"Dass wir die absolute Mehrheit anstreben, ist Ausdruck einer Notwendigkeit."
Interview mit Pablo Iglesias über den Erfolg von Podemos
Der 36-jährige Journalist und Hochschullehrer Pablo Iglesias ist die zentrale Figur der neuen spanischen Linkspartei Podemos. Durch seine Fernsehauftritte und die scharfe Kritik von Neoliberalismus, Troika-Diktaten und politischer Korruption hat Iglesias die erst im Januar entstandene Partei in wenigen Monaten zum zentralen Akteur der spanischen Politik gemacht. Podemos, die sich selbst als Verlängerung der großen 15M-Protestbewegung von 2011 versteht, hat realistische Chance, die Wahlen im kommenden Jahr zu gewinnen. Dabei wird aber auch der Widerspruch zwischen linker Programmatik und einem bemüht moderaten oder sogar unpolitischen Auftreten immer größer.
Den Umfragen zufolge ist Podemos mittlerweile stärkste Partei. Glauben Sie ihnen?
Man muss bei Umfragen skeptisch sein. Wir waren das, als wir in den Umfragen nicht berücksichtigt wurden und wir sind es auch jetzt, wo die Ergebnisse sehr positiv sind. Ich glaube, die Tendenz stimmt, weil fast alle Umfragen. Aber die Meisterschaft gewinnt man nicht, wenn man in den ersten drei Partien spektakulär spielt. Es ist ein langer Weg, von Spiel zu Spiel. Im nächsten Jahr wird unglaublich viel passieren, und wir müssen vorsichtig sein. Wir müssen bescheiden bleiben, und einen Schritt nach dem anderen setzen, statt in Jubel ausbrechen. Aber die Tendenz zeigt Richtung Wechsel.
Können Sie sich denn vorstellen, dass Sie und Ihre Organisation in einigen Monaten eine Verantwortung tragen müssen, die vor einem halben Jahr noch unvorstellbar weit weg war?
Die Entwicklung hat unser Auftreten verändert. Die Leute sagen, wir würden ernster wirken. Und das stimmt, weil wir akzeptieren, dass wir vielleicht Regierungsverantwortung übernehmen müssen – mit allem, was dazugehört. Das ist eine Konstante seit den Europawahlen. Unsere erste Reise ging nach Griechenland, um uns mit Alexis Tsipras zu treffen. Das war kein Zufall. Diese Beziehung ist sehr eng, tatsächlich haben wir Alexis gebeten, dass er beim Abschluss unserer Gründungsversammlung teilnimmt, und ab März, wenn SYRIZA möglicherweise in Griechenland regiert, wollen wir das von Nahem verfolgen, weil wir vielleicht mit einer ähnlichen Situation konfrontiert sein werden. Wir werden darauf hinarbeiten, dass wir eine absolute Mehrheit haben. Darauf setzen wir. Und dass man anders regieren kann. Das bedeutet natürlich eine große Verantwortung, und es impliziert, dass wir sehr ernsthaft arbeiten müssen.
Haben Sie entschieden, ob Sie sich mit dem Label Podemos an den Autonomie- und Gemeinderatswahlen beteiligen werden? Ist der Beschluss endgültig?
Ja, das ist endgültig. Bei dem Label Podemos wird es keine Ausnahmen geben. Aber wir werden natürlich trotzdem bei den Kommunalwahlen dabei sein. Und es wird Kandidaten geben, die bei Podemos aktiv sind. Darauf setzen wir. Wir denken allerdings, dass es strategisch weitaus klüger und vorsichtiger ist, solche Kandidaturen in den Dörfern und Städten zu unterstützen, die wir als Kandidaturen der Volkseinheit, der Unidad Popular, bezeichnen.
Überall? In Spanien gibt es mehr als 8 000 Kommunen. In wie vielen werden Sie antreten, wo können Sie sich an Einheitskandidaturen beteiligen?
Das wird von Stadt zu Stadt und Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich sein. Einer der Gründe, warum wir uns für diese Option entschieden haben, ist, dass Gemeindepolitik sehr große Besonderheiten hat. Und das hat nicht unbedingt mit den »Logen« zu tun, die sich auf staatlicher Ebene oder in den Autonomieregionen herausbilden. Viele Dörfer und Städte sind eine Welt für sich, in denen es viele Akteure der Zivilgesellschaft gibt, mit denen wir zusammenkommen wollen. Wie werden eine Reihe von roten Linien vorschlagen, die beispielsweise mit der Frage offener Listen zu tun haben, mit offenen Vorwahlen, bei denen die Bürger über die KandidatInnen entscheiden können. Wir müssen auf strategisch wichtige Städte setzen: Madrid, Valencia, Barcelona, Sevilla…
Das heißt, dass alle lokalen Kandidaturen, an denen sich Podemos als eine Kraft unter mehreren beteiligt, durch offene Listen oder partizipative Vorwahlprozesse zustande kommen müssen?
Das wird man sehen müssen, aber im Prinzip ja. Wir wollen allem aus dem Weg gehen, was wie eine Parteienkoalition oder eine Vereinbarung von oben aussieht. Wer sagt, »ich habe eine Partei und möchte mit ein anderen Partei, die Podemosheißt, eine Wahlliste aushandeln«, täuscht sich. Da werden wir nicht mitmachen. Diese Art von Politik ist tot. Das ist Teil des Alten, das ändert das Land nicht.
Und streben Sie eine bestimmte Zahl an. Nehmen Sie sich z.B. vor, in allen Provinzhauptstädten anzutreten oder haben Sie sich noch kein Ziel gesetzt?
Wenn der Prozess beginnt, werden wir die Reaktionen abwarten müssen – von unseren Basisgruppen und von anderen Akteuren. In vielen Städten gibt es schon weit vorangeschrittene Prozesse, und wir werden sehen müssen, ob wir uns beteiligen oder etwas Eigenes vorschlagen. Mir scheint es entscheidend, vor allem auf strategisch wichtige Städte zu setzen.
In Madrid mit dem Kandidaten Juan Carlos Monedero[1]?
Das ist nicht entschieden, und Monedero selbst muss eine Entscheidung treffen. Mir würde das gefallen, aber das ist ein persönlich schwieriger Entschluss. Zunächst einmal müsste Juan Carlos die Entscheidung treffen, ob er die Hochschullehre aufgibt, was für ihn sehr schwer ist. Ich weiß das, weil ich mit dem Unterrichten aufhören musste und das sehr vermisse. Aber wenn er wollte, wenn er bereit dazu wäre, wäre er, glaube ich, ein hervorragender Kandidat.
In Barcelona werden Sie sich Guanyem[2] anschließen?
Ich glaube schon. Mir gefällt die Kandidatur von Guanyem sehr, mir gefällt auch Ada Colau[3] sehr, aber man wird über vieles reden müssen. Das ist ein offener Prozess, und wenn wir uns aktiv beteiligen, muss man das auch merken.
Bei den Autonomiewahlen werden Sie überall mit dem Label Podemos antreten?
Ja. Wir haben eine mögliche Ausnahme vorgesehen. Wenn ein Teil unser AnhängerInnen, ich glaube 10 Prozent, eine alternative Kandidatur mit anderen vorschlägt, kann es ein Referendum unter den AnhängerInnen geben. Aber im Prinzip ist das Ziel, als Podemos anzutreten. Das werden aber auf jeden Fall offene Kandidaturen sein, bei denen jeder antreten kann, um auf die Podemos-Listen zu kommen.
Einer neuen Umfrage des katalanischen Meinungsumfrageinstituts CEO würde Podemos in Katalonien auf 6,8 Prozent und 10 oder 11 Sitze kommen. Entspricht das Ihren Erwartungen oder bleibt das hinter den Ergebnissen der Europawahlen zurück?
Das wäre mehr als bei den Europawahlen. Auf gesamtstaatlicher Ebene lagen wir bei den Europawahlen bei 8 Prozent, in Katalonien knapp über 4 Prozent. Ich denke, dass die politische Landschaft in Katalonien im Moment die instabilste überhaupt ist. Es ist ein sehr kompliziertes und sehr spezielles Szenario.
Welche Position vertreten Sie in der katalanischen Frage? Soll es ein Referendum über die Unabhängigkeit geben oder nicht?
Wir haben immer gesagt, dass uns jeder Mechanismus, der die Katalanen nach ihrer Meinung fragt, gut erscheint. Wenn wir jetzt unsere Position zu den zentralen Problemen der Katalanen bestimmen müssen, die mit der Souveränität zu tun haben, dann würden wir der Souveränität bei sozialen Rechten Priorität einräumen. Das Recht zu entscheiden ist wichtig, aber auch …
Sie glauben, dass die sozialen Probleme, die Arbeitslosigkeit und die Ungleichheit wichtiger sind als Unabhängigkeit oder Souveränität?
Es geht nicht darum, was wichtiger oder unwichtiger ist. Aber für uns ist es unmöglich, von Souveränität und dem Recht zu entscheiden[4] zu sprechen und gleichzeitig ein Bündnis mit der korrupten katalanischen Rechten zu schließen, die bewiesen hat, dass sie letztlich das Gleiche ist wie die korrupte spanische Rechte. Der Schriftsteller Josep Pla hat einmal gesagt: „Einem rechten Spanier am ähnlichsten ist ein linker Spanier.“ Na ja, wir haben gesehen, dass einem korrupten katalanischen Politiker am ähnlichsten der korrupte spanische Politiker ist. Wir sagen, dass das Recht zu entscheiden, sich auch auf Fragen beziehen muss, die mit der Demokratisierung der Wirtschaft zusammenhängen. Wir sagen, dass jeder, der öffentliches Eigentum privatisiert oder souveräne Befugnisse abtritt, die Grundlagen der Souveränität und die Fähigkeit der Bürger zerstört, über ihre Zukunft zu entscheiden. Wir finden gut, wenn die Katalanen das letzte Wort dazu haben, wie ihre rechtliche Beziehung zum Rest des Staates aussehen sollte. Aber für uns ist die entscheidende Frage, dass das Recht zu entscheiden sich nicht ausschließlich auf die territoriale Struktur des Staates beschränkt. Für uns bezieht es sich auf einen „konstituierenden Prozess“, der den gesamten Staat in Spanien erfasst.
Auf die Autonomie- und Kommunalwahlen werden die gesamtstaatlichen Wahlen folgen. Was glauben Sie, was passieren wird?
Wir müssen antreten, um zu gewinnen. Und wenn ich gewinnen sage, dann meine ich, dass wir die absolute Mehrheit anstreben müssen. Das ist kein Ausdruck von Arroganz, sondern hat mit Notwendigkeiten zu tun. Wir könnten ein exzellentes Wahlergebnis erzielen, sogar die stärkste Partei werden und dann wie in Griechenland oder Deutschland mit einer Großen Koalition konfrontiert sein, mit der Konservative und Sozialdemokraten das institutionelle Regime zu verteidigen versuchen.
Ist es nicht ein bisschen übertrieben, wenn eine Partei, die vor sechs Monaten noch nicht existierte, von der absoluten Mehrheit spricht?
Es scheint auch übertrieben, dass eine Partei, die vor sechs Monaten nicht existierte, 1,2 Millionen Stimmen bekommt. Auch die aktuellen Umfragen sind eine Übertreibung. Dass wir die absolute Mehrheit anstreben, ist Ausdruck einer Notwendigkeit.
Lassen Sie uns ein wenig spekulieren: Nehmen wir an, dass es nach den Wahlen drei etwa gleich große Gruppen gibt: PP, PSOE und Podemos. Wir wisssen nicht, in welcher Reihenfolge. Und dann gibt es mit UPyD und IU noch zwei mittlere oder kleine Gruppen. Mit wem würden Sie ein Bündnis eingehen und mit wem sicher nicht?
Ich sage mal vorweg, was Julio Anguita[5] öfter sagte. Programm, Programm, Programm. Das heißt, es ist erst mal nichts ausgeschlossen. Denjenigen, die unsere Vorschläge teilen, werden wir nicht sektiererisch gegenübertreten. Wer wird meiner Meinung zu diesen Akteuren gehören? Von der PP erwarte ich absolut nichts. Was die PSOE angeht, so bin ich davon überzeugt, dass ein großer Teil ihrer Mitglieder und WählerInnen mehr mit unserem Programm einverstanden ist als mit dem der PSOE. Glaube ich, dass die Führung der Sozialdemokraten und ihr Vorsitzender Pedro Sánchez zu einem echten Politikwechsel in der Lage sind und von der Austeritätspolitik Abstand nehmen werden, mit der die Souveränität unseres Landes aufgegeben worden ist? Ich habe da wenig Hoffnung. Auch deshalb, weil Pedro Sánchez ja immer bekräftigt hat: „Ich werde nie mit Podemos koalieren. Aus Verantwortung für den Staat könnte ich mit der PP koalieren.“ Man wird also Sánchez fragen müssen.
Sie halten eine Koalitionsregierung PP-PSOE für wahrscheinlicher als eine Regierung PSOE-Podemos?
Das können wir überall in Europa beobachten. In Deutschland, in Griechenland, in der Europäischen Kommission. Bei den Vereinbarungen, wer das Europaparlament oder die Europäische Kommission leiten soll. Und das war auch der Normalfall in Spanien. Konservative und Sozialdemokraten haben die Verfassungsreform gemeinsam beschlossen, sie haben ähnliche Reformen des Arbeitsmarktes gemacht und sie sind auch in jener Frage einig, die ich als koloniale Unterwerfung unter die europäischen Finanzmächte bezeichnen würde. Aber gut – wer das ändern will, dem werden wir die Hand ausstrecken. Ob das geschehen wird? Ich glaube nicht. Man muss sich nur anhören, was der Ex-Chef der PSOE Felipe González oder der neue Vorsitzende Pedro Sánchez sagen.
Glauben Sie, dass es der richtige Moment ist, um die Staatsform zu entscheiden: Monarchie oder Republik?
Die Debatte Monarchie vs. Republik ist falsch formuliert. In Wirklichkeit geht es doch darum, ob die Spanier volljährig sind. Wenn sie volljährig sind, dann liegt auch auf der Hand, dass sie entscheiden können müssen, ob der Staatschef demokratisch gewählt wird oder dieses Amt vererbt wird. Ich glaube, dass es in einem modernen Land, in dem sich die Menschen volljährig fühlen, logisch wäre, dass der Staatschef durch Wahlen bestimmt wird. Wenn Felipe de Borbón sich für in der Lage hält, ein so wichtiges Amt auszuüben, soll er bei Wahlen antreten. Meiner Ansicht nach ist das ganz einfach. Demokratische Normalität.
Am Anfang schien Podemos eine Nischenpartei zu sein. Jetzt wirkt sie wie eine transversale Partei.
Unsere Absicht war es nie, eine Nischenpartei zu sein. Wir dürfen uns nicht auf ein bestimmtes Spektrum beschränken. Der Schlüssel der Situation in Spanien ist nicht in der Wahl zwischen Linken und Rechten zu suchen, sondern im Widerspruch zwischen einer oligarchischen Minderheit und einer Mehrheit der BürgerInnen.
Sie glauben, dass die Debatten in der spanischen Gesellschaft weniger von links und rechts bestimmt werden als vom Widerspruch zwischen Eliten und Bürgern?
Absolut. Alle wissen, dass ich links bin und es immer gewesen bin.
Sagen Sie das nicht eher, um mögliche WählerInnen nicht zu abzuschrecken?
Ich glaube, dass ich immer ein aufrichtiger Typ war. Ich bin nicht apolitisch. Ganz im Gegenteil. Ich weiß, wo ich stehe. Ich bin ein Linker. Podemos steht an einem Ort, der geeignet ist, die Realität viel eindeutiger zu bestimmen. Links und rechts sind Metaphern, die mit der Sitzanordnung in der französischen Nationalversammlung zu tun hatten: diejenigen, die Privilegien verteidigten, und andere, die Rechte erweitern wollten. Diese Metaphern sind nicht mehr geeignet, um die Wirklichkeit zu erklären. Der Beweis dafür sind die schwarzen Kreditkarten der Caja de Madrid[6]. Das ist der Beweis dafür, dass ›Linke‹ und ›Rechte‹ keine geeigneten Begriffe sind, um zu begreifen, was los ist. Wenn wir dagegen sagen: Es gibt eine Minderheit, die ist oben, und eine Mehrheit unten, dann wissen die Leute ganz genau, was wir meinen. Wir sagen: Wir sind die von unten.
Wenn die Gesellschaft nach ihrem Einkommen zwischen eins und zehn unterteilt wird, dann ist Podemos eins bis acht. BeiPodemos gibt es die Mittelschicht. Es gibt ArbeiterInnen, Prekäre, Junge, die emigrieren mussten, RentnerInnen. Alle haben etwas gemeinsam: Sie sind Teil der Basis.
Auf der Gründungsversammlung von Podemos haben Sie eine Rede gehalten, in der Sie davon sprachen,Podemos müsse »Zentralität« anstreben. War das ein Kurswechsel in Richtung Mitte?
Nicht ins politische Zentrum. Der Begriff der politischen Mitte erkennt die falsche Unterscheidung zwischen links und rechts an: Die Mitte liegt zwischen der Linken und der Rechten. Wir wollen ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung. In der Politik hat, wie im Sport, derjenige die besten Aussichten, der das Terrain wählt. Wenn man uns auf ein Terrain stellt, das durch die Linke und die Rechte definiert ist, verlieren wir. Wir wollen auf ein Spielfeld, das sich danach aufteilt, wer die gesellschaftliche Mehrheit und wer die Minderheit darstellt, und das anhand sehr konkreter Programme sagen. Nicht weil wir unpolitisch wären. Wir verheimlichen nicht, dass wir etwa für eine Neuverhandlung der Schulden eintreten…
Gibt es da keine Nuancen? Haben Sie im Mai, vor den Europawahlen, das Gleiche gesagt?
Wir haben gesagt, dass illegitime Schulden nicht bezahlt werden müssen.
Ist Ihr politischer Diskurs gemäßigter geworden?
Wir haben im Mai vertreten, dass illegitime Schulden nicht bezahlt werden sollten. Wenn man ein Regierungsprogramm formuliert, wird die Sache komplexer. Es ist ein Unterschied, ob man als kleine Partei ein Programm für Europawahlen schreibt oder ob man davon ausgeht, dass man die Regierung stellen müssen wird.
Erkennen Sie an, dass Podemos in der Realität ankommt?
Es ist eine programmatische Entwicklung. Die Konkretisierung eines glaubhaften, realistischen und sofort umsetzbaren Regierungsprogramms.
Und damit Sie die Mittelschicht nicht abschrecken?
Wir sind von Anfang an Mittelschicht. Die Ursache für den rasanten Erfolg von Podemos ist die Unterstützung der Mittelschicht. Das sagen nicht wir, sondern die Meinungsforschungsinstitute. Die letzte Umfrage besagt, dass 17 Prozent der Podemos-Stimmen von den Konservativen kommen. Genauso viel wie von Izquierda Unida.
Von den WählerInnen der PP, von denen man annimmt, dass sie für die Angst-Propaganda am leichtesten ansprechbar sind, haben der letzten Umfrage zufolge mehr als 40 Prozent erklärt, dass sie keine Angst vor einer Podemos-Regierung haben. Die Leute glauben der seit einigen Monaten organisierten Kampagne nicht, die ihr Angst vor dem Pferdeschwanz[7]-Gespenst einjagen will.
Haben Sie genug Leute, um in allen Autonomieregionen Listen aufzustellen, bei den Kommunalwahlen politische Talente für Bündnisse zur Verfügung zu stellen und in Gemeinden, Autonomieregionen und der Zentralregierung zu regieren?
Ja, wir werden die besten regieren lassen, und die besten müssen keinen Mitgliedsausweis von Podemos haben. Von wo sollen all diese Leute kommen, wenn die Partei neu ist? Es ist genau deshalb möglich, weil wir keine konventionelle politische Partei sind. Unsere ganze Methodologie ist seltsam: offene Vorwahlen, jeder kann mitmachen, es gibt mehr als 200 000 eingeschriebene UnterstützerInnen… Uns war klar, dass unsere Partei sich von anderen unterscheiden muss, wenn sie zu etwas nutze sein soll. Wir haben viele Treffen mit Angestellten bei den Streitkräften, in der Finanzverwaltung, aus dem Justizwesen oder den Arbeitsämtern gehabt, die uns sagen: Gewinnt! Es gibt viele Leute in diesem Land, die wissen, wie Verwaltung funktioniert, die im Staat arbeiten und hoffen, dass wir gewinnen, damit sie ihr Wissen und ihre Arbeit einem anständigen Regierungsprojekt zur Verfügung stellen können. Wir wären arrogant, wenn wir sagen würden, die politische Führung von Podemos sollte sich sofort in ein Regierungskabinett verwandeln.
Glauben Sie, dass Sie bei einem Wahlsieg keine Probleme haben werden, eine Regierung zu bilden?
Ich glaube nicht. Es liegt auf der Hand, dass die Bildung eines Kabinetts komplex ist, aber wir glauben auch daran, die bestausgebildeten Leute im Land mobilisieren zu können. Wir sind die stärkste Partei unter den HochschulabgängerInnen, unter DoktorInnen, sogar unter ManagerInnen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die klugen Köpfe mit uns regieren werden.
Die Gründungsgruppe von Podemos besteht aus SoziologInnen und PolitologInnen, die nun rasch an die Macht kommen könnten. Lässt sich ein Akademiker einfach in einen Regierungspolitiker verwandeln?
Zunächst einmal sind wir PolitologInnen. Ein Großteil der politischen Kaste hat nicht einmal ihre Universitätsabschlüsse fertig gemacht.
Sind sie ein Radikaler?
Wenn man unter radikal versteht, an die Wurzel zu gehen… Aber gewöhnlich sagen immer alle von mir, ich sei eher vorsichtig, ruhig und gemäßigt.
Sie halten sich für gemäßigt?
Sehr. Wenn man sich mit Politikwissenschaften beschäftigt, kann man nur gemäßigt sein. Wenn man beruflich Politik untersucht, versteht man, dass Werte und Idealvorstellungen eine Sache sind, die ziemlich komplexe Realität hingegen eine andere. Die Möglichkeiten einer Regierung sind sehr beschränkt, und alle politischen Erfahrungen der Geschichte zeigen das. Das ganze 20. Jahrhundert ist ein Beispiel für die enormen Probleme, politische Veränderungen durchzusetzen.
Wenn wir glauben würden, dass wir nach einem Wahlsieg eine komplett andere Welt aufbauen könnten, wären wir verrückt. Was wir vorschlagen, ist sehr bescheiden: Dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingehalten wird, dass alle Kinder in saubere öffentliche Schulen gehen können, dass jede ihre Eltern in ein Krankenhaus, jeder seine Kinder in eine Schule bringen kann.
Sind Sie ein Systemgegner?
Systemgegner sind diejenigen, die alle sozialen Sicherungssysteme zerschlagen. Diejenigen, die das öffentliche Gesundheitssystem und das Bildungswesen privatisieren. Die sich korrumpieren. Das Wort Korruption stammt aus dem Lateinischen und bedeutet, das »Gemeinsame zerbrechen«. Das sind die Systemgegner.
Ein postmoderner Leninist? Eine Politikerin hat das neulich über Sie gesagt.
Man müsste wissen, was sie unter Leninismus und unter Postmoderne versteht. Ich glaube, dass das ein Oxymoron wäre. Die Postmoderne leugnet die Existenz – wie es heißt – holistischer Verständnismöglichkeiten der Realität. Der Leninismus als Entwicklung des Marxismus hingegen will eine holistische Theorie von Kapitalismus und Revolution schaffen. Es wäre also ein Widerspruch an sich, Leninist und Postmoderner zu sein. Ich denke, dass Lenin im politischen Denken und in der Geschichte des 20. Jahrhunderts eine unvermeidbare Figur ist und dass jeder, der sich mit Politik beschäftigt, das anerkennen muss.
Sie haben gerade Klassiker erwähnt. Gibt es noch weitere?
Antonio Gramsci ist wahrscheinlich einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts – wichtig sowohl für Rechte als auch für Linke.
Stehen Sie dem Kommunismus oder der Sozialdemokratie näher?
Programmatisch sicherlich eher der Sozialdemokratie, aber das ist nichts Besonderes. Die Programme der eurokommunistischen Parteien Ende der 1970er Jahre waren staatliche Reformprogramme. Meiner Ansicht nach beschränken sich die politischen Handlungsspielräume heute darauf, mit Hilfe des Staates umzuverteilen und mit Reformen, die man als sozialisierend bezeichnen könnte, den Schutz sozialer Rechte auszubauen. Das ist der Rahmen. Wer will, kann über ein Arkadien nachdenken, in dem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft ist. Das ist ein gutes Thema für Philosophie-Fakultäten. Man kann die kommunistische Bewegung als historisches Phänomen verstehen, das letztlich mit dem Aufbau von Staatsinteressen verfolgenden Staaten zu tun hatte.
Was hat mehr Zukunft, die Sozialdemokratie oder der Kommunismus?
Ich denke, dass sowohl die Sozialdemokratie als auch der Kommunismus Teil einer untergegangenen politischen Welt sind. Das ist nicht von mir, sondern Norberto Bobbio hat das in Destra e Sinistra geschrieben. Diese politische Welt war mit der Existenz der Sowjetunion verknüpft. Die Sozialdemokratie war so etwas wie die Alternative der westlichen Staaten, während der Kommunismus mit dem identifiziert wurde, was als realexistierender Sozialismus bezeichnet wird. Beide sind gestorben. Das Ideal einer gerechteren Gesellschaft, in der der Mensch über den Profitinteressen steht, hingegen nicht. Und wenn man mich fragt, wie ich mich selbst politisch definiere, antworte ich: als Sozialist, aber einer, der nichts mit Tony Blair am Hut hat.
Stellen wir uns vor, Sie kämen an die Macht. Was wären die ersten Maßnahmen, die Sie ergreifen würden?
Es muss eine Reihe Sofortmaßnahmen geben, unser Land benötigt das. Die erste wäre ein Ende der Zwangsräumungen – und zwar auf Grundlage bestehender Gesetze. Wir haben eine Vereinbarung vorgeschlagen, die auf die Unterstützung aller Parteien mit Ausnahme von UPyD[8] und PP zählt. Diese Vereinbarung stützt sich auf ein europäisches Gerichtsurteil, wonach die spanischen Haftungsgesetze dem europäischen Recht widersprechen. Dieses Urteil ermöglicht uns, die Zwangsräumungen sofort zu stoppen. Die nächste Maßnahme wäre das Verbot der ›Drehtüren‹. Es kann nicht sein, dass jemand, nur weil er Regierungschef oder Minister war, einen Verwaltungsratsposten in einem großen Konzern bekommt. Dann muss es eine Steuerreform geben, um die Steuerflucht zu bekämpfen und die Steuersätze auf große Vermögen anzuheben, mindestens auf den europäischen Durchschnitt. Und es muss selbstverständlich eine geordnete Neuverhandlung der Schulden geben.
Würden Sie einen Höchstsatz zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Gehalt in einem Unternehmen festlegen?
Das müsste man untersuchen. In der Schweiz gab es unlängst ein Referendum, das uns sehr interessant erscheint und das versuchte, das Höchstgehalt auf zwölf Mindestlöhne zu beschränken. Dabei geht es nicht darum, die Freiheit von jemandem, ein hohes Gehalt zu beziehen, zu beschränken, sondern das nationale und gemeinschaftliche Interesse zu berücksichtigen, die Ungleichheit zu verringern. Man muss den Reichen erklären, dass es manchmal nötig ist, Opfer zu erbringen und zum Vorteil der Nation den Gürtel enger zu schnallen. Es kann nicht sein, dass nur die gesellschaftliche Mehrheit täglich Patriotismus praktizieren muss, während die Reichen, die die Nationalfahnen als Kettchen am Handgelenk tragen, ihr Geld in Steuerparadiese verschieben.
Das Interview führte Pablo Rivas. Aus dem Spanischen übersetzt von Raul Zelik.
zum weiterlesen:Raul Zelik: Elf Thesen zu Podemos und der »demokratischen Revolution« in Spanien
[1] Mitgründer von Podemos, Professor für Politikwissenschaften an der Universidad Complutense de Madrid und 2005 bis 2010 mit Unterbrechungen Berater der Regierung Chávez in Venezuela.
[2] Alternative, linke Kandidatur von sozialen Bewegungen in Barcelona. Das Ziel von Guanyem (»Lasst uns gewinnen«) ist es, nicht als linke Einheitskandidatur anzutreten, sondern eine basisdemokratische Stadtbewegung zu initiieren, deren Programm dann von den Parteien der Linken bei den Wahlen unterstützt werden soll.
[3] Ex-Hausbesetzerin und Mitgründerin der Bewegung gegen Zwangsräumungen Plataforma de Afectados por la Hipoteca. Vgl. Interview mit Ada Colau, Wir treten nicht an, um einen Sitz im Gemeinderat zu erhalten. Wir wollen gewinnen., in: LuXemburg Online: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/ada-colau-wir-treten-nicht-an-um-einen-sitz-im-gemeinderat-zu-bekommen-wir-wollen-gewinnen/
[4] Mit dem Derecho a decidirbeziehen sich die Unabhängigkeitsbewegungen auf eine Variante des Selbstbestimmungsrechts. Anders als bei der Forderung nach »nationaler Souveränität« steht hier nicht ein homogenes nationales Subjekt im Mittelpunkt, sondern das heterogene demokratische Subjekt. Die Bevölkerung soll in Form eines Referendums selbst über die Zugehörigkeit zu Spanien entscheiden können.
[5] Ehemaliger Vorsitzender der Izquierda Unida.
[6] Mit den schwarzen Kreditkarten der Sparkasse Madrid konnten PolitikerInnen des Aufsichtsrats auf Kosten der Caja Madrid Geld ausgeben. Verwickelt in diesen Korruptionsskandal waren u.a. auch ein Politiker von Izquierda Unida.
[7] Pablo Iglesias trägt einen Pferdeschwanz.
[8] UPD ist eine rechtssozialdemokratische, stark spanisch-nationalistisch orientierte Partei, die als Anti-Korruptions-Partei vom Niedergang von PP und PSOE profitieren wollte, durch das Phänomen Podemos aber marginalisiert worden ist.
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