Die europäische Flüchtlingskrise verlangt eine europäische Investitionsoffensive
Von Axel Troost
Europa sah sich im dritten Quartal 2015 mit dem größten Migrationsstrom seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. In Griechenland landeten im dritten Quartal dieses Jahres gemäß UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) rund 330.000 Personen. In der letzten Woche sind allein 48.000 Menschen in Griechenland angekommen, so viele wie seit Jahresanfang nicht, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. Über das Mittelmeer sind damit 2015 bislang 681.000 Menschen nach Europa geflüchtet. Die meisten ziehen über die sogenannte Balkan-Route weiter nach Norden.
In Griechenland betreten gegenwärtig die meisten Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan erstmals den Boden der Europäischen Union. Vorbereitet ist das durch die Memorandumspolitik und die neoliberalen Auflagen drangsalierte Land darauf jedoch nicht. Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) hat Griechenland scharf kritisiert: „Schlechte Organisation und Personalmangel schaffen Chaos und Unsicherheit in einem polizeilichen Registrierungszentrum (...) auf der griechischen Insel Lesbos.“ Die Organisation schlägt den Einsatz speziell ausgebildeter Polizistinnen vor, um Frauen, Kinder und kranke Migranten zu schützen, zudem die Installation von Lautsprechern zur Verbreitung wichtiger Informationen in mehreren Sprachen. Eine Registrierung auf Lesbos ist die Vorbedingung für die Weiterreise per Fähre nach Piräus, der nächsten Zwischenstation der Migranten auf einem Weg, der für die meisten nach Deutschland oder Schweden führt.
Giannis Mouzalas, Griechenlands Minister für Migrationspolitik, weist die Kritik an Griechenlands Agieren zurück: „Etwa achtzig Prozent der Ankommenden sind Flüchtlinge, nicht Migranten. Von den Flüchtlingen wiederum kommt die Mehrheit, etwa sechzig Prozent, aus Syrien. Ungefähr ein Fünftel stammt aus Afghanistan. … Gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, den Gesetzen Europas und unseres Landes müssen wir den Menschen einen humanitären Ausweg aus ihrer Lage ebnen. Es ist illegal, sie abzuweisen. Wir müssen die Leute retten, und dann erst können wir sie identifizieren. Jedes andere Land, das unsere Grenzen hätte, stünde vor der gleichen Schwierigkeit. … Wir werden unseren Teil der Verantwortung erfüllen und hoffen dabei auf die Solidarität der anderen europäischen Länder. Bisher haben wir uns oft allein gefühlt mit diesem Problem. Jetzt scheint sich die Lage in Europa geändert zu haben. Ich bin froh, dass Deutschland eine Führungsrolle bei der Aufgabe übernommen hat, aus der Festung Europa ein Europa der Gastfreundlichkeit zu machen. Da auch wir an ein solches Europa glauben, wollen wir trotz unserer Wirtschaftskrise mit allen unseren Kräften dazu beitragen.“
Die sich abzeichnende humane Katastrophe soll durch einen 17-Punkte-Plan unterbunden werden. Es sollen insgesamt 100.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge geschaffen werden. 50.000 davon sollen in Griechenland entstehen, davon 30.000 bis Ende des Jahres. Die übrigen 50.000 sind in den Ländern entlang der Route nach Norden vorgesehen. Eine zentrale Rolle soll dabei das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spielen. UNO-Flüchtlingskommissar António Guterres erklärte, die Aufnahmeplätze könnten helfen die Flüchtlingsbewegungen „besser zu bewältigen und vorhersehbarer zu machen“. Unbestreitbar ist aber, dass dies ein erster Schritt ist, denn 50.000 Plätze auf dem Balkan sind für den Winter natürlich zu wenig, wenn man die Zahlen der letzten Wochen sieht.
Innerhalb von 24 Stunden soll ein Netz von Ansprechpartnern auf höchster Ebene entstehen, um „eine allmähliche, kontrollierte und geordnete Bewegung“ der Menschen auf der Balkanroute sicherzustellen. Man wolle die „Flüchtlinge und Migranten entmutigen, zur Grenze eines anderes Landes der Region zu ziehen“, heißt es in der Erklärung weiter. „Eine Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen, ohne die Nachbarstaaten zu informieren, ist nicht akzeptabel.“ Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll die Grenzen besser absichern, etwa zwischen Griechenland, Mazedonien und Albanien sowie zwischen Kroatien und Serbien.
Ohne Zweifel ist Europa auf das extremste herausgefordert und ohne einen solidarischen Notplan droht eine fundamentale Beschädigung der Staatenunion. Der Notplan umfasst drei Ziele: die Einigung auf eine freiwillige Quote zur Verteilung von Flüchtlingen, die Registrierung von Flüchtlingen im ankommenden Land statt unkontrolliertes Durchwinken sowie der verbesserte Austausch von Informationen untereinander. Außerdem müssten die Registrierzentren, also die Hotspots, an den EU-Außengrenzen ausgebaut werden.
Zu diesem Konzept der humanitären Versorgung der Flüchtlinge muss nach meiner Auffassung viel größeres Gewicht auf die Verbesserung der Flüchtlingslager am Rande der Krisengebiet in Nahost gelegt werden. Die EU kann Flüchtlingslager für Millionen Menschen in der Türkei, Jordanien und im Libanon mitfinanzieren. In Absprache mit den internationalen Hilfsorganisationen und der Flüchtlingsorganisation UNHCR müssen die Unterbringung und Versorgung am Rande der Krisengebiete durchgreifend verbessert werden. Dies unterstellt weitere Schritte zu einer fairen Lastenverteilung in der EU. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte, es dürfe auf der Balkanroute nicht zu einer humanitären Tragödie kommen.
Tatsächlich aber wird diese Vereinbarung die menschliche Katastrophe nicht verhindern. Solange die Kriegssituation in Syrien und der Verfall staatlicher Strukturen etwa auch in vielen afrikanischen Ländern anhält, wird der Strom der Zufluchtsuchenden durch solche Maßnahmen vielleicht etwas eingedämmt, aber keineswegs unterbunden. So hat die UN die Zahl der erwarteten Flüchtlinge deutlich nach oben korrigiert: Mehr als 1,4 Millionen Asylsuchende könnten nach Schätzungen des UNHCR von Anfang 2015 bis Ende 2016 über das Mittelmeer nach Europa kommen, seit Jahresbeginn bis zum 28. September waren es bereits 520.957 Flüchtlinge. Das Flüchtlingshilfswerk rechnet für das gesamte Jahr 2015 mit insgesamt rund 700.000 MittelmeerFlüchtlingen: „Möglicherweise werden es aber 2016 weit mehr sein, wir gehen bei den Planungen vorerst von der Zahl für 2015 aus.“
Den EU-Institutionen ist es bislang nicht gelungen über die kurzfristigen Maßnahmen hinaus ein Konzept zu erarbeiten, das ganz Europa aus seinem Krisenmodus herausführt und damit in die Lage versetzt eine Integrationsleistung zu vollziehen, die nur mit der nach Ende des zweiten Weltkrieges vergleichbar ist.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte zurecht: „Wenn politisch der Wille nur besteht, Zäune zu bauen oder Mauern zu bauen, dann ist Europa, das Europa, das wir kennen, auf einer Schleife, wo es dann in kurzer Zeit in sich zusammenbricht. Das müssen wir verhindern.“
Die Politik reagiert dagegen mehr und mehr mit Abschreckungsmaßnahmen, die freilich ihre Wirkung verfehlen und die nationalistisch motivierten Abgrenzungen gewinnen in der politischen Klasse an Gewicht, was auch das Image der Bundeskanzlerin untergräbt. Das gegenwärtige Handeln der einzelnen Regierungen in Europa macht deutlich: Die Divergenzen innerhalb der EU haben ihre Ursache nicht in der massiven Zuwanderung, auf die die europäischen Staaten und Institutionen nicht gut vorbereitet sind, sondern finden sich in der in vielerlei Hinsicht falschen Politik des Europäischen Rats bzw. die ihn dominierenden Regierungen und nur in zweiter Linie bei der Brüsseler Zentraladministration. In der Wirtschafts- und Schuldenkrise der vergangenen Jahre sind Kinder und Jugendliche in der Europäischen Union die größten Verlierer. 26 Millionen junge Menschen sind nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Gefahr eines sich verschärfenden Verteilungskampfes zwischen den (nicht nur) jungen einheimischen Abgehängten und den Zufluchtsuchenden wird durch die Politik vergrößert.
Der Wiederaufbau der Krisenländer muss mit einer grundlegenden Reform der Währungsunion verknüpft werden, die die einseitige – und für die Beschäftigten in Deutschland und die Ökonomien der Krisenländern gleichermaßen negative – Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf den Export überwinden hilft. Das kann nur durch eine sehr viel stärker koordinierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik erreicht werden – und das setzt notwendig die grundsätzliche Bereitschaft voraus nationale Politikspielräume zugunsten gemeinsamer europäischer Ziele zurückzunehmen.
Eine vertiefte europäische Koordination von Wirtschaft-, Finanz- und Sozialpolitik ist aber keineswegs ein Nullsummenspiel, bei dem Deutschland verlieren muss, damit andere Länder etwas bekommen können. Ganz im Gegenteil: die Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern einer Reform der EU und der Eurozone darf nicht entlang nationaler Grenzen, sondern muss entlang sozialer Schichten verlaufen. Europa und vor allem Deutschland müssen die neoliberale Konsolidierungspolitik aufgeben und die Herausforderung der Flüchtlingskrise zu einer europaweiten Investitionsoffensive nutzen.
Zurecht fordert der SPD-Politiker Ralf Stegner ein Investitionspaket in Höhe von 20 Milliarden Euro zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Dafür sollte nach Meinung des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes aufgegeben werden. Sprich: Die Abkehr von Schäubles Lieblingskind namens „Schwarze Null“. Schon die praktizierte Schuldenbremse lässt eine flexiblere Haushaltspolitik und Neuverschuldung in Notfällen zu. Ich hoffe sehr, dass diese politische Initiative endlich ein Umdenken in der Sozialdemokratie auslöst.
Auch die Linkspartei tritt seit langem für den von Ralf Stegner geforderten Kurswechsel ein. Im Beschluss des Parteivorstandes vom 26. September 2015 wird gefordert: „Ein ausgeglichener Haushalt, der zentrale Aufgaben nicht erfüllen kann und der elementare Bedürfnisse der Bevölkerung so wenig berücksichtigt wie akute Notlagen aufgrund von Krieg, Flucht oder Naturkatstrophen, ist nicht ausgeglichen. Er funktioniert auf Kosten der Bevölkerung hier und heute und auf Kosten der nächsten Generationen, denen wir eine brüchige Substanz hinterlassen.
Es zeigt sich, dass unsere Forderung nach einer Abschaffung der Schuldenbremse richtig ist. Aber der Bund könnte schon heute ohne die Bestimmungen der Schuldenbremse zu verletzen, Kredite bis zu 13 Mrd Euro aufnehmen. Damit könnten die unmittelbaren Bedarfe gedeckt werden. Als Tilgungsplan schlagen wir die zügige Einführung einer gerechten Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen vor. Damit könnten die langfristigen Bedarfe für öffentliche Investitionen für alle hier lebenden Menschen gesichert werden.
- Wir brauchen daher einen demokratischen Aufbruch, der auf dem Ausbau des Gemeinsamen und Öffentlichen basiert und mit dem Mangel und der Konkurrenz bricht. Eine demokratische Gesellschaft kann auf einem sozialen Fundament von öffentlicher Daseinsvorsorge, öffentlicher Infrastruktur und sozialer Sicherheit gedeihen. Das ist der Boden, auf dem alle ohne Angst verschieden sein können.
- Wir fordern daher umgehend ein Sofortprogramm in Höhe von 25 Mrd. Euro, um die Handlungsfähigkeit des Staates in seinen originären Aufgabenbereichen wieder herzustellen und einen generellen Ausbau sozialer Dienstleistungen und öffentlicher Infrastruktur für alle:
- Soforthilfe an die Kommunen/Länder zur Erstversorgung der Flüchtlinge: 10 Mrd. Euro
- Bundessonderprogramm sozialer Wohnungsbau mit 500 000 Wohnungen in Mischnutzung für Menschen mit geringen Einkommen und Flüchtlinge in Höhe von 8 Mrd. Euro
- Ausbau arbeitsmarktpolitischer Qualifizierungs- und Integrationsprogramme; kostenfreie und qualitativ hochwertig hochwertige freiwillige Sprachkurse; Bundeszuschuss für Bildung (Schulen, Kitas); Ausbau sozialer Beratungsstellen (zusammen 7 Mrd. Euro)
- Langfristig gilt es die Kommunen nicht im Regen stehen zu lassen. Die Kosten für das gesamte Asylverfahren muss vom Bund übernommen werden. Die Erstaufnahme Geflüchteter ist komplett vom Bund zu tragen. Das Geld dafür ist vorhanden. Auf mittlere Sicht muss der Bund die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen vollständig übernehmen. Der Bund muss zudem Bundesimmobilien unentgeltlich für Wohnzwecke zur Verfügung stellen. Um dies zu finanzieren brauchen wir kurzfristig Kreditaufnahmen der öffentlichen Hand – derzeit verursachen Kreditaufnahmen so gut wie keine Zinsen. Diese Kredite müssen gedeckt werden durch eine verbesserte Einnahmesituation aus einer entsprechenden Besteuerung hoher Unternehmensgewinne, Vermögen und Einkommen.
- Die aktuelle Situation ist auch eine Chance für Gewerkschaften, Flüchtlingsinitiativen, Verbände und soziale Bewegungen die soziale Frage gemeinsam wieder auf die Tagesordnung zu setzen – für ein Europa, das eine bessere Zukunft für alle ermöglicht. Wir werden uns an entsprechenden Bündnissen und Mobilisierungen beteiligen.“
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