Draghi-Juncker oder Tsipras-Varoufakis: Wer gibt in Europa den Ton an?
Von Ingo Schmidt
Die Hoffnung auf ein Ende der Troika-Diktatur und ihrer Sparprogramme hat die Wahlen in Griechenland entschieden. Seit Tsipras und Varoufakis über eine Streichung oder Umschuldung der griechischen Auslandsschulden verhandeln, geht in anderen Hauptstädten der Eurozone die Angst um. Die Regierungen in Dublin, Rom, Madrid und Lissabon, die der Troika weiterhin verpflichtet sind oder deren Politik in vorauseilendem Gehorsam umgesetzt haben, fürchten den Aufstieg linker Anti-Troika-Parteien nach dem Vorbild Syrizas. Quer durch die Eurozone fürchten Regierungsmitglieder, dass Gelder der Troika nicht weiter auf dem Umweg über Athen in die Taschen ausländischer Gläubiger geleitet werden können. Das Troika-Prinzip Sparen in Griechenland und steuerfinanzierter Schuldendienst für den Rest der Eurozone hatte diese seit Ausbruch der Eurokrise vor größeren Vermögensverlusten bewahrt.
Von dem Mobilisierungseffekt, den der Wahlsieg Syrizas auf die Linke in anderen Ländern Europas hat, wird es entscheidend abhängen, ob die neue Athener Regierung die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen kann oder nicht.Auf sich allein gestellt, wird Syriza zwischen Unterwerfung unter die Troika oder Austritt aus der Eurozone lavieren. Die Selbstdegradierung zu Erfüllungsgehilfen ausländischer Geldgeber würde zum sofortigen Verlust der heimischen Wählerbasis führen. Eine Rückkehr zur Drachme dürfte – vielleicht über einen etwas längeren Zeitraum – zum gleichen Ergebnis führen. Kurzfristig mag ein Austritt aus der Eurozone samt der damit verbundenen Gängelungen und Demütigungen durchaus populär sein. Diese Art der Wiederherstellung nationaler Souveränität hat allerdings einen Preis. Der Ausschluss vom EU-Finanzsystem ließe sich vielleicht notdürftig mit Krediten aus Russland oder sogar China ausgleichen. Der Umbau der griechischen Wirtschaft, die tief in die Wertschöpfungs- und Handelsketten der EU eingebunden ist, würde dagegen längere Zeit in Anspruch nehmen. In der Zwischenzeit würde die Versorgung der Bevölkerung selbst gegenüber dem niedrigen Niveau nach fünf Rezessionsjahren noch weiter abnehmen. Eine weitere Verelendung kann eine Regierung die angetreten ist, um der Lösung der humanitären Krise Vorrang vor Fiskal- und Schuldenproblemen zu geben, nicht überleben.
EU Selbstkritik
Die Isolierung Syrizas ist natürlich genau das Ziel, dem sich die Troika-Mächte verschworen haben. Ihr Kalkül: Wenn sich das Gespenst einer linken Alternative vertreiben lässt, kann der neoliberale Kurs fortgesetzt werden. Unabhängig vom Wahlsieg Syrizas und von den Medien weitgehend unbeachtet, gibt es allerdings selbst in den Hochburgen des Neoliberalismus Zweifel an Fiskalpakten, Schuldenbremsen und Troika-Diktaten. Ohne deren Logik grundsätzlich in Frage zustellen, hat IWF-Präsidentin Lagarde die Regierungen der Eurozone in den letzten Jahren mehrfach aufgefordert, den Schuldenabbau aufzuschieben, bis Deflation und Stagnation überwunden sind. Peter Praet, Chefökonom der EZB, stellt sogar einen direkten Zusammenhang zwischen Sparpolitik und dem Aufstieg links- und rechtspopulistischer Parteien in vielen Ländern der Eurozone her. Konsequent fordert er denn auch eine Abkehr von der Sparpolitik, um die politische Destabilisierung der etablierten und den neoliberalen Konsens stützenden Parteiensysteme zu überwinden.
Diesen Überlegungen seines Chefökonomen ließ EZB-Chef Draghi Ende Januar Taten Folgen: Mit dem Plan bis September 2016 monatlich für 60 Milliarden Euro Staatspapiere und andere Wertpapiere zu kaufen wird die seit der Großen Rezession ohnehin schon großzügige Geldversorgung weiter ausgeweitet. Allerdings ist mittlerweile auch deutlich geworden, dass eine Ausweitung des Geldangebotes allein nicht zu einer Überwindung der Stagnation führt. Draghi hat denn auch mehrfach Regierungen und EU-Kommission aufgefordert, ihren Teil zur Überwindung der Stagnation beizutragen. Ob er damit eine weitere Senkung sozialer Standards oder eine Lockerung der restriktiven Ausgabenpolitik meinte, ließ er im Namen der Unabhängigkeit der Geldpolitik von anderen Politikfeldern aber im Unklaren.
Zweifel am sturen Festhalten einmal beschlossener dann aber grandios gescheiterter Sparprogramme scheinen selbst der EU-Kommission gekommen.Ihr neuer Chef Juncker verkündete Ende November des vergangenen Jahres ein 315 Milliarden Euro Investitionsprogramm und setzte damit, so könnte man meinen, einen Kontrapunkt zu Fiskalpakt und Schuldenbremse. Zufall oder nicht, der Umfang dieses Programms entspricht genau dem Wert, der in den Schuldenverhandlungen mit Griechenland als ausstehende Schuld gegenüber den EU-Gläubigern angegeben wird. Ob findige EU-Bürokraten das Investitionsprogramm für den Fall eines Totalausfalls der griechischen Schulden ausgetüftelt haben und die EU damit vor den negativen Folgen einer griechischen Staatspleite oder einem Austritt aus der Eurozone abschirmen wollen, sei dahingestellt. Wachstumseffekte sollte man von diesem Programm jedenfalls nicht erwarten. Geplant ist, die 315 Milliarden über drei Jahre für noch nicht näher bestimmte Projekte auszugeben. Gemessen an einem jährlichen EU-Inlandsprodukt von13.000 Milliarden Euro sind dies weniger als ein Prozent. Selbst bei großzügigster Schätzung der Multiplikatoreffekte eines Investitionsprogramms sind davon keine nennenswerten Wachstums- oder gar Beschäftigungseffekte zu erwarten.
Einladung zum Finanzbläschen
Dies gilt umso mehr, als es sich bei den angekündigten 315 Milliarden keinesfalls um eine Summe handelt, die die EU-Kommission in den nächsten drei Jahren tatsächlich auszugeben gedenkt. Geplant ist vielmehr, bei der Europäischen Investitionsbank einen Fonds in Höhe von 21 Milliarden Euro aufzulegen, über den Kredite bis zu einem Volumen von 60 Milliarden Euro abgesichert werden können. Von dieser steuerfinanzierten Kreditabsicherung erwartet die Kommission einen Hebeleffekt, über den ein Gesamtvolumen von 315 Milliarden für Investitionszwecke erreicht werden soll. Wie sie auf diesen Wert kommt, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht waren die ausstehenden Schulden Griechenlands tatsächlich der erste beste Eckwert, der den Eurokraten bei der Planung dieses Programms in den Sinn kam.
Überhaupt erinnert seine Konstruktion doch sehr an die sogenannten Eurorettungsschirme, bei denen ebenfalls private Kredite mittels öffentlicher Gelder abgesichert wurden. Der Unterschied ist nur, dass der Rettungsschirm erst aufgespannt wurde, als ausstehende Kredite bereits notleidend waren. Junckers Investitionsprogramm lädt Investoren im voraus dazu ein, übermäßig riskante Geschäfte einzugehen.Wäre es größer dimensioniert, bestünde die Gefahr einer neuen Finanzblase. Die Investitionen, die Draghis billiges Geld nicht auslösen könnte, würden durch das Drauflegen einer öffentlichen Kreditversicherung vielleicht doch noch Wirklichkeit. Angesichts geringer Erwartungen hinsichtlich der zahlungsfähigen Nachfrage würden sich diese Investitionen hauptsächlich in der Finanzsphäre abspielen, also da, wo die letzte große Krise ihren Ausgangspunkt hatte. Nur angesichts des bescheidenen Umfangs von Junckers Plänen kann man sich zumindest diese Sorge sparen.
David gegen Goliath
Gegenüber dem kleinen Griechenland mag der Rest der EU übermächtig und unerschütterlich erscheinen und die Gefahr, dass die Regierung Tsipras zwischen dem Kotau vor der Troika und Isolierung und neuerlichem Wirtschaftsabsturz infolge eines Austritts aus der Eurozone zerrieben wird, ist durchaus real. Doch auch die Troika steht vor einem Dilemma. Zugeständnisse an Syriza könnten in anderen Ländern Begehrlichkeiten wecken, die den im Zuge der Eurokrise mühsam zusammengezwungenen Sparkonsens in Frage stellen.
Um der Abwahl nach dem Vorbild Samaras zu entgehen, könnten sich Renzi und Hollande auf einen Flirt mit Tsipras einlassen. Das würde sie nicht zu Sozialisten, vielleicht nicht einmal Keynesianern machen, könnte aber ausreichen, um den Sparkonsens in der EU zu kippen. Dies umso mehr, als schon kleine Abweichungen von der reinen Lehre an der Spitze zu schwer kontrollierbaren Bewegungen an der Basis führen können. Das Zusammenspiel zwischen Gorbatschows Reformversuchen von oben und den demokratischen Bewegungen von unten ist hierfür ein Beispiel und manchem Eurokraten dürfte es dämmern, dass die Agonie der EU durchaus mit jener in Gorbatschows sozialistischem Lager vergleichbar ist.
Solange es wirtschaftlich irgendwie aufwärts geht und Zustimmung zum bestehenden System durch materielle Zugeständnisse hier und da organisiert werden kann, ist eine Politik des Weiter So durchaus wirkungsvoll. Das war dem Adenauer-Enkel Kohl wohl bewusst, der nach dem Ende des Wirtschaftswunders eine Politik der kleinen Kürzungen mit der Einführung von Pflegeversicherung und schließlich Übertragung des westdeutschen Sozialsystems auf die damals neuen Länder verbunden hat. Die gleichzeitig in Angriff genommenen Projekte der Europäischen Währungsunion und Osterweiterung sind allerdings mittlerweile an Expansionsgrenzen gestoßen, die der Kohl-Tochter Merkel wenig Spielraum für Konzessionen lässt. Selbst wenn die mit aller Kraft angestrebte Zerstörung Syrizas gelingt, könnte es sich dabei um einen Pyrrhus-Sieg handeln.