Griechenland und die neoliberale Sparpolitik
Von Joachim Bischoff und Björn Radke
Griechenlands neue Regierung und die Euro-Mitgliedsländer haben sich im Konflikt über einen Ausstieg aus dem neoliberalen Austeritätsregime der internationalen Troika geeinigt. Wenn Athen bis Montagabend akzeptable Spar- und Reformvorschläge vorlegt, soll das eigentlich Ende Februar auslaufende Hilfsprogramm um weitere vier Monate verlängert werden. Es gibt ein geordnetes Vertragsende und keinen »dirty exit«.
Über einen möglichen Anschlussvertrag wird später verhandelt. Griechenland will das Hilfsprogramm bis zum 30. Juni inklusive der Spar- und Reformauflagen erfolgreich abschließen. Ohne eine solche Vereinbarung hätte Griechenland in Kürze eine Staatspleite und ein Hinausdrängen aus dem Euro-Währungsraum gedroht.
Syriza wollte das Thessaloniki-Programm realisieren. In dessen Zentrum steht die Beendigung der humanitären Krise. Dieses Programm stellt Ausgaben von 11 Mrd. ¤ zur Ankurbelung der Wirtschaft und für Hilfsmassnahmen zugunsten von Krisenopfern in Aussicht. Ein Erfolg dieser Politik hätte die gesamte neoliberale Hegemonie in Europa erschüttert. Deshalb konnte man von der Großen Koalition in Europa (Konservative und Sozialdemokraten) keine Unterstützung erwarten.
Im Verlauf der Gespräche und Verhandlungen mit den EU-Partnern hat die neue Regierung in Griechenland jetzt wesentliche Punkte fallen lassen müssen. Doch Finanzminister Yanis Varoufakis hat auch betont, die Regierung habe nun die Möglichkeit erhalten, das Reformprogramm, das Griechenland wieder auf die Beine helfen soll, zusammen mit den Gläubigern nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten. Damit werde dieses nicht länger ein von außen aufgezwungenes Programm sein, sondern eines, für dessen Verwirklichung die neue Regierung und die Griechen selber die Verantwortung trügen.
Sollte es der neuen Regierung im Gegensatz zu den Vorgängerregierungen gelingen, Korruption und Vetternwirtschaft zu beenden, die miserable Steuerpraxis zu verbessern und die ineffiziente Bürokratie zu überwinden, wäre für die breite Bevölkerung tatsächlich viel gewonnen und der Einstieg in eine neue Ökonomie gefunden. Mit dieser Vereinbarung wendet die neue Regierung in Athen eine Staatspleite vorerst ab, muss aber Sparauflagen akzeptieren, die sie bisher vehement ablehnte. Griechenland habe seine Ziele erreicht, es müsse die Renten nicht weiter kürzen und könne den Mindestlohn erhöhen. Und was den Staatshaushalt angeht – da gebe es »konstruktive Mehrdeutigkeit« im Abschlussdokument.
Griechenland erhält die ausstehende Tranche von 1,8 Milliarden Euro sowie zugesagte Zinsgewinne der EZB mit griechischen Anleihen von 1,9 Milliarden Euro ohne weitere Sozialkürzungen. Die ungenutzten 10,9 Mrd. ¤, die derzeit in einem griechischen Fonds für Bankenhilfen stehen, gehen zurück an den EFSF, bleiben aber für Kosten von Banken-Rekapitalisierungen oder -Abwicklungen in Griechenland abrufbar. Sie können laut der Euro-Gruppen-Erklärung nur auf Antrag der EZB bzw. der Bankenaufsicht SSM freigegeben werden. Die EZB verlängert ihre Notmaßnahmen für Griechenland, und der IWF führt sein vertraglich beschlossenes Programm weiter.
Athen verpflichtet sich laut der Abschlusserklärung auch, keine Kürzungen und Reformen zurückzunehmen und auf »einseitige Veränderungen der Politik und Strukturreformen« zu verzichten, »die Haushaltsziele, die wirtschaftliche Erholung oder die finanzielle Stabilität negativ beeinflussen«. Das Zugeständnis an Athen ist, dass der Text Verhandlungen über den so genannten Primärüberschuss in diesem Jahr in Aussicht stellt – also den Haushaltssaldo ohne Zinszahlungen und Schuldentilgung. Griechenland verspricht nun einen »angemessenen Primärüberschuss«.
Die drei Institutionen EZB, EU und IWF würden aber für 2015 »die wirtschaftlichen Umstände berücksichtigen«. Nach bisherigen Vorgaben muss Athen in diesem Jahr einen Primärüberschuss von 3% erzielen. Varoufakis sagte dazu, Athen habe sich »nicht dazu verpflichtet, die 3% in diesem Jahr und 4,5% in den kommenden Jahren zu erreichen«. Zudem habe Athen im Gegensatz zur früheren Regierung nicht zugestimmt, die Mehrwertsteuer zu erhöhen und die Renten zu senken. Während der viermonatigen Verlängerung soll über eine Folgevereinbarung mit der Eurogruppe und den Institutionen verhandelt werden.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras umschreibt das Ergebnis zu Recht als Zwischenschritt: »Wir haben einen Kampf gewonnen, aber nicht den Krieg. Die Schwierigkeiten, die wahren Schwierigkeiten ... liegen noch vor uns.« Mit dem am Freitagabend vereinbarten Abkommen habe Griechenland einen anderen Horizont für die Verhandlungen, da die Finanzierung des Landes für zunächst vier Monate gesichert sei. Dann werde Athen »seinen eigenen Entwicklungsplan« vorstellen. Der Kompromiss von Freitag verschaffe dem Land mehr Zeit.
Finanzminister Varoufakis, der sich als »inkonsequenter Marxist« sieht, skizziert die verfolgte politische Strategie: »Marx hat mir die Instrumente gegeben, die mich gegen die giftige Propaganda des Neoliberalismus immunisieren. Zum Beispiel die Idee, dass Wohlstand privat produziert und dann von einem quasi illegitimen Staat durch Besteuerung angeeignet wird ...« Inkonsequent sei er deshalb, weil er aus dem Aufstieg von Margaret Thatcher in Großbritannien gelernt habe, dass der Klassenkampf nicht automatisch zu einer Renaissance der Linken führe. Obwohl er gerne den europäischen Kapitalismus umstürzen und die Euro-Zone niederreißen würde, sei er doch zu der Überzeugung gelangt, dass solche radikalen Lösungen zu einer Fragmentierung Europas führen würden, bei der der Süden in Stagflation versinken und in die Hände von Neofaschisten fallen könnte. Deshalb sei er gegen einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone.
In der Tat geht es in der Auseinandersetzung um die neoliberale Austeritätspolitik in Europa. Deren Chefrepräsentant, der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, verteidigt die Linie der Austerität: Alles, was getan werde, sei im Interesse Griechenlands. Aber »Regierung ist ein Rendezvous mit der Realität.« Und die Realität sei oft nicht ganz so schön wie die Träume.
Unterstützung erhält der neoliberale Hardliner von der Mehrheit der bundesdeutschen »Wirtschaftsweisen«. »In der aktuellen Situation könnte ein Grexit – letztlich unbeabsichtigt – sogar das Gegenteil bewirken. Er könnte die Glaubwürdigkeit des heutigen institutionellen Rahmenwerks stärken und so die Integrität des Euro-Raums festigen, statt außerhalb Griechenlands Chaos auszulösen«, schreiben die Mitglieder des Sachverständigenrats Lars Feld, Christoph Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland sowie der Generalsekretär des Rates, Benjamin Weigert, in der FAZ vom 20.2.2015. Sie benennen aus ihrer Sicht den Grundkonflikt, um den es in Europa geht.
»›Die Austeritätspolitik ist gescheitert‹ – so lautet das Mantra vieler Kommentatoren in Politik und Medien in Europa, am deutlichsten hörbar im angelsächsischen Raum und in südlichen Teilen des Euro-Raums (etwa Stiglitz (2015) und Wolf (2013)). Dieses Mantra nutzt die neu gewählte griechische Regierung, um die Konditionen für das zweite Rettungspaket vom Jahr 2012 mit den Euro-Partnern neu zu verhandeln. Doch dieses Mantra ist sachlich falsch und ignoriert gerade im Falle Griechenlands die eigentlichen Ursachen der Krise.« Die Warnung der neoliberalen Vordenker ist eindeutig und entlarvend undemokratisch und zynisch: »Griechenland hat eine Regierung gewählt, deren Handlungen die Situation deutlich zu verschlimmern drohen«, schreiben sie. Die griechische Regierung habe eine »fehlerhafte Analyse der wirtschaftspolitischen Alternativen und eine falsche Einschätzung der internationalen Verhandlungssituation.«
Da wird wieder die totalitäre Haltung des Neoliberalismus sichtbar, die Pierre Bourdieu bereits vor fast 20 Jahren in seinem Beitrag »Warung vor dem Modell Tietmeyer« in der Zeit vom 1.11.1996 entlarvte. »Unverschlüsselt: Verzichtet heute lieber im Namen des Wachstums auf eure sozialen Errungenschaften, damit es ›uns‹ morgen etwas einbringt. Diese Sprache kennen die betroffenen Arbeiter gut… Wie Kleingeld laufen sie überall um: dauerhaftes Wachstum, das Vertrauen der Investoren, öffentliche Haushalte, Sozialsysteme, Erstarrung, Arbeitsmarkt, Flexibilität aber auch Globalisierung, Flexibilisierung, Senkung der Abgabenlast, Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Deregulierung und so weiter und so fort… Im Gewand einer ökonomischen Feststellung bringt das ›Modell Tietmeyer‹ eine normative Anschauung zum Ausdruck, wie sie den Interessen der Herrschenden entspricht, eine auf klassische Weise konservative Anschauung, legitimiert und rationalisiert durch Argumente oder Wortwahl mit ökonomischem Schwung. Diese rationalisierte Mythologie ließe sich, in Anlehnung an Emile Durkheims Bemerkungen über die Religion, als ›wohldurchdachtes Delirium‹ beschreiben. Sie gilt es zu widerlegen, sei es durch Nachdenken oder schlicht durch Tatsachen.«
Durch das Scheitern des Neoliberalismus ist das »wohldurchdachte Deliirium« dieser Tage wieder weithin sichtbar. Aber auch die Alternative, die Bourdieu schon damals präzise umriss: Man sieht »in aller Deutlichkeit, dass die Regierungen der europäischen Länder allesamt vor derselben Alternative stehen: Entweder geben sie sich selbst auf, indem sie sich um das Vertrauen der Finanzmärkte bemühen… Oder aber sie wachsen über sich selbst hinaus, indem sie an der Schaffung eines supranationalen Sozialstaates arbeiten, der fähig ist, das Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Dies ist das einzig mögliche Fundament einer wahren Demokratie, die gleichermaßen politisch und ökonomisch ist.«
Es ist in der Tat so: In Griechenland ist das überlieferte Parteiensystem umgewälzt worden. Mit Syriza hat ein neuer politischer Akteur die Bühne betreten. Die Blockadepolitik des neoliberalen Blocks in Europa hat den sozialen und zynischen Charakter der Politik der herrschenden Eliten unfreiwillig bloßgestellt. Griechenland hat bislang nur eine Schlacht gewonnen, aber die Mehrheit des Landes hat Zeit und Chancen erobert, eine neue Politik und eine neue Ökonomie sichtbar zu machen. Es werden heftige materiell-finanzielle Auseinandersetzungen und ideologische Debatten folgen. Denn der Grundkonflikt in Europa ist noch nicht entschieden.
Eine ausführliche Darstellung des »Machtpokers um Griechenland« enthält der gleichname Beitrag der Autoren in der März-Ausgabe 2015 der Zeitschrift Sozialismus.
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