DIE LINKE: Auf der Höhe der Zeit oder in neuen Gräben?
Von Joachim Bischoff / Björn Radke, Sozialismus
Unter ostdeutschen Mandats- und Funktionsträgern gibt es Unmut über den politischen Kurs der Partei DIE LINKE. Bundestagsabgeordnete aus den neuen Bundesländern erwägen deshalb die Gründung einer »Landesgruppe Ost«. Hauptstreitpunkt ist die systemkritische Ausrichtung der Partei, die vor allem bei den ostdeutschen WählerInnen auf geringe Zustimmung stoße. »Wir müssen sicherstellen, dass auch die Wahrung ostdeutscher Interessen als Markenkern erhalten bleibt«, sagte der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern, Steffen Bockhahn. Dieser Markenkern habe gelitten. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern fürchten Landespolitiker der LINKEN Gegenwind durch die Flaute der Bundespartei.
In einem Beitrag für die »Blätter für deutsche und internationale Politik«[1] kritisiert auch der Landesvorsitzende der Berliner Linkspartei, Klaus Lederer, die programmatische Unflexibilität der Bundespartei. In der Bundesrepublik seien viele BürgerInnen dabei, ihre politischen Optionen und Präferenzen zu verändern. DIE LINKE sei in diese Verschiebung nicht eingebunden und verzichte auf die Chance, den internen Verständigungsstau aufzulösen und größeres Interesse bei der Wahlbevölkerung zu finden. Ihr gehe die Sicht auf die massiven Verschiebungen in den politischen Kräfteverhältnissen verloren. Sie verharre in der Gründungskonstellation und nehme mehrheitlich nicht zur Kenntnis, dass sich der Kapitalismus verändere. »Das Kapitalverhältnis bestimmt weitgehend unangefochten die Dynamik der gesellschaftlichen Umwälzungen, während sich die Beherrschten mit dieser Situation arrangieren.«[2] Kritische Systemanpassung nennt Lederer die Grundstruktur des Alltagsbewusstseins. »In den großen Industriestaaten wird von Mehrheiten in einem breiten gesellschaftlichen Konsens so etwas wie kritische Systemanpassung gelebt, die auf der Akzeptanz der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beruht.«[3]
Mit der beständigen Wiederholung einer antikapitalistischen Programmatik und Rhetorik komme man deshalb aus dem wahlpolitischen Ghetto nicht heraus. Die »kritische Systemanpassung« basiere einerseits darauf, dass die BürgerInnen nach wie vor mehr zu verlieren hätten als ihre Ketten. Andererseits gebe es keine überzeugende Alternative zum Kapitalismus, denn das historische Scheitern des »Realsozialismus« sei immer noch – trotz Geschichtsvergessenheit – präsent. Schließlich habe sich der Kapitalismus zumeist als klüger erwiesen. Damit meint Lederer wohl, dass die kapitalistische Gesellschaft – wie schon Marx Ende des 19. Jahrhunderts betonte – kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist.
Offensichtlich deutet Lederer auch die aktuelle Konstellation – zusammen mit vielen anderen in und außerhalb der Linkspartei – als Übergang aus einer Großen Krise in einen neuen Investitions- und Innovationszyklus. Hinter der Flucht in eine verbalradikale Antikapitalismusrhetorik stecke die Illusion, in einer überlebten Arbeitsgesellschaft den »Wohlfahrtskompromiss im Ganzen« bewahren oder wiederherstellen zu wollen. Lederers zusammenfassende Kurzformel: Eine produktive Neuordnung der Partei unterstellt die Aufhebung der bisher blockierenden Strömungslogiken und die Entwicklung einer zeitgemäßen sozialistischen Befreiungsidee jenseits von Ökonomismus und Sozialstaatskompromiss.
Die These von einer »kritischen Systemanpassung« der Mehrheit der Bevölkerung muss genauer betrachtet werden. Dass der gegenwärtige Wirtschaftsaufschwung die eigene ökonomische Lage weiter verbessern wird, davon waren Ende November 2010 nur gut ein Fünftel der Wohnbevölkerung überzeugt. Im Gegensatz zu der recht hohen Zufriedenheit im persönlichen Bereich und der positiveren Beurteilung der allgemeinen ebenso wie der eigenen wirtschaftlichen Lage sehen die Deutschen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit wesentlich kritischeren Augen.
So ist nach einer längeren Phase gestiegener Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie erstmals wieder ein deutlicher Rückgang festzustellen: Hatten sich im September 2009 – kurz vor der Bundestagswahl – noch 62% der BürgerInnen mit der Demokratie hierzulande zufrieden gezeigt, ist es jetzt nur noch gut die Hälfte; mehr als vier von zehn Befragten äußern sich hingegen kritisch. Von einer rückläufigen Zustimmung ist auch die Wirtschaftsordnung betroffen. In den zurückliegenden Jahren der Finanz- und Wirtschaftskrise hatte sich das Vertrauen der BürgerInnen in die »Soziale Marktwirtschaft« sogar – entgegen vielleicht naheliegender Erwartungen – etwas stabilisiert, nunmehr ist es jedoch wieder erkennbar gesunken: Nur noch 48% der Deutschen sind der Auffassung, diese Wirtschaftsordnung habe sich bislang bewährt. Dies stellt einen neuen Tiefstand seit der erstmaligen Erhebung der Frage im Jahr 1994 dar.[4]
Die Vorbehalte gegenüber der Wirtschaftsordnung sind massiv. 72% der Bevölkerung sind davon überzeugt, dass es in der Gesellschaft nicht gerecht zugeht. Zugleich erreicht das Misstrauen in die Parteien und die Politik neue Höchststände. Acht von zehn Deutschen sind der Ansicht, dass das politische Führungspersonal seinen Aufgaben nicht gerecht wird. Die Meinung zu den Führungskräften in der Wirtschaft ist kaum besser: Zwei Drittel der BürgerInnen beurteilen – ungeachtet der jüngsten wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen – auch deren Leistungen äußerst kritisch. Die Ergebnisse zeugen von einer deutlichen »Elitenverdrossenheit« in der Bevölkerung, die ernst genommen werden muss. Was ein Teil der PolitikerInnen der LINKEN nicht zur Kenntnis nehmen will: Große Teile der Bevölkerung sind von dem aktuellen Typus kapitalistischer Ökonomie nicht überzeugt. Richtig bleibt allerdings: mit einer nervtötenden Antikapitalismusrhetorik können die systemkritischen BürgerInnen auch nichts anfangen.
Die Lernfähigkeit der herrschenden ökonomischen und politischen Eliten hat sich in der Großen Krise als äußerst begrenzt erwiesen. Deren systemimmanente Bearbeitung erfolgt in den meisten Ländern ohne Wechsel der Eliten, die das neoliberale Mantra allerdings weniger schwungvoll rezitieren. Der politische Mainstream ist dabei in Europa nicht nach links, sondern eher weiter nach rechts gegangen. Repräsentative Umfragen und qualitative Befragungen belegen eine Legitimationskrise des Kapitalismus und der ihn repräsentierenden ökonomischen und politischen Eliten gerade auch in Deutschland – einem Land, das einmal zu den Hochburgen des sozial regulierten Kapitalismus mit der »sozialen Marktwirtschaft« als Leitbild zählte. Diese Legitimationskrise hat sich allerdings nicht erst unter dem Eindruck der Großen Krise, sondern in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten entwickelt und ist durch die sozio-ökonomische Entwicklung immer wieder aktualisiert worden.
Entscheidende Gründe für diese Entwicklungen: erstmals in der 60jährigen bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte gab es reale Einkommensverluste im gesamten Verlauf des Konjunkturzyklus, die Prekarisierung der Arbeit nimmt rapide zu, und es wächst die Gefahr, bei Arbeitslosigkeit – oder auch privaten Krisen – nach kurzer Zeit in die Zonen der Armut abzusacken. Nur mehr eine kleine Minderheit der Bevölkerung beurteilt die Verteilungsverhältnisse als gerecht, zwei Drittel der BürgerInnen fordern verstärkte Anstrengungen zur Bekämpfung der Kinderarmut, Mindesteinkommen für die Lohnabhängigen und einen Kurswechsel bei der Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Vermögen.
Systemkrise und Systemkritik kennzeichnen eine offene Situation. In welche Richtung sie sich verdichten – ob zu einer verstärkt chauvinistisch-exportorientierten Wettbewerbsstrategie, zu einem kapitalistischen Green New Deal, einer xenophobisch aufgeladenen Ausgrenzungspolitik oder aber doch zu einer Lösung, die in Richtung einer neuen Wirtschaftsprogrammierung und Wirtschaftsdemokratie weisen würde –, ist ebenso offen. Das hängt maßgeblich von der Überzeugungskraft der inhaltlichen Alternativen und der Formierung überzeugungsfähiger sozialer Blöcke ab.
Der Niedergang des Parteiensystems ist Ausdruck des Unvermögens, auf die Megatrends des gesellschaftlichen Umbruchs tragfähige Antworten zu entwickeln. Sozial- und Christdemokraten haben – vor dem Hintergrund einer Überakkumulationskrise – mit einer Politik der Prekarisierung und sozialen Exklusion eine Veränderung der Klassenverhältnisse befördert, die sich als Sprengsatz für ihre eigene Mitglieder- und Wählerbasis erwiesen hat. Beide Lager haben kein gesellschaftliches Projekt zur Bewältigung der Probleme und sind sozialstrukturell wie programmatisch fragil geworden.
Mit der Krise des »entfesselten, neoliberalen Kapitalismus« steht auch die Linke in Deutschland vor weitergehenden Herausforderungen.
Ein Sozialismus im 21. Jahrhundert wird ohne die Schaffung neuer, auch kommunaler und lokaler Formen der Partizipation und Demokratie nicht zu haben sein. Seine Ausgangsbedingungen unterscheiden sich gravierend von denen zu Beginn und im Fortgang des 20. Jahrhunderts. Die Kopie einer Strategie der »Eroberung der Kommandohöhen« der politisch-staatlichen wie wirtschaftlichen Macht wird unter Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus ins Leere laufen. Insofern teilen wir Lederers These, dass »aus den konkreten Hoffnungen, Forderungen und Wünschen der Menschen ein politisches Programm entwickelt werden (muss), welches die Idee eines demokratischen Sozialismus erneut aufgreift. Das aber setzt einen umfassenderen Begriff der gesellschaftlichen Veränderung voraus.«[5] Ansätze eines solchen Übergangsprogramms für eine sozialistische Transformation verficht die Linkspartei in ihrer Mehrheit.
Wenn aber dem Finanzmarktkapitalismus Transformierbarkeit und dem Alltagsbewusstsein lediglich »kritische Systemanpassung«, gepaart »mit partiellem Umweltbewusstsein, Innovationsoffenheit für globale Fragen wie Energiesicherheit, Frieden, sozialen Ausgleich und den Schutz politischer Freiheiten« attestiert wird, bleibt in der praktischen Politik nur das Setzen auf kleine Reformschritte wie etwa eine Bankenabgabe oder Umweltschutz in der Hoffnung auf Zivilisierung des neuen Herrschaftsverhältnisses. Daneben steht dann unvermittelt jene »nichtökonomistische« demokratisch-sozialistische Befreiungsutopie einer »Gesellschaft des guten Lebens«, für die Klaus Lederer und andere die Massen durch Aufklärung begeistern wollen.[6]
Die Möglichkeiten einer Neuerfindung der sozialistischen Linken ergeben sich natürlich auch aus der Krise der überkommenen Formen der politischen Repräsentation. Neue Formen partizipativer Demokratie, die unterlegt sein müssen mit neuen Formen von Wirtschaftsdemokratie – auch um gegen die mächtigen Tendenzen der Verfestigung autoritärer Strukturen eines strafenden Staates anzugehen – bedingen nicht zuletzt, dass sich die Akteure selbst ändern müssen. David Harvey hat das so ausgedrückt: »Revolutionäre Transformationen kommen nicht zustande, wenn wir nicht wenigstens unsere Ideen verändern, geliebte Vorstellungen und Vorurteile über Bord werfen, auf alltägliche Bequemlichkeiten und Rechte verzichten, neue Lebensweisen ausprobieren, unsere sozialen und politischen Rollen verändern, die Zuweisung von Rechten, Pflichten und Verantwortlichkeiten neu ordnen und unser Verhalten besser auf kollektive Bedürfnisse und einen gemeinsamen Willen abstimmen.«[7]
Die politische Herausforderung für Gewerkschaften, globalisierungskritische Bewegungen und die politische Linke in einem weiten Sinne besteht in der Bündelung des Protestpotenzials gegen die herrschenden neoliberalen Eliten. Wir werden diese Aufgabe nur lösen können, wenn wir uns die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche klar machen, die im Gefolge der Großen Krise aus der Wiederentdeckung der Klassengesellschaft resultieren. Gern darf und muss die Verständigung darüber, welche strategischen Herausforderungen vor uns stehen, kontrovers geführt werden. Das Ausheben neuer Gräben, in denen die Strömungen aneinander und an den Problemen der von der Krise besonders gebeutelten Menschen vorbeifließen, anstelle einen lebendigen Strudel an neuer politischer Kultur aufzuwirbeln, dürfte – auch mit Blick auf die anstehenden Wahlkämpfe in Ländern und Kommunen – nicht sehr zielführend sein.
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Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus und Mitglied der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft. Björn Radke ist einer der SprecherInnen der Partei DIE LINKE in Schleswig-Holstein.
[1] Klaus Lederer, Programmatisch festgefahren, Warum DIE LINKE sich ändern muss, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2011. S. 81ff.
[2] Ebenda, S. 83
[3] Ebenda
[4] Siehe hierzu ausführlicher Joachim Bischoff/Richard Detje/Christoph Lieber/Bernhard Müller/Gerd Siebecke, Die Große Krise. Finanzmarktcrash – verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein – Solidarische Ökonomie, Hamburg 2010
[5] A.a.O., S. 88f.
[6] Hierbei verweist Lederer auf die Marxschen »Grundrisse«, in denen er eine solche »ganze Kulturstufe begründet« (ebd. 88) sieht. Allerdings blendet er aus – und darüber müsste dann gestritten werden –, dass diese volle »Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums« immer noch eine Kehrseite hat: »Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint als miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne.« (Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwurf 1857/58, Berlin (DDR) 1953, S. 593)
[7] David Harvey, Den antikapitalistischen Übergang organisieren, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 11/2010, S. 19
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