Die Chance zur Erneuerung nutzen!
Redaktion Sozialismus: LINKE-Parteitag votierte für Integration statt Spaltung
Mit der Wahl von Katja Kipping und Bernd Riexinger als politisches Führungsduo sind die ParteitagsdelegiertInnen letztlich dem Vorschlag derjenigen gefolgt, die in den letzten Tagen nach dem Rückzug von Oskar Lafontaine für eine »integrative Lösung« geworben haben.
Der Parteitag hatte schon am ersten Tag noch vor dem Wahlmarathon seine Orientierung klar gemacht und die Marschroute – eigentlich für jeden erkennbar – vorgegeben. Mit deutlichen Mehrheiten verabschiedeten die Delegierten einen auf Integration setzenden Leitantrag, in dem sie große Passagen eines alternativen Ersetzungsantrags des so genannten Reformer-Flügels in den ursprünglichen Leitantrag des Parteivorstandes einbauten, so unter anderem die Passagen: »Für Demokratie in Deutschland und Europa zu streiten, fordert uns auch nach innen heraus. Wir können nur für die Zukunft der Menschen kämpfen, wenn wir uns nicht selbst dieser entledigen. Hierfür ist mehr Selbstbewusstsein und mehr Mut für eine breite politische Beteiligung bei der Politikentwicklung notwendig… Die besondere Herausforderung für uns besteht darin, die bisher praktizierte Parteipolitik schrittweise zu öffnen und dem wachsenden Verlangen nach politischer Beteiligung anzupassen… Der Sieg einer innerparteilichen Gruppe über eine andere ist für unsere WählerInnen nicht interessant. Deshalb darf dieser Parteitag die Chance auf einen gemeinsamen Neuanfang nicht verspielen«.
Katja Kipping, die zuvor noch gemeinsam mit Katharina Schwabedissen (Landessprecherin in NRW) für eine »Teamlösung« jenseits der vorhandenen Strömungslogik geworben hatte, erhielt im ersten Wahlgang 67,1% der Stimmen. Die einzige Gegenkandidatin, die Fraktionschefin der Partei in der Hamburgischen Bürgerschaft, Dora Heyenn, erhielt 29,3%.
Offenkundig kann ein großer Teil der DelegiertInnen mit einer Vorsitzenden leben, die – trotz ihrer sächsischen Herkunft – nicht dem Schema Ost gegen West unterzuordnen ist. Als Mitbegründerin der Zeitschrift »prager frühling« und des »Instituts sozialistische Moderne« steht sie für einen libertären Sozialismusbegriff. Sie tritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein und ist in der Bundestagsfraktion eine ausgewiesene Sozialpolitikerin, die sich vor allem mit den Sanktionen des HARTZ IV-Regimes gegen die betroffenen Menschen auseinandersetzt. Sie plädiert ebenso für eine andere politische Kultur im Umgang mit unterschiedlichen Positionen in der LINKEN, als auch für einen offenen Umgang mit Positionen der GRÜNEN und der SPD.
Sie verkörpert, auch aufgrund ihres Alters (34 Jahre), den Typus einer modernen, pluralistischen LINKEN im 21. Jahrhundert. In ersten Statements vor den Medien erklärt sie, die Zeit des einen Heilsbringers sei vorbei. »Bitte lasst uns diese verdammte Ost-West-Verteilung auflösen.« Sie wolle die Vision einer erneuerten Linken einbringen. Den Wettbewerb um Lautstärke und Rhetorik könne sie nicht gewinnen, aber: »Vielleicht kann ich einen Wechsel in der Tonlage einbringen.« Sie wolle bei allem Streit einen menschlichen Umgang. Ob die Hoffnungen und Erwartungen, die nun an sie gerichtet sind, realistisch sind, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.
Wenn nun die Zeit der großen Alpha-Tiere Lafontaine und Gysi abläuft, wird es in der Tat umso wichtiger, den anstehenden Herausforderungen mit offenem Visier und mit Teamgeist zu begegnen. Mit der Wahl des baden-württembergischen Landeschefs Bernd Riexinger, der in der Gewerkschaft ver.di in Baden-Württemberg bisher eine zentrale Rolle spielte, wurde ein Mann an die Seite Katja Kippings gewählt, dem vor allem aus den Ost-Landesverbänden viel Misstrauen entgegenschlägt: Riexinger kenne dort niemand, und er sei als Gewerkschafter nur eine Kopie des umstrittenen und erfolglosen Ex-Parteichefs Klaus Ernst, eingesetzt von Lafontaine. Riexinger sei vor allem deshalb aufgestellt worden, um Dietmar Bartsch zu verhindern. Dagegen sieht Sarah Wagenknecht in Riexinger einen Kandidaten »jenseits der Konfliktlinie. Die Frage ist, ob man ihm eine Chance gibt«.
Vor dem Hintergrund solcher Vorbehalte erklärt sich auch das Wahlergebnis: Bernd Riexinger erhielt 297 Stimmen (53,5%) – 46 mehr als sein Gegenkandidat Dietmar Bartsch (45,2%), der in seiner Bewerbungsrede, wie schon vorher schriftlich, darauf verwies, dass »auf absehbare Zeit die LINKE keine eigenen Mehrheiten haben (wird), sondern vielerorts als kleinerer Partner Bündnisse eingehen müssen… Die Wählerinnen und Wähler brauchen uns nicht mehr, um die SPD unter Druck zu setzen. Sie brauchen uns dann, wenn sie unsere Forderungen für gut halten und uns zutrauen, davon auch etwas umzusetzen. Dafür müssen wir Angebote machen. Auf kommunaler Ebene und auf Landesebene klappt eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien, wenn und weil wir souverän sind«.
Bernd Riexinger setzte in seiner Positionsbestimmung die Akzente anders: »DIE LINKE hat in den Jahren ihres Bestehens Millionen Menschen, die von den anderen Parteien längst nicht mehr vertreten werden, eine Stimme gegeben. Sie hat es vermocht eine Opposition gegen die Parteien des neoliberalen Mainstreams aufzubauen und eine Alternative zu den Agenda 2010-Parteien SPD und Grüne zu bilden. Sie hat sich als einzige Friedenspartei, die Auslandseinsätze und Militarisierung ablehnt, bewiesen. Aus verschiedenen objektiven Gründen, aber auch aus eigenem Verschulden ist das Projekt einer gesamtdeutschen linkspluralistischen Partei in die Krise geraten. Um die Partei wieder auf den Erfolgskurs zu bringen, müssen wir uns wieder deutlich mehr mit dem politischen Gegner beschäftigen und als politische Alternative zur vorherrschenden Politik der sozialen Polarisierung erkennbar sein. DIE LINKE muss dabei auch Hoffnungsträger für einen alternativen Gesellschaftsentwurf des demokratischen Sozialismus werden.«
Die Schärfe der Auseinandersetzung auf dem Parteitag hat seine Ursachen nicht vorrangig in diesen Akzentverschiebungen, sondern in einem Mangel, den die Frankfurter Rundschau zu Recht so beschreibt: »Die Schuld daran tragen keineswegs nur die Sieger des Wochenendes, die Altgewerkschafter und SPD-Hasser aus dem Westen. Die Schuld tragen ebenso die Gefolgsleute eines Dietmar Bartsch…Wenn auch gespeist aus unterschiedlichen Biografien, haben sie den entscheidenden Fehler gemeinsam gemacht: An der Aufgabe, ein politisches Angebot links der SPD überzeugend zu formulieren, sind Ost und West, Fundis und Realos (und wie man sie sonst noch sortiert) allesamt gescheitert.«
Es geht nicht um einen Wettbewerb in Sachen Kritik der europäischen Sozialdemokratie. Angesichts der gravierenden ökonomischen Spaltung in der Euro-Zone und eines drohenden Rückschlags für die Globalökonomie geht es um einen alternativen Sanierungs- und Wachstumspfad. Die europäische Sozialdemokratie bestreitet die gefährliche Krisenkonstellation nicht, aber sich setzt nach wie vor letztlich immer auf die alte Konzeption: Nur durch deutliche Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Ökonomien lasse sich die Große Krise des 21. Jahrhunderts überwinden. Dieser Weg ist aber nicht nur ökonomisch falsch, er ist mit einer vertiefen der sozialen Spaltung und letztlich mit der Zerstörung der in langen Jahren erkämpften sozialen Sicherung und Partizipation verbunden. Daher entscheidet sich der weitere Weg in der Euro-Zone an einer realistischen Konzeption zur Herstellung gesellschaftlicher Bündnisse und veränderter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Zu einer enormen Verschärfung der Atmosphäre trugen auf dem Parteitag die beiden Granden Gysi und Lafontaine bei, denen offenbar der erklärte Wille des Parteitages, zu einer integrativen Politik zu finden, entgangen war. In einer Rede voller Enttäuschung und Gereizheit warnte Gysi: »Es gibt Meinungsunterschiede. All das wäre nicht erheblich. Mit alledem müssten wir umgehen können. Aber in unserer Fraktion im Bundestag herrscht auch Hass. Und Hass ist nicht zu leiten. Seit Jahren versuche ich, die unterschiedlichen Teile zusammen zu führen. Seit Jahren befinde ich mich zwischen zwei Lokomotiven, die aufeinander zufahren. Und ich weiß, dass man dabei zermalmt werden kann… Ich sage es hier so offen wie möglich. Entweder wir sind in der Lage, eine kooperative Führung zu wählen, die die Partei integriert und die organisiert, dass wir in erster Linie wieder politisch wahrgenommen werden, von den Bürgerinnen und Bürgern, von den Medien, von den anderen Parteien. Dann würde ich das begrüßen und dann stelle ich mich auch diesem Kampf. Oder aber wir sind dazu nicht in der Lage, was bedeutete, dass die Gruppe A nun doch die Gruppe B besiegt oder die Gruppe B die Gruppe A. Für den Fall sage ich Euch offen: Es ist dann besser, sich fair zu trennen als weiterhin unfair, mit Hass, mit Tricksereien, mit üblem Nachtreten eine in jeder Hinsicht verkorkste Ehe zu führen.«
Oskar Lafontaine widersprach Gysi: »Es gab in der Tradition der Arbeiterbewegung immer schwierige Situationen. Diese schwierigen Situationen muss man sich jetzt nicht vergegenwärtigen. Da muss man fragen: Warum hat sich die Arbeiterbewegung oft schwer getan? Aus dieser Geschichte kann man auch lernen. Deshalb sage ich heute, trotz all der Schwierigkeiten, die Gregor Gysi hier angeführt hat: Es gibt keinen Grund, das Wort Spaltung in den Mund zu nehmen. Ich bitte Euch alle: Lasst dieses Wort in Zukunft weg! Ich will Euch auch sagen, warum. Die Geschichte der Arbeiterbewegung lehrt, eine Spaltung ist nur dann erforderlich, wenn gravierende programmatische Unterschiede festgestellt werden, wenn die Einen – ich erinnere an Liebknecht und Luxemburg – gegen Krieg sind und die Anderen für Krieg sind, wenn die Einen für den Abbau des Sozialstaates sind und die Anderen gegen diesen Abbau sind, dann hat man Grund, sich zu trennen, aber nicht, weil man da oder dort Befindlichkeiten hat. Das ist doch kein Grund, ein politisches Projekt infrage zu stellen!«
Die politische Kultur eines breiten linkspluralistischen Parteiprojektes ist erstens da, wo sie überhaupt als eigenständige Aufgabe verstanden und in Angriff genommen wurde, erheblich beschädigt worden. Zweitens – und dies ist aus unserer Sicht ein weiterer zentraler Faktor der Schwäche und des Niedergangs – hat die Partei sich eine zu lange Zeit bewilligt, um die in den Jahren 2007/2008 ausgebrochene Große Krise des Kapitalismus in einem Grundsatzprogramm zum zentralen Bezugspunkt ihrer Politik zu machen. Zugleich wurden die Kontroversen in Formelkompromissen zugedeckt, anstelle sie auszutragen, und es wurden in der Alltagsarbeit aus dem anhaltenden Krisenprozess keine Schlussfolgerung gezogen.
In der Tat sind die Differenzen auf diesem Parteitag nicht ausgeräumt worden. Und es hat sicherlich auch Zuspitzungen und Aktionen gegeben, die das Terrain solidarischen Umgangs miteinander verlassen haben. Aber: Die Wahl des geschäftsführenden Vorstands spiegelt in seiner Zusammensetzung auch neue Chancen: Mit Caren Lay und Jan van Aken sind zwei weitere Mitglieder des ursprünglichen »Teams Kipping-Schwabedissen« gewählt, mit Sarah Wagenknecht und Axel Troost, der sich selbst als »Brückenbauer« versteht, ist die Möglichkeit eröffnet, die Auseinandersetzung um ökonomische und finanzpolitischen Kompetenz für die Partei und die notwendigen strategischen Debatten fruchtbar zu machen. Es ist wenig Zeit, die Partei auf die kommenden Wahlen so vorzubereiten, dass die Stimmungswerte wieder steigen, aber dieses Team – so es denn sich als solches versteht – könnte einen Beitrag dazu leisten. Dafür ist eine handlungsfähige, erneuerte Partei auf Bundesebene und im Bundestag gewiss unverzichtbar.
Aber wie bereits seit dem Einzug in das Bundesparlament 2005 geht es heute vor allem wieder um die Frage, ob und wie die Fraktionen einen quicklebendigen parteilichen Unterbau bekommen. Dass es noch einmal zu einer krisenhaften Zuspitzung bei der Neubesetzung der Fraktionsführung im Bundestag kommen kann, ist nach diesem Parteitag nicht auszuschließen.
Wenn es der neuen Führung gelingt, die Frage einer eigenständigen politischen Kultur der LINKEN wieder in den Vordergrund zu rücken, anstelle von Ergebenheitserklärungen und taktischen Spielereien, auch wenn sie im Gestus resignierter Hilflosigkeit daherkommen, dürfte für DIE LINKE auf allen Organisationsebenen wichtig sein, dass sich die verschiedenen Strömungen im Sinne der »Brückenbau-Intention des Grundsatzprogramms« aufeinander zu bewegen, die rechthaberischen Gräben verlassen und so die zu lange praktizierte Sprachlosigkeit zwischen den Positionen überwinden. Der neu bestimmten Parteiführung käme dafür eine wichtige Rolle zu. Es muss ja nicht die komplette Neuerfindung der Partei sein, aber Neujustierung und Neuorientierung wären schon erforderlich. Neue Formelkompromisse dürften dabei nicht hilfreich sein, auf bestimmte Zeit verabredete politisch-inhaltliche Allianzen allerdings könnten dazu beitragen, aus der faktischen Sprachlosigkeit herauszukommen.
Das ist allerdings für die neue Führung eine Herkules-Aufgabe: Denn nach den jüngsten Umfragen des Institutes YouGov im Auftrag der Nachrichtenagentur dpa prognostizierten 44%, DIE LINKE werde bei der Wahl 2013 an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. 39% glauben dagegen, dass die Linke auch dem nächsten Bundestag angehören wird. Zwei Drittel trauen der Linken auch langfristig keine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zu. Nur 20% halten die Partei perspektivisch für koalitionsfähig. Nach Einschätzung von 59% der Befragten hätte auch ein Comeback von Oskar Lafontaine die Erfolgschancen der Partei bei Wahlen nicht verbessern können. Nur 21% glauben, dass der Gründungsvater der Partei für Stimmengewinne gesorgt hätte. Ähnlich gering wird der Effekt eines Aufstiegs der Lebensgefährtin Lafontaines, Sahra Wagenknecht, an die Parteispitze eingeschätzt. Nur jeder Fünfte traut ihr eine Verbesserung der Wahlchancen zu.
Auch wenn man in Rechnung stellt, dass in solche Prognosen nicht selten interessierte politische Motive einfließen, bleibt die Herausforderung für das neu gewählte Personal an der Spitze, die Partei und damit ihre AktivistInnen in eine komplizierte Wahlauseinandersetzung zu führen. Ausdrücklich ist Wulf Gallert zuzustimmen, der sich nach dem Parteitag äußerte: »Es gibt weder Grund für tiefgreifende Depressionen noch für überschwängliche Freude. Aus meiner Sicht gibt uns zumindest die Zusammensetzung des geschäftsführenden Parteivorstandes mehr Spielräume als vorher.«
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