Deutschland wird nicht von Zuversicht, sondern von Angst regiert
Bundestagsrede von Dietmar Bartsch am 07.09.2016
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wir behandeln heute den letzten Haushalt in dieser Legislatur bzw. den letzten Haushalt der Großen Koalition, und wir haben, glaube ich, in einer Frage einen ganz großen Konsens: Jeder hier im Haus will, dass diese Große Koalition möglichst beendet wird. Ich finde, das ist ein solider Ausgangspunkt.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir haben doch noch gar nicht Weihnachten!)
Am Sonntag hat Mecklenburg-Vorpommern gewählt. Es gibt ein Signal: Berlin, wir haben ein Problem! Ich glaube, meine Damen und Herren, wir alle hier im Haus haben ein Problem, und niemand sollte versuchen, das anderen zuzuschieben.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn einer in besonderer Weise hier Verantwortung hat, dann ist das jemand, der nicht dem Parlament angehört, nämlich Horst Seehofer. Er hat zu diesem Ergebnis in Mecklenburg-Vorpommern wirklich sehr viel beigetragen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, ich habe gestern viel darüber gehört, wie gut es uns geht, und ich habe viel von den tollen Taten der Großen Koalition gehört.
(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt ja auch!)
Ja, uns geht es gut, gar keine Frage. Aber eines ist auch klar: Die Verunsicherung in unserem Land war noch nie so groß. Jahrzehntelang war es völlig normal, dass der Satz galt: Unseren Kindern soll und wird es einmal besser gehen. – Jetzt haben wir eine andere Situation.
„Ganze Gruppen, ganze Regionen interessieren euch nicht“, habe ich in meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern gehört. Und: „Ihr hört uns nicht mehr zu.“ Der soziale Zusammenhalt in unserem Land, meine Damen und Herren, ist gefährdet. Das hat auch mit Ihrer Politik zu tun. Sie haben den sozialen Zusammenhalt eben nicht im Blick. Sie regieren hier visionslos. Wenn ich mir nur das anschaue, was im letzten Sommerkino abgelaufen ist, könnte ich die gesamte Redezeit damit verbringen, darüber zu berichten.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na denn mal los! – Johannes Kahrs [SPD]: Viel Spaß dabei!)
Und es geht ja aktuell weiter. Herr Gabriel sagt, dass TTIP gescheitert ist. Die Kanzlerin sagt, dass TTIP wunderbar ist. Minister Schäuble fordert den Rücktritt eines anderen Ministers, nämlich den von Herrn Maas.
(Johannes Kahrs [SPD]: Wann hat er denn das gemacht?)
Was ist denn das für eine Koalition? Frau Merkel, mich würde einmal interessieren, ob Sie wirklich diese Koalition zu Ende bringen wollen. Das können Sie hier als nächste Rednerin nach mir ja sagen. Sie haben die Verunsicherung verstärkt. Auf der anderen Seite sagen viele Menschen: Es ändert sich ja nichts. – Deutschland wird nicht von Zuversicht, sondern von Angst regiert, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Vor allem die Linke wird doch von ihrer Angst regiert!)
Es gibt kein einziges wirkliches Reformvorhaben für das nächste Jahr. Sie verwalten und gestalten nicht, meine Damen und Herren.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Sie auch nicht!)
Aber demokratische Politik muss Chancen erhöhen. Diese Koalition schafft genau das nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist zweifelsfrei so, dass wir große Herausforderungen haben: das Drama des Syrien-Krieges, die Flüchtlinge, den Terror des IS, zerfallende Staaten im Nahen Osten, den Brexit, die Euro-Krise, die Ukraine-Krise, die Attentate des Sommers, Globalisierung und Digitalisierung, die ungeheuer schnellen Veränderungen. Das sind Riesenherausforderungen. Wir haben auf der anderen Seite aber auch das Engagement von ganz vielen in unserem Land. Und diese brüskieren Sie mit einer Politik, die Ängstlichkeit ausstrahlt. Wo Geradlinigkeit, Besonnenheit und Sachlichkeit notwendig sind, herrscht bei Ihnen Panikmache und teilweise eben Hetze. Wo ist denn der Unterschied, wenn Herr Gauland Herrn Boateng nicht als Nachbarn haben will und Herr Söder sagt, Özil solle keinen Elfmeter mehr schießen? Erklären Sie mir einmal den Unterschied.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir alle haben gesehen, dass die Flüchtlinge das Thema waren. Aber mit Ihrem Hin und Her auf diesem Gebiet, wo Haltung gefragt ist, verunsichern Sie die Menschen. Der Grundsatz muss doch sein: Flüchtlinge sind die Botschafter der Kriege und des Elends dieser Welt. – Es darf einfach nicht sein, dass die Überschrift „Fluchtursachen bekämpfen“ zu einer Farce wird. Ich habe heute früh gelesen, dass UNICEF sagt, 28 Millionen Kinder seien auf der Flucht, meine Damen und Herren. Jeder zweite Flüchtling ist ein Kind. Das muss uns doch alle beunruhigen. Dies ist doch eine Aufgabe für uns.
Und was machen Sie? Sie exportieren weiter Waffen in hoher Größenordnung. Die Rüstungsexporte sind von 2014 bis 2015 auf 7,86 Milliarden Euro verdoppelt worden. 2015 wurden mehr Genehmigungen erteilt. Das betraf auch Länder wie Katar – dabei ging es um Kampfpanzer –, Saudi-Arabien und ähnliche. Deutschland liefert sogar Waffen in akute Kriege.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das erkläre ich Ihnen nachher mal!)
Unter den größten Kunden befinden sich Golfstaaten, die seit über einem Jahr einen blutigen Krieg im Jemen führen. Sie machen sich damit mitschuldig. Sie produzieren neue Flüchtlingsströme. Es ist blutiges Geld, das da verdient wird, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich nenne Ihnen zu Fluchtursachen ein einfaches Beispiel: In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gibt es relativ viele Bauern. Der Milchpreis wird dort runtergepresst. Die Bauern können dort kaum davon leben. Deutschland aber exportiert Milchpulver nach Afrika. Wir machen die Lebensgrundlagen der Menschen dort kaputt und wundern uns, dass sie dann ihre Länder verlassen. Wir müssen eine andere Ordnung der Weltwirtschaft erreichen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist ja gut, dass die Ausgaben im Entwicklungsetat steigen. Ja, das ist eine richtige Entscheidung. Es ist aber zu spät, es ist zu wenig und immer noch weit weg von dem Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungspolitik auszugeben.
Das Allerschlimmste auf diesem Feld ist allerdings, dass Sie sich mit dem Flüchtlingsdeal in Abhängigkeit von Herrn Erdogan begeben haben. Spätestens nach dem Militärputsch wurden in der Türkei Demokratie und Rechtsstaat faktisch abgeschafft. Pressefreiheit? In Redaktionen wurde regelrecht einmarschiert. Journalisten wurden willkürlich verhaftet. Reaktion? Nahezu null! Die Frauenrechte werden mit Füßen getreten. Reaktion? Nahezu null! Die Türkei war über Jahre ein Transitland des Terrorismus, hat mit dem IS Geschäfte gemacht und tut das vielleicht noch heute. Reaktion? Nahezu null!
Aktuell überschreiten türkische Panzer die syrische Grenze und agieren dort brutal gegen Kurdinnen und Kurden. Der IS hatte sich im Übrigen zuvor zurückgezogen. Seltsam, dass der IS das gewusst hat. Dabei wird gegen die Kurden von YPG vorgegangen, die den Massenmord an den Jesiden verhindert haben. Reaktion? Nahezu null! Das kann doch nicht wahr sein. Ein Wort der Kritik? Fehlanzeige! Das geht doch nicht, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nun gibt es einen handfesten Skandal, bei dem auch um Menschenrechte geschachert wird. Wir haben hier eine Armenien-Resolution verabschiedet – ich bedanke mich ausdrücklich bei den mutigen elf türkischstämmigen Abgeordneten aus allen Fraktionen –, und dann wird diese von der Bundesregierung relativiert.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! Das ist falsch! Es wird nicht wahrer, nur weil Sie es ständig wiederholen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ein Märchen!)
Es gibt ein planmäßiges Herumeiern des Regierungssprechers. Die Formulierungen sind mit der Türkei abgestimmt. Das ist doch offensichtlich ein Deal. Die Türkei begrüßt das. Wir dürfen dann noch einmal niederknien. Nun dürfen sogar Abgeordnete nach Incirlik fahren.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn, was Sie erzählen!)
Das ist ein demokratischer Offenbarungseid.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Im Kern geht es doch um etwas ganz anderes. Es geht um ein neues Bundeswehrmandat für AWACS. Wir fordern: Ziehen Sie die Soldaten aus der Türkei ab! Das wäre eine richtige Maßnahme.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind doch verrückt!)
Mit dem Flüchtlingsdeal und den Kniefällen vor Herrn Erdogan haben Sie sich erpressbar gemacht, hat sich Deutschland erpressbar gemacht, hat sich Europa erpressbar gemacht. Frau Merkel, Ihnen ist der politische Kompass abhandengekommen. Es kann doch nicht sein, dass deutsche Außenpolitik Menschenrechte zur Verhandlung stellt. Das geht nicht.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will Ihnen ein anderes Beispiel, ein regelrechtes Paradebeispiel für Ihre Politik nennen. Das ist Ihr Agieren beim Katastrophenschutz. Es ist völlig klar: Für den Katastrophenfall müssen praktikable und effektive Pläne griffbereit sein. Für Cyberangriffe und Naturkatastrophen ist ein Zivilschutzkonzept richtig und notwendig. Mehr Verantwortung beim Bund und ein höheres Maß an Sicherheit, auch das ist richtig, gar keine Frage. Wir stimmen dem zu. Das ist übrigens auf Drängen des Parlaments geschehen. Ich habe damals an der entsprechenden Sitzung des Haushaltsausschusses teilgenommen, in der wir das fraktionsübergreifend in Auftrag gegeben haben. Aber das Falscheste ist, Hysterie an den Tag zu legen und Horrorszenarien eines bevorstehenden Krieges aufzuzeigen. Besonnenheit und kühler Kopf sind gefragt. Sie produzieren aber die Überschrift: Bundesregierung fordert die Menschen zu Hamsterkäufen auf. – Das ist unverantwortlich.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Danach haben noch Fachkräfte aus der Union die Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert. Dann wird permanent der Einsatz der Bundeswehr im Inneren thematisiert. Es darf aber keine Militarisierung des Katastrophenschutzes geben. Sie verunsichern die Menschen. Seit Jahren leisten ehrenamtlich und hauptberuflich tätige Kräfte bei Feuerwehren und THW bewundernswerte Arbeit. Wir sollten diese Menschen würdigen und unterstützen und ihnen nicht in den Rücken fallen. Aber genau das machen Sie.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Union betreibt Politik bei der inneren Sicherheit nach dem Motto: Verschärfung, Verschärfung und noch einmal Verschärfung! Dieses Motto entspricht genau dem, was Herr de Maizière nach den schrecklichen Anschlägen in Paris gesagt hat, nämlich dass ein Teil der Antworten die Bevölkerung verunsichern könne. Ja, Sie haben im Sommerloch die Bevölkerung verunsichert, genauso wie Herr Caffier und Herr Henkel mit Forderungen nach Abschaffung des Doppelpasses, nach Burkaverbot, Rucksackverbot und mehr Videoüberwachung. Jede Woche wurde eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Das ist eine Angstmacherkoalition. Wir brauchen aber etwas völlig anderes. Es darf keine Beschränkung unserer freiheitlichen Ordnung geben. Wir müssen das Signal aussenden: Wir lassen uns unser Leben von den Terroristen nicht kaputtmachen. – Das ist das richtige Signal.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen nicht mehr Videoüberwachung und keine schärfere Vorratsdatenspeicherung – obwohl es das alles in Frankreich gibt, hat es nichts verhindert –, sondern einen handlungsfähigen Staat. Dazu gehört gut ausgebildetes und ausgestattetes Personal im öffentlichen Dienst, insbesondere bei der Polizei.
Herr Schäuble hat gestern den schönen Satz gesagt: „Es gab und gibt keinen Sparkurs in der inneren Sicherheit.“ Frau Merkel, Sie haben gleich die Gelegenheit, das wirklich klarzustellen. Seit 1998 wurden 17 000 Stellen bei der Polizei abgebaut – und das bei mehr und größeren Aufgaben. Sie haben eine verfehlte Personal- und Sparpolitik zu verantworten,
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie haben gestern nicht zugehört!)
in den Ländern und im Bund, meine Damen und Herren.
(Lachen bei der CDU/CSU)
– In dem einen oder anderen Land regieren Sie doch auch noch, oder nicht? Sie können aufhören, aber noch ist es so.
(Zuruf von der CDU/CSU: Populist! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Reden Sie jetzt über 16 Landeshaushalte? Das hätten Sie am Anfang sagen müssen!)
Die Deutsche Polizeigewerkschaft sagt: „Die Politik hat die Polizei geschwächt, gedemütigt und vernachlässigt.“ In den vergangenen 15 Jahren ist die Polizei zum Sparopfer geworden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie mal zur Wahrheit!)
– Das ist die Wahrheit. – Sie haben den öffentlichen Dienst kaputtgespart. Ich habe doch den Einzelplan 06 über viele Jahre hinweg mitberaten. Es war doch die Opposition, die mehr Polizisten gefordert hat.
(Lachen bei der CDU/CSU)
– So ist es. Das ist schlicht die Wahrheit. – Herr de Maizière hat das wegen des Diktats der schwarzen Null abgelehnt. Das ist die Realität. Dafür gibt es Zeugen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Heute stellt sich Herr Gabriel hin und sagt: Wir haben das durchgesetzt. – Auch das stimmt nicht. Die Bundesregierung hat einen Entwurf vorgelegt, und die Parlamentarier haben ihn verändert. Das ist doch die Realität.
Das eigentliche Problem ist aber doch ein anderes. Auch bei der inneren Sicherheit gilt das Diktat der schwarzen Null. Die Fixierung auf das Dogma der schwarzen Null ist falsch. Ich will Hans-Helmut Kotz zitieren – der war immerhin im Vorstand der Bundesbank und ist heute Wirtschaftsprofessor an der Harvard-Universität –: Der Fetisch der schwarzen Null schädigt Deutschland. – Der Mann hat schlicht recht.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich will zwei Aspekte dazu sagen. Der erste Aspekt ist: Sie reden von Investitionen und haben wieder vollmundig angekündigt, was Sie alles machen werden. Ich meine, das ist das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Aber ich will Ihre eigenen Zahlen noch einmal vortragen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Also, los mal!)
Vor zwei Jahren lagen die Investitionen bei 9,9 Prozent der Gesamtausgaben. In Ihrem Finanzplan für 2020 stehen 8,8 Prozent. Der Anteil der Investitionen sinkt. Sie streuen den Leuten Sand in die Augen. Was ist das Ergebnis? Wir hinken beim Ausbau des digitalen Netzes hinterher. Da muss übrigens auch einmal auf dem Land endlich etwas getan werden. Ich weiß, wovon ich rede.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir haben marode Brücken, die für große Lasten gesperrt werden müssen. Wir haben ein Bildungssystem, das unterfinanziert ist und noch im 19. Jahrhundert feststeckt. Kluge öffentliche Investitionen führen im Übrigen dazu, dass das Wirtschaftswachstum steigt. Wir haben ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent. Das kann doch nicht zufriedenstellen.
Hinzu kommt, dass wir aktuell einen Überschuss von 18,5 Milliarden Euro haben. Nun weiß ich, dass dieser Überschuss von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen erwirtschaftet wird. Das ist mir schon klar. Aber erklären Sie das einmal den Menschen in Vorpommern, wenn sie von einem Überschuss von 18,5 Milliarden Euro lesen, aber bei ihnen kein Bus mehr fährt. Das ist nicht erklärbar. Lösen Sie endlich den Investitionsstau auf.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir fordern eine soziale Investitionsoffensive. Machen Sie das Land sozial und kulturell fit. Zeigen Sie, dass sich die Lebensqualität der Menschen vor Ort verbessert. Das ist Aufgabe von Politik. Es müssen endlich wieder Busse über die Dörfer fahren. Dann sind die Menschen auch politischen Problemen gegenüber aufgeschlossener.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Sache der Landesregierung!)
Sie spielen aktuell doch die Schwachen gegen die Schwächsten aus. Ich will nur ein Beispiel sagen: der soziale Wohnungsbau. Bezahlbarer Wohnraum für alle wäre notwendig. Deswegen müssten Sie in dem Haushaltsplan eine deutliche Erhöhung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau vornehmen. Sie müssten die Städtebaufördermittel für zehn Jahre auf 2 Milliarden Euro festschreiben und, und, und. Es gibt doch Möglichkeiten, und es gibt vor allem Notwendigkeiten.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Der zweite Aspekt. Wir brauchen endlich eine große Steuerreform. Die Schere zwischen Arm und Reich bei Einkommen und Vermögen geht immer weiter auseinander. Sie zwingen die Südländer zu Strukturreformen einschließlich Steuerreformen, aber in Deutschland: komplette Fehlanzeige. Die hohe Ungleichheit ist schädlich für das soziale Gefüge.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist doch nicht zu akzeptieren, dass die 500 Reichsten in Deutschland ein Vermögen von 723 Milliarden Euro haben. Das ist obszön, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Hinzu kommt, dass deren Vermögen im letzten Jahr um 58 Milliarden Euro gestiegen ist. Das sind 8,7 Prozent. Sagen Sie das einmal denjenigen, die unter großen Mühen etwas Geld für die Ausbildung ihrer Kinder abgeknapst haben, die das Geld auf dem Sparbuch haben und 0,01 Prozent Zinsen bekommen. Da läuft doch etwas schief, wenn bei den Vermögenden solche Summen hinzukommen. Ich sage es noch einmal: 58 Milliarden Euro. Der Landeshaushalt von Mecklenburg-Vorpommern hat 7 Milliarden Euro. Da ist doch etwas schief.
Die 14 reichsten Großfamilien verfügen über ein Vermögen von 138 Milliarden Euro. Es gibt jedes Jahr mehr Milliardäre, und Milliardär zu sein, ist nicht normal. Sie spielen auf der anderen Seite die Schwachen gegen die Schwächsten aus und erhöhen den Hartz-IV-Regelsatz um 5 Euro. Da ist doch etwas schief in unserer Gesellschaft.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist Aufgabe des Staates, hier zu steuern.
Es muss endlich das Kapital mehr beteiligt werden. Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab. Wir brauchen die Wiedererhebung der Vermögensteuer als Millionärssteuer. Was ist eigentlich aus der in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten Einführung einer Finanztransaktionsteuer geworden?
Im Übrigen ist doch das, was bei der Erbschaftsteuer passiert, ein Stück aus dem Tollhaus. Ich will daran erinnern: 2014 hat das Bundesverfassungsgericht die damals geltende Regelung als verfassungswidrig erklärt – 2014! –, und es hat Sie aufgefordert – und zwar einstimmig –, bis Juni 2016 eine veränderte Regelung vorzulegen. Es gab dann ein peinliches Gezerre, insbesondere mit Herrn Seehofer. Jetzt haben Sie die Frist verstreichen lassen. Nun ist der Vermittlungsausschuss angerufen worden. Jeder, der zehn Minuten zu lange im Halteverbot steht, bekommt ein Knöllchen, und Sie lassen eine solche Frist, die das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, verstreichen. Sie verspielen Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn Sie nicht einmal einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts akzeptieren. Das geht so nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zur Sache selbst will ich nur feststellen: Das, was Sie da machen, ist keine Reform; das ist maximal ein Reförmchen. In den nächsten zehn Jahren werden 3,1 Billionen Euro vererbt. Nehmen Sie doch wegen meiner die Vereinigten Staaten oder Großbritannien oder Frankreich oder wen auch immer zum Vorbild, was deren Regelung zu Erbschaftsteuer angeht. Dann hätten wir deutlich höhere Einnahmen; sie lägen um das Fünffache, das Sechsfache oder das Zehnfache höher.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Deshalb existieren in Amerika fast keine Familienbetriebe mehr!)
Das ist die Realität.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wenn Sie jetzt von Steuerreformen reden, sagen wir als Linke: Ja, Sie haben uns an Ihrer Seite. Auch wir wollen die kleinen und mittleren Einkommen entlasten. Ich denke an Handwerker sowie kleine und mittlere Unternehmen. Vielleicht kann man die Freibeträge anheben. Die Arbeit zu entlasten, das wäre wirklich einmal eine gute Idee. Ich hoffe, dass Ihre Worte nicht wieder nur Wahlkampfgetöse sind. Aber erst wenn Sie vor allen Dingen die Steuerkriminellen aufspüren und bestrafen – dazu will ich Sie dringend auffordern –, dann ist auch bei höheren Investitionen ein ausgeglichener Haushalt möglich.
Es ist im Übrigen grotesk: Apple soll 13 Milliarden Euro nachzahlen,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und Irland wehrt sich dagegen. Das kann ja nicht sein. Dieses Geschäftsmodell können wir doch nicht akzeptieren. Gleichzeitig spricht sich eine Fachkraft wie der bayerische Finanzminister, Herr Söder, gegen diese Nachzahlung aus, nur weil Apple seinen Firmensitz in München hat. Na, wo leben wir denn? Das kann doch wohl nicht wahr sein.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich bleibe dabei: Die teuersten Flüchtlinge sind die Steuerflüchtlinge.
(Beifall bei der LINKEN)
Was ist eigentlich nach Panama-Leaks passiert? Zunächst gab es eine Ankündigungswelle, und jetzt bremsen Sie, Herr Schäuble, sogar beim Engagement der OECD. Es muss endlich ein weltweiter Datenaustausch der Banken und Steuerbehörden sichergestellt werden, um diesen Kriminellen das Handwerk zu legen; das wäre notwendig. Da bremsen Sie. Sie haben doch Druck auf die Krisenländer ausgeübt. Üben Sie doch einmal da Druck aus, wo wirklich Kriminelle am Werk sind.
Ein weiterer Punkt. Ihre Politik hat in vielen Krisenländern das System zum Wanken gebracht. Schauen Sie sich doch einmal die Lage in Spanien, in Italien an. Die Jugendarbeitslosigkeit ist dort weiter verheerend, auch in Griechenland. Vielen jungen Menschen Europas werden die Lebensperspektiven geraubt. Aber gerade diese Generation brauchen wir doch, um die ursprünglichen Werte Europas wieder mit Leben zu erfüllen.
Ich will einmal die Frage stellen: Was ist eigentlich aus den in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben geworden? Es gibt eine lange Liste der Versäumnisse. Die Finanztransaktionsteuer habe ich schon erwähnt. Das Betreuungsgeld hat sich als verfassungswidrig herausgestellt. Stichwort „Bundesteilhabegesetz“: Im Koalitionsvertrag steht, die Kommunen sollten um 5 Milliarden Euro entlastet werden. Die Entlastung, die jetzt eintritt, liegt bei 11,5 Millionen Euro.
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist völlig falsch! Bleiben Sie doch einmal bei der Wahrheit!)
Das entspricht nicht dem, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht. Was Sie bei der Überprüfung von Leiharbeit und Werkverträgen vorgelegt haben, entspricht nicht einmal Ihren dünnen Vorgaben im Koalitionsvertrag. Das führt sogar zu Verschlechterungen für Leiharbeitskräfte und für Stammbeschäftigte. Sie zementieren die Zweiklassenbelegschaften.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Betriebs- und Personalräte müssen doch wenigstens ein zwingendes Mitspracherecht haben. Das ist original sozialdemokratisch; mehr ist das doch gar nicht.
Ein in Ihrem Koalitionsvertrag formuliertes Ziel haben Sie wirklich erreicht; das ist gut. Frau Merkel hat gesagt: Die Maut wird es mit mir nicht geben. – Das haben Sie zustande gebracht – wunderbar, Glückwunsch!
(Beifall bei der LINKEN)
Eine andere Sache will ich hier dann auch noch benennen; das ist die Rentenangleichung Ost.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ah, jetzt aber!)
– Für Sie, Herr Kauder; das ist auch für Baden-Württemberg wichtig.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gut, ich höre!)
Erst einmal ist festzuhalten, dass es da keine Lösung gibt. 26 Jahre nach der deutschen Einheit unterschiedliche Rentenwerte – erzählen Sie das den Menschen; das versteht niemand; das akzeptiert auch niemand.
Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Frau Merkel, Sie haben 2005 gesagt: In dieser Legislatur klären wir das. – 2005! Das ist schon ein bisschen her.
Jetzt passiert im Wahlkampf Folgendes: Frau Nahles und Herr Sellering erklären in Schwerin: Wir lösen das Problem. – Viele Menschen, ich auch, haben gedacht: Oh, Mensch, das ist jetzt einmal eine gute Maßnahme, das gucke ich mir in der Sache an. – Da gibt es manches zu kritisieren, vor allen Dingen dass die Höherwertung wegfallen soll.
(Lachen bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Wir wollen die Gleichstellung, aber ein bisschen gleicher soll es schon sein!)
Das geht natürlich nicht,
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Aha!)
solange die Löhne im Osten niedriger sind. Aber das eigentliche Problem ist: Im Haushalt: Fehlanzeige! Das, was Sie da gemacht haben, ist letztlich Folgendes: Sie haben den Menschen Sand in die Augen gestreut.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das machen Sie hier gerade! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das machen Sie doch gerade!)
Es wird nichts geben. Es war eine reine Wahlkampfmaßnahme. Meine Damen und Herren, es ist unfassbar, wie Sie die Leute dort in Schwerin verklapst haben; nichts anderes ist da passiert.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen eine solide Rentenreform,
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es bringt euch nichts, wenn ihr wie die AfD redet!)
die lebensstandardsichernd im Alter ist, die Altersarmut verhindert. Die ist möglich, und die ist auch notwendig. Aber dazu muss das Rentenniveau angehoben werden und darf nicht weiter sinken.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, ich habe schon über das gewaltige Vermögen in unserer Gesellschaft geredet; immer noch unfassbar.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist denn das von der PDS hingekommen, das Vermögen? – Gegenruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Jetzt kommt aber die ganz alte Kiste! – Weiterer Gegenruf der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das würde uns wirklich mal interessieren! Damit könnten wir eine Menge anfangen!)
– Herr Kauder, man merkt, dass Sie aus dem vorigen Jahrhundert sind; man merkt es deutlich.
(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das bin ich eben nicht! Jedes Mal, wenn es Ihnen peinlich ist, machen Sie solche Sprüche! Wo ist das Geld hingegangen, das Vermögen?)
Ich habe schon über das Vermögen der 500 Reichsten berichtet:
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gehören Sie dazu!)
723 Milliarden Euro. Auf der anderen Seite haben wir – das sollte auch Sie beunruhigen – 2 Millionen Kinder, die in Armut leben.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist das volkseigene Vermögen von Ihnen geblieben? Das können Sie zurückgeben!)
Jedes siebte Kind unter 15 Jahren ist abhängig von Hartz IV und vom Jobcenter. Kinderarmut, wie Sie wissen, bringt häufig weitere gesellschaftliche Kosten. Armut darf nicht vererbt werden; da sind wir uns doch hoffentlich einig. Sie trifft im Übrigen in besonderer Weise Alleinerziehende, 90 Prozent davon Frauen, und kinderreiche Familien und Familien mit Migrationshintergrund. Das alles hat dann Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe und, und, und.
Ihr Bildungs- und Teilhabepaket ist aber ein bürokratisches Monster, und Sie haben das Hartz-IV-System jetzt noch einmal repressiver gestaltet, meine Damen und Herren. Was wir brauchen, ist ein Aktionsplan gegen Kinderarmut – mehrjährig, mehrdimensional und finanziell gut ausgestattet.
(Beifall bei der LINKEN)
In einer Demokratie darf Herkunft kein Schicksal sein, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich stelle fest, dass die Koalition ein Jahr vor der Wahl de facto am Ende ist. Die drei Parteien arbeiten nicht mehr fürs Land und nicht mehr für Europa, sondern sie arbeiten allesamt zuerst auf eigene Rechnung. Das ist angesichts der komplizierten gesellschaftlichen Situation, angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wirklich nicht zu akzeptieren, und das sollte wirklich zügig beendet werden. So, meine Damen und Herren, kann es nicht weitergehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen in der zentralen Industriemacht Europas einen Politikwechsel, damit das Land nicht weiter gespalten wird, meine Damen und Herren,
(Beifall bei der LINKEN)
damit die große Idee „Europa als Friedensprojekt“ erhalten bleibt und ausgebaut wird. Dieses große, auch kulturelle Projekt darf doch nicht zerstört werden.
Nie war die Krise Europas größer als heute. Es ist doch nicht nur der Brexit. Schauen Sie sich an, wie die Lage in den Ländern ist! Es ist, glaube ich, die größte Krise, die Europa jemals hatte. Deswegen brauchen wir einen Politikwechsel hier in Deutschland. Meine lieben Sozialdemokraten, insbesondere Herr Gabriel: Ja, die Linke will diesen Politikwechsel auch in Regierungsverantwortung übernehmen. Dass das ein für alle Mal klar ist!
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn es die Wiederherstellung des Sozialstaats gibt, wenn es eine friedliche Außenpolitik gibt und wenn jedes Kind die gleichen Möglichkeiten zur Entwicklung hat, dann sind wir selbstverständlich dazu bereit, und zwar wir alle.
(Beifall bei der LINKEN)
Eines ist klar: Das, was Sie hier für das letzte Jahr angeboten haben, meine Damen und Herren, gefährdet den sozialen Zusammenhalt in unserem Land, das gefährdet Europa, und das strahlt vor allen Dingen keinerlei Zuversicht aus, geschweige denn eine Vision.
Herzlichen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
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