"Das Richtige und das Notwendige" (Brie/Klein) – ohne zu sagen, was ist?
Von Joachim Bischoff und Christoph Lieber
»Die große Frage auf dem linken Flügel des Parteienspektrums lautet: Wie schafft man in den nächsten vier Jahren aus einer bisher bloß arithmetischen Mehrheit für Rot-Rot-Grün erst eine gesellschaftliche und dann auch eine politische Mehrheit?« Mit dieser These versuchte Albrecht von Lucke (Merkelland: Die blockierte Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2013) dem Verzicht auf eine gründliche Wahlauswertung seitens der politischen Linken gegenzusteuern und eine Strategiedebatte anzustoßen.
Michael Brie und Dieter Klein greifen im ND vom 30.12.2013 diese Provokation zu einer politischen Grundsatzdebatte auf und stellen das »Richtige und Notwendige« eines immer noch anstehenden Politikwechsels in das Zentrum ihres Debattenbeitrages. In der Tat ist es eine zutreffende Einschätzung, dass ein wirklicher Politikwechsel überfällig ist; zutreffend ist unseres Erachtens auch, dass der Schlüssel für eine alternative Regierungspolitik nicht allein bei der Partei der LINKEN liegt, was nicht heißen kann, dass sie ihre bisherige Politik in der bisherigen Grundausrichtung fortführen kann.
Wie aber kann eine umfassende Erneuerung und Konkretisierung eines wirklichen Politikwechsels praktisch wahr werden? Erst wenn sich neben der Linkspartei nicht auch SPD und Grüne »entschieden auf einen Politikwechsel einlassen, könnte die plurale Linke die Merkel-Union aus dem Sattel werfen. Sonst bleibt es dabei, dass einzelne Reformen wie der Mindestlohn in die neoliberale Politik integriert werden.«
Diese Überlegungen sind sympathisch und realistisch. Für eine Veränderung der Strategie der pluralen Linken könnte sich »das Konzept einer doppelten Transformation als eines der theoretischen Fundamente einer solchen Strategie erweisen«. In ihr werden »systeminterner Wandel des Kapitalismus« und »Transformationen über ihn hinaus« zu einer »prozesshaften Politik« von Einstiegsprojekten wie Rekommunalisierung öffentlicher Versorgung oder gemeinwohlorientierter bis genossenschaftlicher Bewirtschaftungsformen hier und heute verbunden.
Wie tragfähig ist dieses Fundament? Brie/Klein benennen selbst eine wesentliche Voraussetzung: »Gerade weil die Wirtschaftslage der Bundesrepublik im Vergleich zum übrigen Europa relativ günstig ist, könnte die Bundesrepublik einen besonderen Beitrag zum Einstieg in eine Transformation des gegenwärtigen neoliberalen und finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hin zu einer sozial und ökologisch regulierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft leisten.«
Es kann nicht bestritten werden, dass Deutschland die große Krise seit 2007 gerade im Unterschied zu den andern westeuropäischen Metropolen Frankreich und Italien und erst recht den südeuropäischen Ländern ohne größere ökonomische Verwerfungen oder gar Einbrüche bewältigt hat. Aber – so unser kritischer Einwand – Brie/Klein blenden bei ihrer Bewertung »relativ günstig« die Kehr- und Schattenseite dieser Entwicklung aus: Die Stabilitätsinsel, die günstige Bedingungen für eine Strategie einer doppelten Transformation aufweist, bleibt also bestenfalls eine Insel in einem Meer von Unsicherheit und ökonomischen Verwerfungen.
Mehr noch: die große Mehrheit der »WahlbürgerInnen« bleibt bis heute einer Interpretation oder Deutung vom »bedrohten Paradies« verhaftet: »Viele Wähler sind zwar stolz oder dankbar, dass Deutschland bislang der Krise trotzen konnte. Dennoch herrscht ein latentes Unbehagen im Land. Deutschland wird als ein bedrohtes Paradies erlebt, in dem Werte wie Gerechtigkeit langsam erodieren. Die Zukunft ist für die Wähler derzeit nicht mit verheißungsvollen Vorstellungen verbunden, sondern sie erscheint hauptsächlich als finstere Drohkulisse und Krisenszenario. Das Schreckgespenst der Krise lauert immer noch vor den Grenzen Deutschlands. Es soll daher weiterhin so lange wie möglich gebannt und in Schach gehalten werden.« (das »Rheingold-Institut« am 6.9.2013 in einer repräsentative Befragung auf der Grundlage qualitativer Interviews)
Diese Vorstellung, dass es zentrale Aufgabe der Politik ist, die Krisenprozesse möglichst weit außerhalb der nationalen Grenzen zu halten, ist die gesellschaftliche Basis für das Agieren als europäische Hegemonialmacht. »Der Wunsch, das bedrohte Paradies Deutschland aufrechtzuerhalten, eint derzeit die politischen Lager. Parteiübergreifend geben 81% der Wähler an, dass soziale Gerechtigkeit das primäre Ziel der Bundesregierung sein sollte. Und 78% der Wähler stimmen der Aussage zu, dass Deutschland in Europa stärker seine eigenen Interessen wahren sollte. Und umgekehrt stimmen nur 37% der Wähler der Aussage zu, dass sich Deutschland in Zukunft stärker in die europäische Gemeinschaft integrieren sollte. Es gibt allerdings große Unterschiede in den Vorstellungen der Wähler, wie der paradiesische Zustand langfristig erhalten werden kann und welches Bild Deutschland in Zukunft abgeben soll.«
Das Hauptproblem des Scheiterns einer Kampagne von einem veritablen Politikwechsel lag darin, dass die politischen Akteure die emotionale Befindlichkeit der großen Mehrheit der Wahlbevölkerung ignoriert haben. Eine Vielzahl von Daten – von der Einschätzung der persönlichen ökonomischen Situation bis zum Konsum- und Investitionsklima – zeigten ein Land, das sich ökonomisch und politisch als Insel der Stabilität auf einem krisengeschüttelten Kontinent sah. Gerade einmal 8% der Bevölkerung äußerten sich im September 2013 pessimistisch in bezug auf ihre persönliche ökonomische Zukunft.
Ja, es ist auch zutreffend, dass parteiübergreifend 81% der Wähler angeben, dass soziale Gerechtigkeit das primäre Ziel der Bundesregierung sein sollte. Aber dieser große Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit soll eben ohne die Gefahr einer massiven Verletzung der Stabilitätskonstellation umgesetzt werden – und diese Dimensionen haben die Parteien des linken Spektrums nicht ernst genommen.
Deutschland war mit der Agenda-Politik Vorreiter auf dem Weg zur Stabilitätsinsel und hat in kurzer Zeit seinen Arbeitsmarkt und das Normalarbeitsverhältnis dereguliert, seinen Niedriglohnsektor expandiert, fiskalische Austerität festgeschrieben und damit seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber seinen europäischen Nachbarn und Handelspartnern gestärkt. Das sind keine entwicklungs- und zukunftsfähigen Rahmenbedingungen eines »ökonomisch relativ günstigen«, aber somit zugleich »bedrohten Paradieses« – und damit eben auch nicht förderlich für die Konzeption einer doppelten Transformation.
Aus dieser Einschätzung ergeben sich zwei zentrale Probleme, die am Beginn jeder strategischen Neuorientierung der politischen Linken bearbeitet werden müssten und die weder bei der Sozialdemokratie im Verbund der großen Koalition noch bei den Grünen als Teil der parlamentarischen Opposition obenan auf der politischen Agenda stehen:
Erstens: Ökonomisch produziert der Finanzmarktkapitalismus – erst recht bei seiner Krisenbewältigung durch Austerität – systembedingt Prekarität und damit vielfältige Formen sozialer Exklusion, die nur noch wenig mit früheren Formen konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit oder »industrieller Reservearmee« zu tun haben. Dies wiederum belastet dauerhaft durch Abgaben und Umverteilung die ebenfalls unter Druck geratenen Einkommens- und Vermögenspositionen der gesellschaftlichen »Mitte«, um deren Stabilisierung als bevorzugtes Wählerklientel sich derzeit sowohl SPD wie Grüne vorrangig bemühen. Dies wirft ein krasses Licht auf das zweite systematische Problem:
Zweitens: Die ökonomisch bedingte Exklusion produziert eine Erosion politischer Willensbildung und Repräsentation und führt trotz gelegentlicher Schwankungen zu einem hohen und sozial verfestigten Nichtwählerniveau gerade bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen, vornehmlich in sozial gespaltenen urbanen Verhältnissen. Die Wahlbeteiligung im September 2013 betrug 70%. Bei den prekären Bevölkerungsschichten – hohe Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen, hoher Anteil von Sozialtransfers, Bildungsferne u.a. – ist die Wahlbeteiligung extrem niedrig: »Hinter der zunehmenden Ungleichheit der Wahlbeteiligung verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft. Deutschland ist längst zu einer sozial gespaltenen Demokratie der oberen zwei Drittel unserer Gesellschaft geworden.« (Armin Schäfer/Robert Vehrkamp/Jérémie Felix Gagné: Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2013)
Damit wird auch hierzulande trotz »relativ günstiger« (Brie/Klein) ökonomischer Situation »Demokratie zu einer exklusiven Veranstaltung für Menschen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus der Gesellschaft, während die sozial prekären Milieus deutlich unterrepräsentiert bleiben.« (ebenda)
Eine Transformationsstrategie von links, die sich nicht vorrangig dieser doppelten ökonomischen und demokratiepolitischen Herausforderung stellt, ist auf Sand gebaut. Denn was sollen noch so moderne und diskursmächtige zivilgesellschaftliche Bündnis- und Crossover-Projekte ausrichten, wenn ca. acht bis zehn Millionen Menschen außen vor bleiben – und so eine immer latente politische Manövriermasse für den bedrohlichen Rechtspopulismus in Europa bleiben, was bei Brie/Klein in ihren strategischen Überlegungen nicht thematisiert wird?
So begrüßenswert der Versuch ist, durch ein differenziertes und komplexes Transformationskonzept das antikapitalistische »Alleinstellungsmerkmal einer sozialistischen Linken« (Brie/Klein) argumentativ zu unterfüttern, es bleibt eine politisch relevante Realitätsschicht ausgeblendet. Gefordert wird eine Konzeption der »systeminternen progressiven Transformation«, mit der die »tiefe Verankerung bürgerlicher Denkweisen und Maßstäbe in der Mentalität der Bevölkerungsmehrheit« aufgenommen werden kann.
Diese Denkweisen und Mentalitäten haben aber viel mit den meritokratischen und besitzindividualistischen Wertorientierungen kapitalistischer Marktwirtschaften zu tun, die durch die finanzmarktkapitalistischen Veränderungen auf widersprüchliche Weise zugleich deformiert wie reaktualisiert werden. Verändert und aufgebrochen werden können diese Haltungen durch eine von gesellschaftlichen Mehrheiten unterstützte »überlegte und geplante Regulation des Marktes« (Karl Polanyi).
Diese ist sich aber der Hartnäckigkeit wirtschaftsliberaler Laissez-faire-Politik bewusst und weiß um die Gefahr der Entkopplung von Kapitalismus und Demokratie, die die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts erst ermöglichten, wie Polanyi bedrückend aktuell in seiner Analyse der großen Transformation 1932 diagnostiziert:
»Zwischen Wirtschaft und Politik ist eine Kluft aufgerissen. Das ist in dürren Worten die Diagnose der Zeit. Wirtschaft und Politik, diese beiden Lebensäußerungen der Gesellschaft, haben sich selbständig gemacht und führen miteinander dauernd Krieg; sie sind zu Losungen geworden, unter denen politische Parteien, wirtschaftliche Klassen ihre gegensätzlichen Interessen austragen. Es ist soweit gekommen, dass die Rechte und die Linke im Namen von Wirtschaft und Demokratie einander befehden, als könnten die zwei Grundfunktionen der Gesellschaft in zwei verschiedenen Parteien im Staate verkörpert sein! Hinter den Parolen steckt aber grausame Wirklichkeit. Die Linke ist in der Demokratie verankert, die Rechte ist es in der Wirtschaft. Und gerade dadurch wird die zwischen Wirtschaft und Politik vorhandene Funktionsstörung zu einer katastrophalen Polarität gespannt. Aus dem Bereich der politischen Demokratie entspringen die Kräfte, die in die Wirtschaft eingreifen, sie stören und unterbinden. Die Wirtschaft antwortet mit einem Generalsturm gegen die Demokratie als die Verkörperung unverantwortlicher, unsachlicher Wirtschaftsfeindlichkeit... Eine Gesellschaft, deren politisches und wirtschaftliches System einander widerstritten, wäre unfehlbar dem Untergang oder dem Umsturz geweiht.«
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