Lafontaines flüchtlingspolitische Nebelkerzen
Der Artikel ist zuerst auf www.europa.blog erschienen, hier finden Sie auch Leser*innenkommentare und die Erwiderungen der Autoren
_______________
Unter dem Titel „Ansichten eines Querdenkers: Oskar Lafontaine redet Tacheles“ veröffentlichte die Osnabrücker Zeitung zum Jahresschluss am 30.12.2017 ein Interview mit dem frühen SPD- und ehemaligen Linken-Vorsitzenden Oskar Lafontaine.
Neues bringt das Interview nicht. Lafontaines Forderung nach einer neuen linken Sammlungsbewegung hat er ja schon vor diesem Interview platziert. Aussicht auf Erfolg hat diese Forderung in der gegenwärtigen politischen Situation wohl nicht. Schlimmstenfalls könnte sie aber die gesellschaftliche Linke ein weiteres Mal spalten und schwächen. Wenn man die Gesellschaftliche Linke erneuern will, dann müsste man sich wohl zunächst einmal über die Unterschiede zwischen der heutigen Gesellschaft und der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts Gedanken machen. Dazu äußert sich Lafontaine nicht. Eine nationalistische auf rechts gewendete Linke à la Lafontaine braucht jedenfalls niemand und hätte als Abklatsch gegen die AfD auch kaum eine Chance – denn mehr wäre diese Bewegung nicht.
Dafür verbreitet Lafontaine aber erneut – rhetorisch geschickt verpackt – Fragwürdigkeiten zur Flüchtlingspolitik, die einer Wählertäuschung gleichkommen.
So fragt Uwe Westdörp von der Osnabrücker Zeitung:
„Auch die Linke streitet heftig um den richtigen Kurs. Sie selbst haben die Flüchtlingspolitik ihrer Partei als verfehlt und sozial ungerecht kritisiert. Haben es sich die Linken in der Flüchtlingsfrage zu leicht gemacht?“
Lafontaine antwortet darauf:
„Die Flüchtlingspolitik der Linken ist genauso falsch wie die der anderen Parteien, weil sie 90 Prozent der Flüchtlinge mehr oder weniger außen vor lässt. Nur zehn Prozent schaffen es, in die Industriestaaten zu kommen. 90 Prozent hungern oder sterben anderswo an Krankheiten oder vegetieren in Lagern. Meine Überzeugung ist: Man muss dort helfen, wo die Not am größten ist. Aktuell wenden wir für die Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge in einem Industriestaat pro Kopf das 135fache dessen auf, was wir pro Flüchtling n den Lagern und Hungergebieten bereitstellen. Ich verstehe nicht, warum man in einer Art National-Humanismus den allergrößten Teil der Hilfe auf die Menschen konzentriert, die es geschafft haben, nach Deutschland zu kommen, während man den Millionen in den Lagern und Hungergebieten nur wenig hilft.“
Beim ersten Lesen mag das nach einer verblüffend klugen Einsicht klingen, die eine große bisher ignorierte Ungerechtigkeit offenlegt. Tatsächlich kommt nur ein kleiner Teil der weltweit ca. 65 Millionen Flüchtlinge (Zahlen des UNHCR für 2016) nach Europa. Gut 40 Millionen Flüchtlinge sind so genannte Binnenflüchtlinge, also auf der Flucht innerhalb ihres Landes. Gut 17 Millionen Flüchtlinge fallen unter das Mandat des UNHCR. Von den verbleibenden rund 8 Millionen Flüchtlingen kommt auch nur ein Teil nach Europa.
Doch was ist mit dieser Feststellung gewonnen? Die nach Europa gekommen Flüchtlinge sind nun mal hier. Die obige Feststellung ist keine sinnhafte Antwort auf die Frage, welche Unterstützung diesen Flüchtlingen, die in Europa angekommen und nun hier sind, zukommen soll. Diese Frage ist heute und in Europa zu beantworten – unabhängig von allen anderen Fragen, die außerhalb Europas mit dem Themenkomplex „Flucht, Asyl und Migration“ verbunden sind. Und diese Frage ist innerhalb des von den internationalen Menschenrechten gesteckten Rahmens zu beantworten.
Lafontaine versucht hier aber wider besseres Wissen den Eindruck zu vermitteln, dass mit einer Verschiebung des Fokus auf die Bekämpfung der Fluchtursachen die Frage, was mit den Flüchtlingen, die heute schon in Europa sind, geschehen soll, auf wundersame Weise gleich mit gelöst sei. Dies wird nicht der Fall sein!
Lafontaine spitzt noch weiter zu. Mit dem von ihm benutzten Begriffsungeheurer „National-Humanismus“ diskreditiert er – durchaus in AfD-Manier – die in Deutschland geleistete Hilfe für Flüchtlinge als nationalistisch und als Unrecht gegenüber den Flüchtlingen, die es nicht nach Europa bzw. Deutschland geschafft haben, weil den Flüchtlingen, die es nicht nach Europa geschafft haben, nicht gleichzeitig geholfen wird. Das ist so billig, dass man diesen Vorwurf nur als intellektuelle Bankrotterklärung einstufen kann.
Lafontaine rechnet vor, dass das Geld, das für Flüchtlinge in Deutschland ausgegeben wird, in Afrika viel wirksamer angelegt wäre. Diese Behauptung ist in mehrfacher Weise fragwürdig. Zum einen tragen Flüchtlinge, die bleiben dürfen und in den Arbeitsmarkt integriert werden, zukünftig zur hiesigen Wertschöpfung bei.
Flüchtlinge und Migranten behalten dieses Geld auch nicht nur für sich. Die Wiener Tageszeitung Der Standard veröffentlichte kürzlich unter dem Titel „Rücküberweisungen: Afrika und das Geld der Auswanderer“ einen Überblick über Geldflüsse von nach Europa nach Afrika. Afrikanische Migranten und Flüchtlinge, die es geschafft haben nach Europa und hier Fuß fassen konnten, schicken von dem Geld, dass sie in Europa verdienen, einen beachtlichen Teil an ihre Familien in Afrika. In einigen afrikanischen Ländern liegen diese Rücküberweisungen deutlich über den Entwicklungshilfegeldern, die aus Europa kommen. Möglicherweise könnten diese Gelder in Afrika effektiver genutzt werden als es gegenwärtig geschieht (sie werden vorwiegend für Konsum und kaum für Investitionen in Infrastruktur genutzt), in jedem Fall tragen sie aber auch schon jetzt zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und damit zur Bekämpfung von Fluchtursachen bei, da diese Überweisungen nicht bei korrupten Eliten hängen bleiben.
Dass die Bekämpfung von Fluchtursachen deutlich verstärkt und verbessert werden muss, ist unbestreitbar. Aber die Bekämpfung von Fluchtursachen ist nicht nur eine Frage des Geldes. Es geht mindestens ebensosehr um die Bekämpfung von Korruption und den Aufbau einer leistungsfähigen staatlichen Verwaltung und einer leistungsfähigen Wirtschaft, die jungen Menschen in Afrika eine Perspektive bietet.
Das heißt aber, dass die Bekämpfung von Fluchtursachen eine langfristige Aufgabe darstellt, die wahrscheinlich ein bis zwei Generationen braucht – wenn nicht länger – bevor sie die gewollten Wirkungen zeigt (vergleiche dazu die Artikelverweise im nebenstehenden Kasten). Wer die Bekämpfung von Fluchtursachen fordert, sollte allerdings so ehrlich sein und sagen, dass die nur langfristig Wirkung zeigt und nicht die gegenwärtigen Probleme lösen kann.
Weil eine Bekämpfung von Fluchtursachen auch Geld kostet, bliebe damit aber der Angriffspunkt der AfD bestehen: Die AfD behauptet (faktenwidrig), dass die Ausgaben für Flüchtlinge in Deutschland zu Lasten sozialstaatlicher Leistungen für „Deutsche“ geschähen. Das gleiche Argument lässt sich auch gegen die Entwicklungshilfe vorbringen, vor allem, wenn sie soweit aufgestockt würde, wie eine effektive Bekämpfung von Fluchtursachen erfordern würde. Die verteilungspolitische Frage besteht also weiterhin, nur etwas verschleierter.
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Eine effektive und wünschenswerte Bekämpfung von Fluchtursachen bedeutet keineswegs eine Rücknahme der Globalisierung, möglicherweise sogar eine Vertiefung. Vor allem aber bedeutet sie eine wirtschaftliche Neuordnung, weil der Aufbau funktionierender Ökonomien in afrikanischen Ländern nicht ohne Auswirkungen auf die EU bleibt. Bisher ist Afrika einerseits Absatzmarkt und andererseits Rohstofflieferant für die EU. Die Bekämpfung von Fluchtursachen könnte aber dauerhaft nur funktionieren, wenn ein Teil der jetzigen Wertschöpfung nach Afrika geht. Das betrifft die Produktion in der EU wie auch den Export von EU-Gütern nach Afrika. Das ist kein Argument gegen die Bekämpfung von Fluchtursachen, diese Folgen sollten aber ehrlicherweise benannt werden. Sie könnten Triebkraft für eine grundlegende Reform des deutschen Wirtschaftsmodells sein, das auch im Interesse einer wirtschaftlich ausgeglicheneren EU einer wesentlich stärkeren öffentlichen Dienstleistungsorientierung bedarf.[1]
Der populäre britische linke Publizist Paul Mason hatte im April 2017 in seinem Spiegel-Essay „Liebe Linke, und was kommt jetzt?“ vorgeschlagen, gezielt Arbeitsplätze aus anderen Teilen der Welt nach Europa zurückzuholen, um hier wieder mehr Arbeitsplätze zu schaffen und den rechten Parteien das Wasser abzugraben. Mason wörtlich:
„Wir müssen eine Industriepolitik betreiben, die Industriearbeitsplätze in die nördliche Hemisphäre zurückbringt, gleichgültig, welche Auswirkungen dies auf das Wirtschaftswachstum in der südlichen Hemisphäre hat.“
Mason fordert also, ohne Rücksicht auf den Süden den Norden zu stabilisieren. Das ist allerdings das Gegenteil von dem, was Lafontaine fordert. Denn eine effektive Bekämpfung von Fluchtursachen ist nur um den Preis einer globalen wirtschaftlichen Neuordnung zu haben, die den afrikanischen Ländern Entwicklungschancen einräumt.
Hier zeigt sich nun vollends, wie widersprüchlich und unausgegoren Lafontaines Forderungen sind. Und wie konfus die Linke in Europa derzeit agiert.
Bleibt noch eine Frage, nämlich die, ob nach einer erfolgreichen Bekämpfung von Fluchtursachen nach Lafontaines Vorstellungen den Bürgerinnen und Bürgern Afrikas ihr Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt werden soll. Lafontaine hat davon nicht geredet. Aber es wäre durchaus in der Logik seiner Argumentation.
[1] Vgl. auch Axel Troost, Anders und besser wirtschaften in Europa! Alternative Wirtschaftspolitik heute. Vortrag anlässlich der Verleihung des Jörg-Huffschmid-Preis 2017 am 6.12.2017www.axel-troost.de S. 4
Ähnliche Artikel
- 12.09.2016
- 12.09.2016
Deutschland wird nicht von Zuversicht, sondern von Angst regiert
- 19.05.2016
- 10.05.2016
Mit der Demokratie neu beginnen - Gegen die Politik der Angst, für eine Politik der Hoffnung!
- 11.04.2016