveränität und die Unverletzlichkeit der Grenzen müssen wieder gesichert werden. Nur eine gemeinsam vereinbarte Rückkehr zum Völkerrecht bietet die Gewähr für Sicherheit in Europa.«
Richtig ist auch, dass bei der Wahl der stellvertretenden Vorsitzenden alte Strömungslogiken sichtbar wurden und die Tatsache, dass das Gewicht der Strömungen in den letzten beiden Jahren eher zurückgegangen ist, in den Hintergrund drängten. Bei der Wahl der Stellvertreterinnen Caren Lay und Janine Wissler, letztere kam neu in den Vorstand, gab es keine Überraschung.
Bei den männlichen Kandidaten konnte sich der Vertreter des Forum demokratischer Sozialismus (fds), Dominic Heilig, gegen Tobias Pflüger, einen in den linken Bewegungen weithin anerkannten Friedensaktivisten, und gegen Axel Troost, bisher schon Stellvertreter und finanzpolitischer Sprecher der Linksfraktion, nicht durchsetzen – offenbar entgegen vorheriger Absprachen.
Dieses Ergebnis löste strömungspolitische Irritationen aus, das fds beantragte eine Auszeit, um sein weiteres Vorgehen zu beraten. Kurzzeitig stand in Frage, ob Matthias Höhn, der sich dem fds zuordnet, seine Kandidatur als Bundesgeschäftsführer aufrecht erhalten und die Strömung sich ganz aus der Parteispitze zurückziehen würde. Man entschied anders, Höhn wurde mit 76,7% wiedergewählt, und bei den Wahlen zum erweiterten insgesamt 44-köpfigen Vorstand ist es dem fds dann gelungen, einige pointierte Vertreter aus seinen Reihen durchzubringen.
In einer Kampfkandidatur scheiterte der bisherige Schatzmeister Raju Sharma, als neuer Schatzmeister wurde der Brandenburger Bundestagsabgeordnete Thomas Nord gewählt, den die Parteivorsitzenden unterstützten.
Ob die Vorstandswahlen insgesamt innerparteiliche Kräfteverschiebungen bedeuten und die Strömungslogik wieder ein stärkeres Gewicht bekommt, wird sich erst zeigen, wenn der neue geschäftsführende Parteivorstand konstituiert ist und seine Arbeit aufgenommen hat.
Bei der Überbetonung dieser für eine linkspluralistische Partei keineswegs erstaunlichen Differenzen bleibt völlig außer Beachtung, dass der Parteitag insgesamt ein gewaltiges Pensum diszipliniert abgearbeitet hat. Er würdigte zudem die ausgleichende Art der beiden Vorsitzenden bei der Stabilisierung der Partei nach turbulenten Jahren durch sehr gute Wahlergebnisse: Katja Kipping wurde mit 77,3%, Bernd Riexinger mit 89,7% in ihrer Funktion bestätigt.
Neben einer Vielzahl von seit der Parteigründung notwendig gewordenen Satzungsänderungen wurden die Herausforderungen der bevorstehenden Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen diskutiert. Katja Kipping wies zu Beginn ihrer Rede zu Recht darauf hin, dass die LINKE im Unterschied zu anderen Parteien sich nicht darauf beschränkt, »dicke Ausrufezeichen hinter ihre Losungen« zu stellen, sondern vielmehr und immer häufiger »die richtigen Fragen« stellt.« Nach der Phase der Konsolidierung der Partei gehören dazu auch Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion der LINKEN.
Bernd Riexinger versuchte in seiner mit großem Beifall aufgenommenen Rede Antworten. Eine lautete: »Es wird eine der wichtigsten Kampagnen der LINKEN sein, prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen den Kampf anzusagen… Es muss neu definiert werden, was als normal gilt. Normal muss werden, dass alle Arbeit haben, von der sie leben können. Normal muss werden, dass Leben und Arbeiten, Kinder erziehen und Partnerschaften pflegen vereinbar ist. Die Arbeitszeit muss den unterschiedlichen Lebenslagen Rechnung tragen und größtmögliche Selbstbestimmung ermöglichen.«
In den letzten 30 Jahren seien massiv öffentliche Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge privatisiert worden. Die Umverteilung zugunsten der Kapital- und Vermögensbesitzer habe ein Ausmaß erreicht, das die erkämpften Errungenschaften der Nachkriegsgeschichte auf den Kopf stelle. Dagegen setzte der Parteivorsitzende: »Das Öffentliche ist ein Instrument gegen die Ausgrenzung der Armen. Die öffentliche Daseinsvorsorge ist die materielle Grundlage der Demokratie. Sie schafft die Räume, die gemeinsame soziale Erfahrung erst möglich machen... es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne Verteilungsgerechtigkeit. Die Rück-Umverteilung von Einkommen und Vermögen ist zentral für die Frage, ob ein Politikwechsel stattfindet oder nicht.«
An das Plädoyer, gemeinsam mit den Gewerkschaften eine Bewegung für eine gerechte und zukunftsfähige Neuverteilung von Arbeit zu schaffen, knüpfte das Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall, Hans-Jürgen Urban, in seinem Grußwort an. Die frühere »privilegierte Partnerschaft« der Gewerkschaften mit der SPD habe sich in so etwas wie eine »natürliche Nähe« zwischen Gewerkschaften und starken politischen linken Kräften gewandelt. Die aber müsse praktisch und projektorientiert sein, wie z.B. beim gemeinsamen Kampf gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP).
In die bevorstehenden Kommunal- und Landtagswahlen (in Thüringen, Sachsen und Brandenburg) könne die Partei – so Bernd Riexinger am Schluss seiner Rede – ganz offensiv und selbstbewusst gehen, denn sie lüge die Leute nicht an und werbe nicht für das Gegenteil dessen, was sie tut. »Wir legen den Finger auf die Wunde, und wir finden uns einfach nicht damit ab, dass Menschen ausgebeutet, respektlos behandelt und ihrer Rechte und Zukunftschancen beraubt werden.« Dass es keine soziale Gerechtigkeit ohne Verteilungsgerechtigkeit gibt, müsse allerdings noch stärker in der Grundlagenbildung der Partei diskutiert und verbreitert werden.
Alexis Tsipras von der griechischen SYRIZA, der Spitzenkandidat der Europäischen Linken zur Europawahl, bezeichnete den 25. Mai in seinem Gastbeitrag als die wichtigste Wahl in der Geschichte der Europäischen Union, denn »wir stimmen ab über neue Machtverhältnisse in einem Europa, das an einem Scheideweg steht. Wir geben unsere Stimme für den Stopp der zerstörerischen Sparpolitik. Wir geben unsere Stimme, um die Demokratie zurück zu gewinnen«.
Die Linke müsse sich in allen Ländern dafür stark machen, dass »vor allem die ersten Opfer dieser Krise zur Wahlurne gehen... Zum ersten Mal sind es die einfachen Leute, die die politische Agenda dieser Wahlen stellen. Nein zur Sparpolitik. Ja für das Wachstum.« Das werde nur gelingen, wenn die Linke konkrete Alternativen zu den Sparprogrammen anbietet. In Griechenland habe SYRIZA bereits große Teile der Wahlbevölkerung für einen solchen Politikwechsel gewinnen können. Und er fügte hinzu: »Aber ihr müsst wissen: Wir, SYRIZA, rechnen vor allem ... mit eurer Unterstützung, liebe Genossinnen und Genossen der LINKEN.«
Nach den Auseinandersetzungen um das Europa-Wahlprogramm in Hamburg im Februar dieses Jahres hat der Berliner Parteitag die Themen soziales Europa und Ukraine-Konflikt weitgehend im Konsens bewältigen können. Das darf als Ausweis einer gewonnenen inneren Stabilisierung gedeutet werden. Der selbstbewusste Parteitag und die sich von den Vorgaben der Strömungen zumindest teilweise emanzipierenden Delegierten sind Anlass zu leichtem Optimismus.
Allerdings wird es weiterer Anstrengungen bedürfen, um den Konsolidierungsprozess der beiden letzten Jahre in der Partei- und Mitgliederentwicklung zu stabilisieren. Dafür wäre die geplante Zukunftskonferenz sicherlich ein wichtiger Faktor (siehe hierzu auch: Joachim Bischoff / Björn Radke: Aufbruch und neuer Sound). Es ist zu hoffen, dass das wieder- und neu gewählte, aber doch recht heterogen zusammengesetzte Führungspersonal sich dieser Herausforderung stellt.
Ähnliche Artikel
- 14.05.2014
- 13.11.2012
- 10.09.2012
- 26.07.2012
Zwangsanleihen für Reiche - ein Schritt in die richtige Richtung
- 19.06.2012